Gestank, Suizide, Stechereien: Ein ehemaliger Insasse des Gefängnisses aus 'Die Verurteilten' erzählt
Titelfoto: Michael Goldberg

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Erinnerungen

Gestank, Suizide, Stechereien: Ein ehemaliger Insasse des Gefängnisses aus 'Die Verurteilten' erzählt

"Um meinen Hals trug ich immer eine Zahnbürste mit Rasierklinge im Stiel", sagt Michael Humphrey, der inzwischen als Tourguide in der stillgelegten Haftanstalt arbeitet.

Michael Humphrey wurde jahrelang von Albträumen geplagt. "Ich konnte diesen Ort noch immer riechen und hören", erzählt er. "Ich musste nachts aufstehen und das Licht anmachen, um sicherzugehen, dass ich wirklich nicht mehr dort bin."

Humphrey spricht vom "Ohio State Reformatory"-Gefängnis in Mansfield. 1969 saß er dort wegen schweren Diebstahls 14 Monate lang hinter Gittern. Damals war er 18 und schwor sich, nie wieder einen Fuß in eine Haftanstalt zu setzen.

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Aber im Jahr 2000 brach er seinen Schwur. Der Grund dafür: Das Gefängnis, das inzwischen wegen menschenunwürdiger Bedingungen geschlossenen hatte, bot Touren durch die ehemalige Haftanstalt an. Sie hatte sich inzwischen zu einer beliebten Touristenattraktion gemausert – weil der gefeierte Film Die Verurteilten dort gedreht wurde.

"Wir durften als Häftlinge natürlich nie einfach so durch das Gefängnis laufen. Das Ganze war also schon ein Abenteuer", sagt Humphrey trocken. Aber fast hat er seinen Besuch bereut: "Die ganzen Erinnerungen kamen zurück." Trotzdem setzte er sich ein paar Wochen später mit der Mansfield Reformatory Preservation Society in Verbindung, erzählte den Verantwortlichen seine Geschichte – und wurde prompt als Tourguide angestellt. Weil er früher im Bauwesen gearbeitet hatte, half er außerdem dabei, die bröckelnde Gebäudestruktur zu sanieren.

Inzwischen ist Humphrey 66 Jahre alt und seine Freilassung liegt fast ein halbes Jahrhundert zurück. Seine "Life of an Inmate"-Tour ist bei Die Verurteilten-Fans und anderen Besuchern inzwischen ein Hit. "Als ich  als Tourguide anfing, erzählte ich noch nicht, dass ich ein ehemaliger Insasse bin", erzählt er. "Ich schämte mich dafür, dass ich ein verurteilter Straftäter war." Aber Besucher, die nichts von seiner Vergangenheit wussten, machten häufig "Witze oder dumme Bemerkungen über ehemaligen Häftlinge. So nach dem Motto 'Die hätten das und das mit ihnen machen sollen'". Deswegen hat er seinen Job mehrmals fast hingeschmissen.

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Heute erzählt er den Leuten alles und erklärt, wie sich Mansfield von einer Haftanstalt für großteils nicht gewalttätige Jugendliche in eine überfüllte und unglaublich brutale Hochsicherheits-Hölle verwandelt hat.

1930 war ein Feuer in einem naheliegenden Hochsicherheitsgefängnis ausgebrochen. Dabei kamen mehr als 300 Insassen ums Leben und der große Schaden zwang die Behörden dazu, Hunderte Mörder, Vergewaltiger und andere Schwerverbrecher nach Mansfield zu verlegen. Als Humphrey 1969 in das Gefängnis kam, fiel ihm als Erstes der schlimme Gestank der mehr als 2.000 Insassen auf, die nur einmal pro Woche duschen durften. Mit der Gewalt wurde er ebenfalls schnell konfrontiert: Prügeleien, Stechereien und Suizide gehörten zum Alltag dazu. Deswegen bastelte sich Humphrey auch schnell seine eigene Waffe: "Um meinen Hals trug ich immer ganz unauffällig eine Zahnbürste mit Rasierklinge im Stiel. Zum Glück musste ich sie nie einsetzen."

Humphreys Zellengenosse war ein sechs Jahre älterer Mann namens Ron Crabtree, der wegen bewaffneten Raubüberfalls saß. Die beiden wurden zu lebenslangen Freunden. Wenn Humphrey so etwas wie der Die Verurteilen-Protagonist Andy Dufresne war, dann spielte Crabtree die Rolle des Red. In anderen Worten: Er half ihm dabei, sich in Mansfield zurechtzufinden, und brachte ihm die wichtigste Regel bei: "Nimm niemals ein Geschenk an."

"Hier drin ist nichts umsonst", erinnert sich Humphrey an die Anweisung. "Und diese Warnung nahm ich mir wirklich zu Herzen."

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Während seiner Haftstrafe blieb Humphrey die meiste Zeit für sich und erzählt, dass er gut mit den Aufsehern klar kam. Das hatte vor allem einen Grund: Seine Mutter brachte ihm bei den Besuchen immer riesige Mengen Lasagne und Chili mit. Was übrig blieb, konnten dann die Wachen verspeisen. "Erst hieß sie 'Ma'am', dann 'Mrs. Humphrey' und schließlich 'June'", lacht Humphrey.

Eine weitere Parallele zwischen Humphrey und Die Verurteilten: Genauso wie Andy Dufresne sagt Humphrey, dass er unschuldig sei und nie ein Auto gestohlen hätte.

"OK, ich war kein Engel, aber definitiv auch kein Krimineller", erzählt er. "Ich musste für etwas büßen, das andere getan hatten. Als die Polizei kam, war ich leider als einziger da. Deswegen haben sie mich mitgenommen. Der Richter wollte, dass ich alle verpfeife. Ich weigerte mich und kam deswegen nach Mansfield."

Zwar wird Humphrey nicht mehr von Albträumen geplagt, aber einige Bereiche des Gefängnisses wecken in ihm bis heute schreckliche Erinnerungen. Doch selbst während der schlimmsten Tage seiner Haftstrafe kam es dem Ex-Häftling nie in den Sinn, "durch einen Bach voller Scheiße zu kriechen" oder auf irgendeine andere Art und Weise auszubrechen. "Trotzdem wollte ich natürlich raus. Und glaubt mir, immer wenn ich die Aufseher sah, hätte ich ihnen gerne ihre Schlüssel weggenommen."

Dann lacht Humphrey: "Und jetzt besitze ich diese Schüssel wirklich!"

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