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​Appell an die Empathie der Menschen – Ein Erfahrungsbericht aus Röszke

Eine Stunde vor Ankunft versuche ich mich darauf einzustellen, dass wir mit viel Elend konfrontiert sein werden. Im Nachhinein weiß ich, dass man sich nicht vorbereiten kann.
Fotos von Peter Heinz Trykar

Alles, was ich gerade tue, fühlt sich wie ein Privileg an. Zähne zu putzen, aufs Klo zu gehen, sich auf die Couch zu setzen, den Computer einzuschalten. Was die letzten Tage passiert ist, muss mein Kopf erst verarbeiten.

Die Idee für einen Spendenkonvoi kam uns am Freitag, angesichts der vielen Menschen, die zu Fuß von Budapest Richtung Österreich unterwegs waren. Samstagmorgen begannen die Spendenannahme, plötzlich hat Radio Steiermark darüber berichtet und im Minutentakt kamen neue Leute, um Güter abzugeben. Die Hilfsbereitschaft war enorm. Die Menschen, die den Tag noch nicht verplant hatten, blieben, um uns beim Sortieren zu helfen. Insgesamt waren bestimmt 50 Leute da und wir konnten am Samstag zirka 15 vollgestopfte Autos um 16:00 Uhr Richtung Salzburg, Linz und ungarische Grenze schicken.

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Bevor wir am Sonntag um 00:30 Uhr in Hegyeshalom Richtung Graz starteten, beschlossen wir das Ganze am Morgen zu wiederholen. Aber wir wollten diesmal weiter fahren, nach Röszke an die ungarisch-serbische Grenze, dort gibt es ein Camp, in dem bestimmt mehr Bedarf ist.

Am Sonntag um 14:00 geht es los, wir sind 6 Autos. Eine Stunde vor Ankunft um 21:00 Uhr, versuche ich mich innerlich darauf einzustellen, dass wir mit viel Elend konfrontiert sein werden. Im Nachhinein weiß ich, dass man sich auf so etwas nicht vorbereiten kann.

Fotos von Peter Heinz Trykar.

Die ersten Bilder sind erdrückend. Wir kommen gar nicht bis zum tatsächlichen Camp. Wir erreichen den Sammelpunkt, also jenen Punkt, an dem die Leute festgehalten werden, nachdem sie die Grenze passiert haben. Von da werden sie mit Bussen in die Camps gebracht. Es gibt viel Polizei, eine Gruppe von zirka 50 Menschen am Boden sitzender junger Männer, ist gleich am Anfang des Sammelpunkts von der Polizei eingekesselt und darf sich nicht bewegen. Ich frage einen Polizisten, ob ich ihnen was zu essen geben darf, er schnauzt mich auf Ungarisch an und deutet mir, ich solle weggehen. Ich fürchte mich ein wenig und gehe. Es ist bereits dunkel und ich kann nicht einschätzen, wie viele Menschen hinter dem dünnen, provisorisch angebrachten Absperrband sitzen, stehen oder liegen. Sobald jemand durch möchte, wird die Person sofort von der Polizei zurückgeschickt.

Es ist kalt und die Menschen sind überhaupt nicht auf die Temperaturen eingestellt. Wir werden ständig nach Decken, warmen Jacken und Isomatten gefragt. Was wir haben, ist schnell weg, es ist viel zu wenig. Ich frage eine Polizistin, wie viele Menschen hier seien, sie antwortet: „900", ohne mich anzusehen. Durch das Lager ziehen sich 10 Feuerstellen, wo alles verbrannt wird, was Wärme spendet―hauptsächlich ist Plastik vorhanden. Der beißende Geruch zieht überall hin, nach einer Stunde schmerzt mir die Lunge und ich frage mich, wie man hier tage- oder gar monatelang ausharren kann. Ich höre Babys schreien.

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Sanitäre Anlagen sehe ich nirgendwo. Am anderen Ende des Lagers steht ein kleiner Pavillon mit Wasser und ein paar Nahrungsmitteln (Bananen, Brötchen, Äpfel). Das ist der Check-Point. Es gibt viel zu wenig von allem.

