Wir haben Geflüchtete gefragt, was sie Seehofer und Merkel gerne sagen würden
Foto: Baran Datli

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Asylstreit der Union

Wir haben Geflüchtete gefragt, was sie Seehofer und Merkel gerne sagen würden

"Früher wurde von uns als Schutzsuchenden gesprochen. Jetzt werden wir fast ausschließlich mit Gefahr assoziiert, die abgewehrt werden muss."

Geflüchtete in Deutschland – das eine große Thema neben dem vorzeitigen WM-Aus der deutschen Fußballnationalmannschaft, zu dem aktuell jeder eine Meinung hat. Je apokalyptischer und dramatischer, desto größer die Aufmerksamkeit, die er oder sie dafür bekommt, wirkt es. CSU-Innenminister Horst Seehofer hat diese Disziplin in den vergangenen Tagen perfektioniert. Und in der Tat eine Politik durchgesetzt, die nach AfD-Wunschliste klingt: Transitzentren an der Grenze zu Österreich, Zurücksenden von Geflüchteten, die bereits in anderen EU-Ländern registriert wurden. Führende Politikerinnen und Politiker der Union nennen Geflüchtete "Asyltouristen". Aber wie fühlen sich eigentlich die Menschen, über deren Leben aktuell nicht nur in Berlin, sondern auch in Brüssel diskutiert wird? Wir haben mit Geflüchteten über die deutsche Asylpolitik, Auffanglager und ihre Ängste gesprochen.

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Khaled, 28, Kundenberater

Khaled ist 2015 über die Mittelmeerroute mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus Syrien nach Deutschland geflohen. Er wartet auf einen Studienplatz, um sein Wirtschaftsstudium abzuschließen. Bis 2019 ist er als Asylberechtigter anerkannt | Foto: Marleen Fitterer

VICE: Was denkst du, wenn du deutsche Politik verfolgst?
Khaled: Die Politiker versuchen nicht zusammenzuarbeiten, sondern jeder alleine, jeder will gewinnen und es wird auf unserem Rücken ausgetragen. Deutsche Politiker benutzen uns, um ihre Macht zu behaupten und sich gegeneinander auszuspielen. Das ist nicht gut für uns, aber auch nicht gut für Deutschland.

Was wusstest du über die deutsche Politik, bevor du hierher kamst?
Ich wusste nichts über das politische Klima oder das Asylrecht. Ich hatte die Hoffnung, dass mir hier eine Chance gegeben wird zu arbeiten, fertig zu studieren, ein besseres Leben führen zu können. Ich wusste von Freunden, die schon früher nach Deutschland kamen, wie es läuft mit Registrieren, Jobcenter et cetera. Es war schon immer mein Wunsch, nach Deutschland zu kommen, auch vor dem Krieg. Wegen der starken Wirtschaft und weil ich mich sehr für Autos interessiere.

Beschäftigst du dich mit der aktuellen politischen Lage, mit dem Asylstreit in der Bundesregierung?
Ich verfolge die Ereignisse, weil mein Vater immer noch in Syrien ist. Wir sind am Familiennachzug dran, aber die Behörden halten uns hin. Eine Begrenzung des Familiennachzugs ist für mich unverständlich. Es kann nicht sein, dass meine Mutter ihren Mann nach 30 Jahren Ehe nicht mehr sehen darf. Ich muss jede Sekunde an meinen Vater denken und frage mich, ob er noch am Leben ist. Wie soll ich da positiv denken? Ich kenne Mütter, deren Kinder auf der Flucht gestorben sind. Wie sollen traumatisierte Geflüchtete gut für Deutschland sein? Meinem Bruder fehlt die Vaterfigur, er heißt Osama und wird dafür oft rassistisch angegriffen. Das einzige Ziel und die einzige Hoffnung meiner Mutter und mir ist, dass wir alle wieder zusammen leben. In einem Land, in dem kein Krieg herrscht.

