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Health

Wie es ist, in der Schweiz eine Anonyme Alkoholikerin zu sein

Alkohol ist in der Schweiz allgegenwärtig. Für trockene Alkoholabhängige bedeutet das eine tägliche Herausforderung.
Foto von Pixabay

Richtig angefangen hat alles mit 25 Jahren. Ich war damals in der PR-Branche tätig und dort gehört Alkohol zum Alltag. Natürlich dachte ich mit 25 noch nicht daran, dass ich alkoholabhängig sein könnte. Die Abhängigkeit kam schleichend, denn in meiner Familie war trinken ganz normal. Zu jedem Essen gab es mindestens ein Glas Wein. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, dass auch mein verstorbener Vater ein Alkoholproblem hatte. In der Schweiz gibt es immerhin über 250.000 alkoholabhängige Personen, von denen zwei Drittel männlich sind. Von risikoreichem Alkoholkonsum wird nach internationalen Standards gesprochen, wenn durch das Trinken die eigene Gesundheit oder jene von anderen gefährdet wird.

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Mit 30 Jahren war ich dann soweit, dass ich jeden Tag eine Flasche Rotwein trinken musste, um mich wohlzufühlen. Ich kam so aber noch ganz gut durch den Alltag, weil ich meistens erst am Abend zu trinken anfing. Ich hatte zwar immer öfter gesundheitliche Beschwerden und wurde zunehmend vergesslicher, jedoch wollte ich nicht wahrhaben, dass das am Alkohol lag. Ausserdem fand ich immer irgendeinen Grund zu trinken, auch wenn der Grund nur "Montag" lautete. Darüber war ich bereits weit hinaus, denn ich nahm so einiges in Kauf um trinken zu können.

Irgendwann fing ich an, immer weniger wegzugehen und immer öfter alleine zu Hause zu trinken. Ich hatte Angst, beim Feiern nicht genug Alkohol zu bekommen oder zu viel Geld dafür ausgeben zu müssen. Also ging ich auf Nummer sicher. Mein Mann, mit dem ich heute über 16 Jahre zusammen bin, versuchte, so gut er konnte, damit umzugehen. In seinem Fall hiess das, meine Sucht zu ignorieren und mir freie Hand zu lassen. Im Nachhinein war das wahrscheinlich auch besser so. Ich weiss nicht, was ich gemacht hätte, wenn er mich vor die Wahl gestellt hätte: ihn oder den Alkohol.

Mit 40 Jahren hatte ich dann einen geistigen und physischen Zusammenbruch. Ich wurde mit der Diagnose "Burnout" ins Krankenhaus eingeliefert. In diesem Moment war mir schon irgendwie klar, dass mein Zusammenbruch weniger mit Überarbeitung, dafür mehr mit meinem Alkoholkonsum zu tun hatte. Aber ich wollte immer noch nicht einsehen, dass ich ein Alkoholproblem habe und machte einfach weiter.

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Von da an arbeitete ich jedoch nur noch zu 50 Prozent. Irgendwann schaffte ich es, mich einer Freundin anzuvertrauen. Diese überredete mich dazu, eine Psychologin aufzusuchen. Ich war zwar schon mehrere Male in Therapie gewesen, aber diese Ärztin war die erste, bei der ich wirklich ehrlich sein konnte. Sie verstand mich einfach.

Eine Kontaktstelle der Anonymen Alkoholiker | Foto von Vangore | Wikimedia | CC BY-SA 3.0

Obwohl ich unter einem anderen Vorwand zu ihr kam, erkannte sie mein Alkoholproblem auf Anhieb. Und obwohl ich bei der täglich konsumierten Menge ein wenig untertrieb, riet sie mir, mich sofort in eine Klinik einweisen zu lassen oder zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen. Da ich mich gerade selbständig gemacht hatte und mich unmöglich für drei Monate krankschreiben lassen wollte, entschied ich mich für die Anonymen Alkoholiker (AA).

Ich muss gestehen: Ich war von dem Gedanken, in einen Raum voller alter, grauer Säcke zu sitzen und über Alkoholabstürze zu reden, nicht begeistert. Nervös und nüchtern ging ich an mein erstes Treffen in Zürich. Doch ich wurde sehr positiv überrascht. Ich wurde herzlich willkommen geheissen, obwohl mich niemand kannte. Zwar ist der grösste Teil der Anonymen Alkoholiker wirklich über 40, aber vereinzelt suchen auch Jüngere hier Zuflucht. Man muss jedoch verstehen, dass Alkoholabhängige eine gewisse Zeit brauchen, bis sie einsehen, dass sie ein Problem haben. Danach brauchen sie wiederum eine gewisse Zeit, bis sie etwas dagegen unternehmen. Ich bin dafür das beste Beispiel.

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Ein Treffen der Anonymen Alkoholiker ist etwas sehr Persönliches. Wir sitzen an einem Tisch, der "Chairman" erteilt das Wort der Reihe nach denjenigen, die sich melden. Der "Chairman" hat keine besonderen Privilegien oder so, er ist ebenfalls ein Alkoholiker. Er leitet nur das Meeting. Wenn man etwas sagen möchte, hebt man die Hand. Es ist ausserdem wichtig, dass man nur von sich und seinen Erfahrungen redet. Es gibt keine Diskussionen und man erteilt auch keine Ratschläge.

Wenn ich mich auf innere Diskussionen einlasse, habe ich schon verloren.