Die Höflichkeit und Dankbarkeit der Menschen ist überraschend. Man würde erwarten, dass sie ungeduldig und gereizt sind, dabei bekommt man ein Lächeln und ein „Thank you, madam!" geschenkt wenn man jemandem helfen kann. Was jemand nicht brauchen konnte, bekam ich zurück, wertschätzend, dass andere Menschen es nötiger haben könnten.

Uns wird erlaubt, durch das Lager zu gehen und Essenspakete zu verteilen, die wir zuvor in Graz gepackt hatten. Wir treffen auf eine größere Gruppe von zirka 25 Menschen, die um ein Feuer sitzen und beginnen, mit ihnen zu reden. Ein junger Mann erzählt mir, er sei mit seinem Bruder und seiner Tante aus Syrien geflüchtet. Er sagt, er habe keinen Hunger und fragt höflich nach einer warmen Jacke. Wir suchen Jacken aus dem Auto und gehen zur Gruppe zurück. Bevor wir ihn erreichen, sind alle Jacken weg. Es tut mir Leid und ich entschuldige mich, er lächelt und sagt: „It's OK!"

Es gibt einfach zu wenig von allem. Manchmal muss ich eine Gruppe von fünf Menschen stehen lassen, die auch gern eine Decke oder Jacke hätten, um endlich schlafen zu können. Wir suchen die letzten Handtücher, die wir haben―auch dafür sind die Menschen dankbar und versuchen sich damit warm zu halten.

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Ich konzentriere mich auf das Verteilen der Güter und zwischendurch kann ich auch lachen. Ich sage einem jungen Mann, er sehe mit der viel zu großen Jacke aus wie ein Hipster, er lacht und weiß was ich meine. Da ich keine Warnweste trage, denkt einer der Polizisten, ich wäre auch eine Geflüchtete und will mich zurück ins Lager scheuchen, als ich durch die Absperrung schlüpfe. Ich lache ihn an und aus und sage ihm: „I'm from Austria!" Ein junger Mann bekommt von mir eine Frauentasche, in der ein Essenspaket sein sollte. Er gibt sie lachend weiter an eine Frau, da Damenbinden und Windeln drin sind.

Um 1:00 Uhr nachts sind wir erschöpft und wollen fahren. Bis wir alle Dinge verteilt und umgeladen haben ist es 01:30 Uhr. Wir verabschieden uns und David und ich fahren zu zweit Richtung Graz. Ich versuche im Auto zu schlafen, um später fahrtüchtig zu sein, wir haben noch eine lange Fahrt vor uns. Dass das noch nicht das Ende des Tages sein würde, hätte ich mir nicht gedacht.

Zirka 30 Kilometer nach Röszke bremst David auf der Autobahn und bleibt am Pannenstreifen stehen. Ich schrecke auf und frage, was los ist. „Da sind welche am Pannenstreifen gegangen! Sollen wir sie mitnehmen?" meint er. Ich bin wieder hellwach und sage: „Sicher!" Es sind fünf junge Männer, die sich auf die kleine Rückbank quetschen, noch bevor wir sagen können: „Only three, please!"

Egal. Wir lassen sie sicherlich nicht mitten in der Nacht auf der Autobahn weiterlaufen. Einer ist aus Syrien und die anderen aus Afghanistan. Sie erzählen, sie hätten einem Schlepper 600 Euro bezahlt, damit er sie aus dem Camp in Röszke nach Budapest bringt. Kurz nach der Abfahrt hat er sie einfach auf der Autobahn ausgesetzt und ihnen ihre Rucksäcke, ihr letztes Hab und Gut, gestohlen. Sie tragen nichts mehr bei sich außer ihre Kleidung.