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Auch bei VICE: Meine Flucht aus Syrien


Wer sollte aus deiner Sicht bleiben dürfen und wer nicht?
Ich sehe das so: Nur weil jemand keine Ausbildung hat, muss er wieder zurück? Dort herrscht Krieg, das geht nicht. Man sollte die Leute fragen: Was könnt ihr machen? Wir unterstützen dich dabei. Mein Traum war immer, Politiker zu werden, aber in Syrien habe ich das Vertrauen in politische Systeme verloren. Nach sieben Jahren Syrienkrieg sind fast eine Million Menschen gestorben, die Hälfte ist geflüchtet. So viele Menschen wurden festgenommen. Deshalb kann ich auch nicht an deutsche Politiker glauben.

Wie wäre es für dich gewesen, damals abgewiesen worden zu sein?
Wenn du aus einem Land kommst, in dem Krieg herrscht, ist es letztendlich egal, wo du hinkommst. Hauptsache, du bist aus diesem Land weg. Jetzt weggeschickt zu werden, wäre nicht logisch. Wir haben schon Deutsch gelernt, arbeiten und haben uns etwas aufgebaut. Wir sind nicht nur Zahlen, wir sind auch Menschen. Menschen mit Gefühlen, mit Familien und Schicksalen.

Mahmoud Hallak, 28, angehender Versicherungskaufmann

Mahmoud kommt aus Syrien und kam 2014 nach Deutschland. Heute hat er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und lebt in München | Foto: Baran Datli

VICE: Was denkst du über die deutsche Asylpolitik?
Mahmoud Hallak: Ich hasse Politik – nicht nur die deutsche. Sie behandeln uns wie Spielzeug, reden über uns, als wären wir Gegenstände. Warum geben sie uns kein Visum? Ganz legal. So werden wir gezwungen, Schlepper in Anspruch zu nehmen. Das ist krass gefährlich. Ich hätte lieber mein Geld einer Botschaft gegeben, mein Leben ihnen anvertraut. Und ich hasse die Politik für das, was sie anrichtet: Krieg und Vertreibung. Trotzdem bin ich Deutschland dankbar. Sie haben uns die Arme gereicht. Vor allem hat mich gerührt, als im Sommer 2015 Hunderte Menschen am Münchner Hauptbahnhof syrischen Flüchtlinge klatschend empfingen und halfen, ohne etwas zurückzuverlangen.

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Warum bist du nicht in der Türkei geblieben? Da warst du sicher.
Ich wollte eigentlich dort bleiben oder nach Dubai. Aber die Türken haben mich schlecht behandelt und bezahlt. Ich habe für einen Hungerlohn von ein Lira pro Stunde (umgerechnet 18 Cent) gearbeitet. Da denkt man natürlich an die Zukunft.

Bist du ein Asyltourist?
Ich bin als Flüchtling gekommen. Das ist ein großer Unterschied. Ein Tourist hat einen gültigen Pass, hat Geld, ein Hotel, Überblick über seine Reise und sein Urlaubsziel. Er reist gemütlich von Flughafen zu Flughafen. Ich kam nach einer beschwerlichen Reise, besorgte mir einen gefälschten Pass in Griechenland und konnte endlich nach Deutschland. Nachdem mich die Polizei vier Stunden befragte, stand ich erschöpft am Terminal, schaute eine Karte von Deutschland an und rauchte alleine meine erste Kippe. Ich habe mich gefühlt wie ein neugeborenes Kind ohne Eltern. Ich habe alles aufgesaugt, was ich sah, hatte niemanden in Deutschland, konnte die Sprache nicht, wusste nicht, was Bayern ist, oder wo ich hin muss.

Was kommt dir in den Sinn, wenn du ans Mittelmeer denkst?
Die ganze Welt wusste, dass Menschen flüchten werden. Warum haben sie vorher nichts getan oder vorbereitet? Warum tun sie jetzt nichts? Die ganze Welt sieht es und schaut weg.

