Traumatisiert: Der Flüchtling Calaa von hinten fotografiert
Fotos: Sophie Wanninger
Menschen

Wie Calaa versucht, die Folter im libyschen Gefangenenlager zu verarbeiten

Rund ein Drittel der Geflüchteten in Deutschland ist traumatisiert, doch Therapieplätze gibt es kaum. Calaa hatte Glück.

Calaa ist 15 Jahre alt, als er zum ersten Mal sieht, wie Menschen sterben. Es ist April 2014 und Calaa gehört zu den Oromo, einer verfolgten Minderheit in Äthiopien, der die Regierung damals ihr Land wegnimmt. Schüler, Schülerinnen und Studierende, auch Calaa und seine Freunde, demonstrieren dagegen. Die Polizei – so erzählt er es – schießt in die Menge, Hunderte Menschen rennen. Sie fallen neben Calaa zu Boden, weil sie stolpern. Oder weil sie eine Kugel trifft.

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Calaa kommt ins Gefängnis, spürt zum ersten Mal, wie sich Peitschenhiebe auf seinem Rücken, wie sich Tritte, wie sich Schläge anfühlen. Zehn Tage verbringt er dort. Danach beschließt er zu fliehen. Durch den Sudan, wo er bei 40 Grad auf einer Baustelle Steine geschleppt habe. Durch Libyen, wo er monatelang gefangen gewesen sei, wo ihn Milizen schlugen und folterten, wo er wochenlang kaum sprechen und sich nicht waschen durfte, wo es an vielen Tagen nicht mehr zu essen gab als eine dünne Scheibe Brot und nicht mehr zu trinken als ein paar Schlücke Wasser. Durch die Wüste, auf der Ladefläche von Transportern, die so eng gewesen seien, dass sich seine Beine bis bis heute manchmal taub anfühlen. Und über das Mittelmeer in einem Boot, das beinahe untergegangen sei.


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Fast sechs Jahre nachdem Calaa zum ersten Mal sah, wie Menschen sterben, sitzt er in einem Büro einer Therapeutin in München und sagt: "Ich weiß nicht, wie viele Menschen ich auf der Flucht verloren habe. 40 mindestens." Vor ihm steht ein goldenes Tischchen, doch er stellt das Glas Leitungswasser, das er in den Händen hält, die nächsten drei Stunden nicht ab. Er hält sich daran fest, während er von seiner Flucht, der Zeit in Gefangenenlagern, der Reise durch die Wüste und über das Mittelmeer spricht. Jedes Mal, wenn er stockt, nimmt er einen großen Schluck. Calaa ist 21 Jahre alt und heißt eigentlich anders. Seinen richtigen Namen möchte er nicht verraten, weil er in Deutschland nur geduldet ist und fürchtet, dass ihn die Behörden eines Tages abschieben könnten. Calaa ist schmächtig, mehr Junge als Mann, seine Stimme ist leise. Manchmal wirkt es, als er erzähle er von seiner Flucht auch deshalb so ausführlich, weil er sich selbst beweisen möchte, dass er darüber sprechen kann, nachdem er aus Angst vor den Bildern in seinem Kopf so lange geschwiegen hatte.

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Von dem, was er auf seiner Flucht und in seiner Heimat erlebte, ist Calaa traumatisiert. Als er im September 2015 in Deutschland ankam, habe er Tag und Nacht geschlafen, mit niemandem gesprochen, sich einsam gefühlt und vor allem habe er Angst gehabt. Wenn irgendwo etwas knallte, das sich wie eine Pistole anhörte. Wenn Menschen zu laut sprachen. Wenn sich Menschen gegenseitig beleidigten. Wenn Menschen einen Akzent hatten, der klang, als könnten sie aus Libyen stammen.

Seit etwa eineinhalb Jahren ist Calaa deshalb in Therapie bei Refugio, einem Behandlungszentrum für geflüchtete Menschen und Folteropfer in München. Am Anfang saß er einmal die Woche in dem Büro mit dem goldenen Tischchen gegenüber von seiner Psychotherapeutin Jenny Mika. Jetzt kommt er nur noch alle zwei Wochen. Ihm gehe es besser, sagt er. Vor einem Jahr begann Calaa eine Ausbildung zum Krankenpfleger, seit ein paar Monaten lebt er alleine in einer Wohnung in München.