Mein Meeting begann immer abends und dauerte 1.5 Stunden. Da ich erst nach der Arbeit zu trinken begann, war das im Nachhinein meine Rettung. Ich sagte mir immer: "Zuerst gehst du ans Meeting und danach kannst du was trinken." Aber wie durch ein Wunder wollte ich nach dem Meeting nichts mehr trinken. Bei den AA war ich unter meinesgleichen, ich fühlte mich verstanden. Wir sind alle Süchtige und haben mit dem gleichen Problem zu kämpfen. Bei den AA kann ich ehrlich mit mir selbst sein, ohne dafür verurteilt zu werden. Vielleicht war es das, was mich vom Trinken abhielt.

Das Problem einer Abhängigkeit ist, dass sie dich sehr viel Zeit kostet. Und wenn du aufhören willst, hast du plötzlich so viel Zeit, dass du nichts mit ihr anzufangen weisst. Ich hatte das Glück, dass ich nur einige Wochen lang starke Entzugserscheinungen hatte, aber auch für diese musste ich eine Ablenkung finden. Anfangs suchte ich mir ein neues Hobby, das mich jeden Abend beschäftigen würde. Ich fing an, viel Sport zu treiben und Bücher zu lesen. Seit ich trocken bin, lese ich etwa drei Mal so viel wie vorher. Vor allem Krimis und Psychothriller haben es mir angetan.

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Natürlich habe ich auch heute, fünf Jahre später, noch ab und zu das Verlangen nach einem Drink. Wenn das passiert, brauche ich ganz schnell einen Tapetenwechsel. Ich muss sofort etwas unternehmen oder mit jemandem reden. Denn wenn ich mich auf innere Diskussionen einlasse, habe ich schon verloren.

15 Jahre täglichen Alkoholkonsums zogen nicht spurlos an mir vorbei. Ich liebte meinen PR-Job aber die 13-Stunden-Arbeitstage waren mit einer Alkoholsucht einfach nicht zu bewältigen. Ich machte viele Fehler, war reizbar und nicht mehr belastbar. Ich bekam Probleme mit Vorgesetzten und Mitarbeitern, weshalb ich schliesslich kündigte.

Foto von Toronto Eaters | Unsplash | CC0

Das Verhältnis zu meiner Mutter war schon immer schwierig und wurde durch meine Abhängigkeit auch nicht besser. Als ich ihr von den AA erzählte, kam mir wenig Verständnis entgegen. Sie konnte den Gedanken, dass ihre eigene Tochter Alkoholikerin war, nicht ertragen. An meiner ersten trockenen Weihnacht schenkte sie mir sogar eine Flasche Champagner, was dazu führte, dass ich für ein Jahr den Kontakt zu ihr abbrach.

Meine Familie und meine besten Freunde wissen über mein Problem Bescheid. Aber je länger ich trocken bin, desto weniger Lust habe ich, es anderen Menschen zu erzählen. Bei Apéros erfinde ich meistens Ausreden wie Migräne oder Medikamente, um nicht weiter auf dieses Thema eingehen zu müssen. Wenn ich mich aber jemandem anvertraue, reagieren die meisten sehr verblüfft. Dann fallen oft Sätze wie "Du trinkst doch gar nicht so viel" und "Ich trinke ja immer mehr als du". Es ist schwierig, mit nicht-süchtigen Menschen über eine Sucht zu reden, deswegen lasse ich es lieber ganz. Ausserdem hoffe ich immer noch, dass Alkoholabstinenz irgendwann nicht mehr so ein grosses Thema sein wird. Nichtraucher werden auch nicht jeden Tag gefragt, wieso sie nicht rauchen.

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Ich bin nun seit fünf Jahren trocken. Unter den Anonymen Alkoholikern ist das noch nicht wirklich eine lange Zeit. Es gibt einige in unseren Meetings, die schon seit 20 Jahren nichts mehr getrunken haben. Aber auch die sind nicht "geheilt". Alkoholabhängigkeit ist eine unheilbare Krankheit, die nur gestoppt werden kann, indem man den Alkoholkonsum unterbindet. Deswegen ist es so entscheidend, im ersten Jahr trocken zu bleiben. Ich habe das nur geschafft, indem ich mich das erste Jahr zu Hause verkrochen habe. Ich konnte mir den Ausgang ohne Alkohol nicht einmal vorstellen.


Unterwegs mit jungen Fentanyl-Abhängigen:


Heute kann ich feiern gehen, ohne den Drang zu verspüren, mich hemmungslos betrinken zu müssen. Ich habe gemerkt, dass es auch bei Partys immer Menschen gibt, die nicht so viel trinken. Ich bin nicht mehr die letzte, die nach Hause geht. Meine Stimmung ist trotzdem gut und das Beste daran ist, dass ich mich am nächsten Tag an alles erinnern kann und mich für nichts schämen muss. Für mich als Alkoholikerin ist das ein völlig neues Gefühl.

Nach etwa einem Jahr hatte mein Körper die Suchtphase überwunden. Meine Gedanken mögen zwar immer noch nass sein, aber von da an wird es viel einfacher, auf Alkohol zu verzichten. Wir setzen uns bei den AA täglich nur ein Ziel: für die nächsten 24 Stunden nichts trinken.

Die AA haben mir sehr viel über mich selbst beigebracht. Ich wurde geduldiger, ehrlicher und toleranter. Ich werde die AA nie verlassen. Für mich wäre das der Anfang vom Ende. Solange ich trocken bleiben will, werde ich zu den Anonymen Alkoholikern gehen müssen.

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