Du bist anerkannter Flüchtling. Aber würdest du wiederkommen, wenn die Behörden dich plötzlich abschieben würden?
Ich würde sagen: Entweder bringt ihr mich um oder ich gehe nicht. Ich habe mein Leben hinter mir gelassen, ein komplett neues aufgebaut. Ich bin kein Spielzeug. Ich habe so viel Energie aufgebracht. So viel getan dafür, dass mich die Menschen akzeptieren: Ich habe die Sprache gelernt, Freunde gefunden, die ich liebe, eine Ausbildung angefangen und arbeite nebenbei in einem Bistro. Das können sie mir nicht einfach wegnehmen. Ich versuche, mein Leben stabil aufzubauen, mich zu "integrieren". Außerdem habe ich noch so viel Schmerz in meinem Herzen. Keiner darf mit meinem Leben spielen.

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Samba Kekung Ba, 29, Servicekraft

Samba flüchtete 2014 aus dem Senegal nach Deutschland. Er hat eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und lebt in München | Foto: Baran Datli

Was dachtest du, als es kurz so aussah, als würde Horst Seehofer zurücktreten?
Samba Kekung Ba: Ich dachte: Wer kündigt seinen Job am Wochenende, wenn alle Büros geschlossen sind? Mir wurde klar, dass es um PR und Politik geht, weil sich dann alle auf ihn konzentrieren und er die größtmögliche Aufmerksamkeit bekommt. Auch der Rücktritt vom Rücktritt war berechnend. Damit er zeigen konnte, dass er sich von Merkel nichts sagen lässt, seine Flüchtlingspolitik durchsetzt und dadurch vielleicht mehr Wählerstimmen bekommt.

Würdest du dir wünschen, er würde zurücktreten?
Ich verurteile Seehofer als Person nicht. Ich bin nur auf seine Politik sauer. Dass er alles auf dem Rücken der Flüchtlinge austrägt, weil er wie auch viele andere Politiker kein anderes Thema mehr zu kennen scheint.

Wenn er vor dir stehen würde, was würdest du ihm sagen?
Flüchtlinge brauchen endlich ihre Ruhe. Sie sind oft traumatisiert und sitzen dann in der U-Bahn, schauen Nachrichten oder surfen in sozialen Medien und sehen, dass es wieder nur um sie geht und dass sie oft in den Dreck gezogen werden. Ich fordere Seehofer auf, die Gedanken der Flüchtlinge nicht zu vergiften. Das ist eine humanitäre Krise! Außerdem sollte er als Minister wissen, dass dies eine schlechte wirtschaftliche Rechnung ist: Flüchtlinge werden krank und kranke Menschen müssen behandelt werden, und das muss dann wieder der Staat zahlen.

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Warst du 2015 über Angela Merkels Entscheidung erleichtert, Geflüchtete an der Grenze nicht zurückzuweisen?
Jein. Ja, weil sie den Flüchtlingen in größter Not geholfen hat. Nein, weil ich an die Konsequenzen dachte. Sie lassen jetzt sehr viele rein, aber später werden sie die Türe schließen und nicht so leicht wieder öffnen.

Was denkst du, wenn du ans Mittelmeer denkst?
An die Bilder in meinem Kopf. Wenn ich diese vor meinem inneren Auge sehe, versuche ich, mich abzulenken. Wie sie mich wie ein Tier in Libyen eingesperrt haben und was ich auf dem Mittelmeer sah.

Scherzad Taleqani, 27, Politikwissenschaftler

Scherzad lebt seit 2001 in München, ursprünglich kommt er aus Afghanistan. Er hat eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis | Foto: Baran Datli

VICE: Was hat sich verändert, seitdem du als Flüchtlingskind nach Deutschland gekommen bist?
Scherzad Talequani: Früher wurde oft von Flüchtlingen als Schutzsuchende gesprochen. Jetzt werden sie fast ausschließlich mit Gefahr assoziiert, die abgewehrt werden muss, am besten noch an den Grenzen. Die Menschlichkeit geht vor die Hunde.

Woran siehst du das?
Verstärkung von Frontex, Kriminalisierung privater Seenotretter, Verschärfung von Grenzkontrollen, Verrohung der Sprache, Transitzonen. Ich könnte endlos weiter aufzählen. Politiker und viele Medien haben Menschen, die vorm Tod fliehen, durch Zahlen ersetzt. Ich habe die brennenden Asylbewerberheime der 1990 Jahre nicht miterlebt, aber was ich bis jetzt gesehen habe, ist, dass es immer härter wird, vor allem in der Sprache.