Doch längst nicht alle Geflüchteten haben Zugang zu einer Therapie. Genaue Zahlen, wie viele Geflüchtete in Deutschland psychisch erkrankt sind, wie viele Therapieplätze vorhanden sind und wie viele fehlen, gibt es nicht. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung aus eine Anfrage der Links-Fraktion aus dem Juli 2019 hervor, aus der sich auch herauslesen lässt, dass die Bundesregierung momentan keinen Bedarf sieht, etwas an der Situation zu ändern. Dabei ist sicher, dass ein Großteil der Geflüchteten in Deutschland psychisch leidet: Drei von vier Geflüchteten gaben in einer Studie an, Gewalt erfahren zu haben. Die Gefragten kamen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. Jeder Fünfte wurde demnach gefoltert, etwa jeder Dritte hat einen Angehörigen verloren. Psychologinnen und Psychologen gehen davon aus, dass mindestens 30 bis 40 Prozent der Geflüchteten in Deutschland Anzeichen einer Depression zeigen und traumatisiert sind. Das heißt: Von den etwa 1,5 Millionen geflüchteten Menschen, die 2017 in Deutschland registriert waren, könnten rund 465.000 Personen eine Behandlung brauchen.

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"Ob jemand eine Therapie bekommt, hängt oft von Glück und engagierten Menschen ab"

Doch darauf sei das deutsche Gesundheitssystem nicht ausreichend vorbereitet, schreibt die Bundespsychotherapeutenkammer in einer Stellungnahme. Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge erhalte eine angemessene Behandlung. Zum Beispiel können Geflüchtete während der ersten 15 Monate in Deutschland meist nur dann zu einem Arzt, wenn es um ein akutes Problem geht, wenn sie zum Beispiel Masern haben oder sich einen Knochen gebrochen haben, eine Psychotherapie fällt oft nicht darunter. Psychische Probleme sind – zumindest aus Sicht der Behörden – kein Notfall. Dabei sind die Folgen, der Leidensdruck, oft viel schlimmer als die eines Knochenbruchs. Die Experten kritisierten das 2015 – geändert habe sich seitdem wenig.

"Ob jemand eine Therapie bekommt, hängt oft von Glück und engagierten Menschen ab", sagt Daniela Krebs von der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF). Denn die bürokratischen Hürden seien hoch: Um die Kosten einer Therapie erstattet zu bekommen, müssten die Geflüchteten mehrere Anträge stellen. Hinzu komme, dass Therapieplätze generell fehlen, egal woher die Patienten stammen. Außerdem hätten viele Psychotherapeuten keine Erfahrung mit Dolmetschern. Und oft ist unklar, wer die bezahlen soll.

Der Verein, für den Daniela Krebs arbeitet, vernetzt 41 Psychosoziale Zentren in ganz Deutschland. In diesen Zentren, zu denen auch Refugio gehört, arbeiten Psychologen, Ärztinnen, Sozialarbeiter und Dolmetscherinnen zusammen.

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Wie die Geflüchteten krankenversichert sind und welchen Aufenthaltstitel sie haben, spielt dort bei der Frage, ob sie behandelt werden, keine Rolle. Die Kosten dafür übernehmen die Krankenkassen allerdings meist nicht. Die Psychosozialen Zentren sind auf Spenden und Förderungen angewiesen. Doch davon würden sie nicht genug bekommen, sagt Krebs, und deshalb fehle es in ganz Deutschland an Plätzen: Mehr als 7.200 Menschen mussten die Psychosozialen Zentren 2017 ablehnen, im Schnitt warteten die Patienten sieben Monate lang, bis sie eine Therapie beginnen konnten. Zwar hätten die Psychosozialen Zentren etwa 28.400 Menschen versorgt, doch Krebs schätzt, dass das gerade einmal sechs Prozent der Bedürftigen sind.

Auch Calaa musste fast ein halbes Jahr warten, bis er Hilfe bekam. Ein Freund, den er auf seiner Flucht kennenlernte, brachte ihn zu dem Behandlungszentrum. Am Anfang, sagt Calaa, habe er nicht daran geglaubt, dass es ihm etwas bringen könne, darüber zu sprechen. "Aber es hat geholfen, dass jemand zuhört." Oft sei die Erinnerung an die Flucht immer noch schwer: die Bilder auf seinem Weg durch die Wüste, wo er einmal mit fast 30 Menschen auf der Ladefläche eines Jeeps gesessen habe, wo sie mit Seilen festgebunden gewesen seien, um nicht herunterzufallen, und wo ihm Staub und Sand ins Gesicht peitschten. "Wir wussten, wenn wir schreien, werden wir geschlagen. Aber manchmal dachten wir, es ist besser, geschlagen zu werden, bloß damit wir kurz stehen bleiben und unsere Beine bewegen können."