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Von Röszke nach Budapest sind es 180 Kilometer. Die Eltern und zwei Schwestern des syrischen Mannes sind bei einem anderen Schlepper im Auto, sie wollten sich in Budapest am Keleti Bahnhof treffen. Ich sorge mich, rufe die GrazerInnen in den anderen Autos an, sie sollen Ausschau nach mehr Menschen am Pannenstreifen halten. Ich bin unglaublich wütend und verständnislos, wie der Schlepper mit sich selbst leben kann. Gebe mich aber dann mit dem Gedanken zufrieden, dass dieser Mensch bis an sein Lebensende ein beschissenes Karma haben wird. Hoffentlich.

Na gut, Planänderung. Next Stop: Keleti Bahnhof. Wir kaufen ihnen etwas zu Essen und stecken ihnen noch Geld zu, bevor wir uns verabschieden. „Thank you! Thank you!", hören wir noch bis wir die Bahnhofshalle verlassen. Ich hoffe, sie finden ihre Familie.

Wir fahren die Nacht durch, sind erschöpft vom Schlafmangel und von den intensiven Eindrücken. Um 09:30 Uhr höre ich in den Nachrichten, dass man die „österreichischen Grenzen wieder schützen müsse; aber menschlich." Ich verstehe den Satz nicht. Vor wem wolle man die Grenzen schützen?

Dann bricht alles über mich herein. Ich sehe die Familie mit dem kleinen Baby die sich zig Mal für das Paar Babyschuhe bedanken, das ich ihnen gebracht habe. Ich sehe den zirka 12-jährigen Buben, der sich so sehr über eine Weste freut, die er sich endlich über sein kurzärmeliges T-Shirt ziehen kann. Ich sehe die ganzen Menschen, die mir dankbar lächelnd die Dinge wieder zurückreichen, die sie selbst nicht benötigen.

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Ich sehe die drei kleinen Mädchen, die sich spielerisch und lachend um die Essenspakete zanken, die wir ihnen gegeben haben. Und ich sehe die fünf jungen Männer, die nichts mehr hatten außer der Kleidung, die sie trugen. All die Gesichter sehe ich vor mir und kann nur noch weinen. Ich verstehe nicht, vor wem man die Grenzen oder das Land schützen will.

Wir könnten dieses Momentum nutzen, um unsere derzeit unmenschliche Asylpolitik in eine solidarische und gemeinschaftliche Politik zu verwandeln.

In dieser Situation kann man Grenzen nicht „menschlich schützen", für Menschen, die fliehen weil sie in ihrem Land sterben würden, bedeuten Grenzen und Abschiebung den Tod. Was zur Hölle ist daran menschlich?

Wie gerade im Moment mit flüchtenden Menschen umgegangen wird, wird in Zukunft ein Teil unserer Geschichte sein, an den man nicht gerne zurückblicken wird. Begonnen von der unglaublichen Unterversorgung der Flüchtenden, bis hin zu nicht ernsthaft verfolgten Straftaten von ausländerfeindlichen Menschen.

Gleichzeitig haben wir als Zivilgesellschaft die Möglichkeit, die derzeitige Lage in eine andere Richtung zu lenken. Das sieht man an großartigen Aktionen wie dem Refugee-Konvoi, der am Sonntag in Wien startete. Das sieht man an der riesigen Welle an Spenden und Hilfsbereitschaft. Und an der positiven Resonanz der Menschen, wenn man etwas macht.

Wir könnten dieses Momentum nutzen, um unsere derzeit unmenschliche Asylpolitik in eine solidarische und gemeinschaftliche Politik zu verwandeln. In eine Politik, in der Solidarität nicht nur ein oft verwendetes Wort ist, um sich gegenseitig Schuld zuzuschieben, sondern ein Wert, nach dem es zu Handeln gilt.

Jetzt sitze ich daheim und frage mich, wann ich wieder fahren kann. Denke an die Uni, Verpflichtungen, andere Projekte. Fazit: Scheiß drauf. Die Hilfe wird JETZT in diesem Moment benötigt. Die Menschen werden in Ungarn als politischer Spielball verwendet und widrigsten Bedingung ausgesetzt. Und ihr solltet auch drauf scheißen. Organisiert euch, informiert euch, was gebraucht wird, und fahrt in die Lager. Ihr seid Teil einer neuen, solidarischen, menschlichen Gesellschaft des Miteinander.