Wie meinst du das?
2015 war das entscheidende Jahr. Davor gab es zwar schon abwertende Begriffe wie Asylant. Aber erst 2015, als sehr viele Geflüchtete aus ihren Staaten fliehen mussten und nach Europa kamen, wurden sie nur noch als Masse wahrgenommen. Begriffe wie Flüchtlingswelle oder -lawine haben sich etabliert. Das sind Begriffe über Naturgewalten, ihre Bedeutung suggeriert Gewalt und Zerstörung. Viele Medien haben das, ohne zu hinterfragen, wiedergegeben. Selbst in den Bundestag haben diese Begriffe Einzug gefunden, es ist die Rede von "Müll, der nach Anatolien abgeschoben werden muss" von "Vergewaltigern". Das ist ein riesiges Problem. Unsagbares ist sagbar geworden.

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Wenn du in einer Talkshow sitzen würdest, was wäre dein Statement?
Gewöhnen Sie sich an das veränderte Gesellschaftsbild und entgegnen sie dem mit Interkulturalität, statt Abschottung. Sehen Sie es endlich als Chance. Es fuckt mich ab, dass oft über Flüchtlinge geredet wird, aber nicht mit ihnen. Schau dir die Talkshows an. Alte weiße Männer reden über Themen, die sie nur aus der Metaebene kennen, nicht aus der Praxis. Es fuckt mich ab, dass das Flüchtlingsthema in Verbindung zum Islam gesetzt wird und damit alle Flüchtlinge verallgemeinert werden. Und wenn mal ein Muslim in eine Talkshow eingeladen wird, dann gibt es drei Kategorien von Muslimen. Erstens: Klischeemuslime wie salafistische Prediger. Zweitens: jemand wie Seyran Ateş, die nicht den Großteil der Muslime repräsentiert. Und drittens: Muslime, die als Beweis dafür genutzt werden, dass der Islam doch ein Problem hat, wie Hamed Abdel-Samad.

Ahmad, 45, Koch

Ahmad kam vor mehr als 20 Jahren aus Syrien nach Deutschland. Heute hilft er anderen syrischen Geflüchteten | Foto: Rebecca Rütten

VICE: Wie geht es dir, wenn du momentan verfolgst, was in Deutschland politisch passiert?
Ahmad: Es ist schrecklich. Es macht mir Angst, wie gegen Migranten und Flüchtlinge gehetzt wird – gerade gegen die, die erst vor drei, vier Jahren nach Deutschland gekommen sind.

Wie findest du das Asylrecht in Deutschland?
Die deutsche Bürokratie ist einfach zu viel. Man muss von einem Amt zum nächsten und diese ganzen Anträge: Es dauert einfach zu lange! Die Behörden haben in der Vergangenheit auch viele Fehler gemacht, und darunter leiden die Menschen, die hier gerade angekommen sind und nicht einmal die Sprache beherrschen. Sie kennen weder die Politik noch die Gesetze oder Gesellschaft.

Syrer haben das Problem, dass die Ausländerbehörde sie in die syrische Botschaft schickt, um Pässe und Unterlagen zu beantragen. Sie sollen also bis zu 800 Euro für einen Pass an ein Regime zahlen, aus dem sie gerade geflohen sind. Allein eine Geburtsurkunde kostet mehrere hundert Euro. Eigentlich wollen diese Menschen mit dem Diktator al-Assad überhaupt nichts zu tun haben.

Was würdest du ändern, wenn du könntest?
Die EU muss hart durchgreifen und sagen: "Liebe Leute, wir sind Nachbarn, wir sind Europa, aber jedes Land, das keine Flüchtlinge bei sich akzeptiert, bekommt auch keine finanzielle Unterstützung von uns!" Es ist ganz einfach, man braucht nur den Mut.

Die deutsche Regierung muss nicht alles alleine machen. Die Menschen, die an der Grenze bleiben, sind gebrochene Leute: Kranke, Mütter, Kinder, Säuglinge. Deswegen macht die Debatte in Deutschland keinen Sinn, in Brüssel muss etwas passieren.

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