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Calaa Traumatherapie Flucht

Calaa hatte Glück: Er hat einen der begehrten Therapieplätze bekommen

Schleuser verkauften Calaa schließlich an ein libysches Gefangenenlager. Sich daran zu erinnern, fällt ihm besonders schwer. Das Auswärtige Amt nannte die Zustände dort "KZ-ähnlich". Calaa sagt über die Lager: "Für die Wärter war Schlagen dort so was wie für andere Leute Sprechen." Die meiste Zeit sei er zusammengekauert dagesessen, mit angewinkelten Beinen, den Kopf auf seinen Knien und die Wärter hätten ihn von hinten auf seinen Kopf geschlagen, manchmal so fest, dass der Stock davonflog. Sprechen sei verboten gewesen, fast zwei Monate habe er praktisch geschwiegen. Nur wenn keine Wärter in der Nähe waren, konnte er dem Gefangenen neben sich ein paar Sätze zuflüstern. Innerhalb von sieben Monaten habe er sich nur dreimal gewaschen. Für die 1.600 Menschen in der Halle, in der er gefangen gewesen sei, habe es nur zwei Toiletten gegeben. "In der Halle standen Autos. Als jemand einmal hinter einem aufs Klo gegangen ist, wurde er kopfüber aufgehängt, geschlagen und hat Elektroschocks bekommen." Auch er sei mit dem Gerät gequält worden: "Die Wärter verwendeten es wie Spielzeug. Wenn man nur an ihnen vorbeilief, konnte es passieren, dass man einen Schock bekam."

Einmal habe Calaa versucht zu fliehen. "Dann schossen die Wärter von den Dächern." Wieder seien Menschen neben ihm zu Boden gesackt und von den Kugeln gestorben. "Ich hatte Glück", sagt Calaa. Er sei am Leben und nicht verhungert, erschossen oder vergewaltigt worden, wie viele andere, die mit ihm in dem Lager gefangen waren.

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Das, was Calaa auf der Flucht erlebte, sei typisch, sagt seine Therapeutin Jenny Mika. Zumindest für einen Mann: "Bei Frauen kommt fast immer sexuelle Gewalt hinzu." Bis ihre Klienten über ihre Zeit in den Lagern und ihre Flucht sprechen können, dauere es oft Monate oder Jahre. Jenny Mika betreut an die 20 Geflüchtete, insgesamt kamen im vergangenen Jahr mehr als 2.300 Menschen in das Behandlungszentrum in München und seine Außenstellen in Landshut und Augsburg – und es könnten wohl noch mehr sein: Jedes Jahr gibt es laut Refugio fünfmal so viele Anmeldungen wie Plätze. Deshalb nimmt das Zentrum nur die schwersten Fälle auf. Ein Zehntel habe einen Selbstmordversuch hinter sich, ein Drittel sei selbstmordgefährdet.

All das hat Folgen: Für Menschen mit einer psychischen Erkrankung sei es schwieriger, Deutsch zu lernen, eine Arbeit zu finden und sich zu integrieren, sagt Daniela Krebs von der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Zentren. Weil die Geflüchteten mit ihren Traumata so belastet seien, dass sie sich häufig zurückziehen.

Calaa hat bloß einen Freund, der auch aus Äthiopien stammt. Er lernte ihn auf der Flucht kennen. Mit einer Gruppe ehrenamtlicher Paten geht Calaa manchmal joggen. Mit seiner Familie telefoniere er vielleicht einmal im Monat. Sein Vater arbeitet als Landwirt und sei in Äthiopien sicher, weil er sich nicht politisch engagiere. Mindestens 5.000 Euro habe er für Calaas Flucht bezahlt. "Immer wieder verlangten die Schleuser mehr", sagt Calaa. "Ich habe mich so geschämt, wenn ich bei meiner Familie anrufen musste, um nach noch mehr Geld zu fragen." Am Ende tat er es doch.

Im August 2015 sei er schließlich bei Nacht gemeinsam mit 500 Menschen auf ein Boot gestiegen. Es sei so voll gewesen, dass diejenigen, die ganz unten saßen, beinahe erstickten. Fünf Tage habe die Überfahrt nach Sizilien gedauert. Am 22. September 2015 kam Calaa in München an. "Am Anfang habe ich mir große Sorgen gemacht, wie mein Leben jetzt weitergehen soll", sagt er. Und oft könne er immer noch nicht gut schlafen. Trotz seiner Ausbildung ist unsicher, ob er in Deutschland bleiben darf. Alle sechs Monate muss er in der Ausländerbehörde seine Duldung verlängern. "Jedes Mal, wenn ich dorthin gehe, habe ich Angst."

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