Eine Mutter mit ihrem Kind auf der Nuevo Laredo International Bridge
Eine Mutter mit ihrem Kind auf der Nuevo Laredo International Bridge | Alle Fotos: Ulysses S. Romero

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Asylpolitik

Eine Nacht mit Asylsuchenden an der Grenze zwischen Mexiko und den USA

"Wir haben sehr viel Angst, aber wenn wir zurückgehen, verlieren wir unser Leben", sagt ein Vater. "Ich bin froh, dass wir so weit gekommen sind."

Seit 28 Stunden wartet Jesenia bereits mit ihren fünfjährigen Zwillingen auf der Nuevo Laredo International Bridge. Bei 36 Grad Celsius stehen, sitzen oder kauern ungefähr 70 Menschen auf der mexikanischen Seite der Brücke, die über den Rio Grande führt. Alle haben ein Ziel: Sie wollen Asyl in den USA beantragen – sie wissen nicht, wann und ob sie angehört werden.

"Sie haben heute morgen vier Leute nach vorne gerufen, das war alles", erzählt mir die 24-jährige Jesenia aus El Salvador, während ihr Sohn auf dem Boden schläft und ihre Tochter sich an ihr Bein klammert. Wie die meisten Leute, mit denen ich spreche, will sie ihren Nachnamen nicht nennen. Ihre tiefen Augenringe lassen vermuten, dass Jesenia seit Tagen nicht geschlafen hat. Trotzdem will sie so lange auf der Brücke bleiben, bis sie mit jemandem von der Einwanderungsbehörde sprechen kann. Umkehren ist für sie keine Option, denn sie ist sicher, dass ihr Ehemann sie umbringen würde. Die letzten sechs Jahre hat er sie im Haus eingesperrt, sie geschlagen und sie und ihre Kinder bedroht.

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"Ich hoffe einfach, dass sie uns durchlassen", sagt sie und schaut durch die Metallstäbe der Brücke auf den Kirchturm und die Geschäfte in Laredo, Texas.

In den vergangenen Wochen hat die US-Regierung hart gegen Asylsuchende durchgegriffen, die die Grenze zwischen Mexiko und den USA passiert hatten. Vor allem die Nachricht, dass Kinder von ihren Eltern getrennt wurden, sorgte weltweit für Empörung. Gleichzeitig macht es die US-Regierung Menschen zunehmend schwer, auf legale Weise Asyl zu ersuchen. Als US-Justizminister Jeff Sessions im Mai die "Null-Toleranz-Politik" bei der Einwanderung ankündigte, forderte er: "Wenn ihr in dieses Land kommt, tut das auf legalem Weg." Doch Asylsuchende, die sich an diese Aufforderung halten, müssen nun tage- und nächtelang vor den Grenzübergängen ausharren.

"Im Endeffekt gibt es den richtigen Weg gar nicht, um ins Land zu kommen", sagt Michael Seifert, der für die Nichtregierungsorganisation ACLU in Texas arbeitet. Seifert erzählt, dass Asylsuchende seit dem Beginn der Null-Toleranz-Politik nicht mehr im Bürogebäude der Zoll- und Grenzschutzbehörde warten dürften, bis ihr Anliegen bearbeitet wird, sondern draußen stehen müssten. "Somit sind sie gezwungen, auf mexikanischem Gebiet zu bleiben – und wenn sie keine mexikanischen Transit-Papiere besitzen, können sie deportiert werden, während sie warten", so Seifert.

Eine Gruppe Asylsuchender wartet auf der Nuevo Laredo International Bridge.

Eine Gruppe Asylsuchender wartet auf der Nuevo Laredo International Bridge | Bild: Ulysses S. Romero

Ein Sprecher des Grenzschutzes sagt mir, dass die Behörde "Reisende nicht davon abhalten oder entmutigen würde, Asyl oder Schutz zu suchen". Allerdings beschränke die Behörde momentan den Zugang zu ihren Räumlichkeiten, da diese voll ausgelastet seien.

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Doch für die Menschen, die sich auf der Nuevo Laredo International Bridge drängen, kann es sich so anfühlen, als wolle man mit dieser Wartezeit ihre Willenskraft, Schutz in den USA zu suchen, ein letztes Mal testen. Mehrere Asylsuchende erzählen mir, dass mexikanische Beamte versucht hätten, die Wartenden zu vertreiben.

"Mexikanische Beamte haben uns heute Früh von der Brücke verdrängt. Sie haben uns gesagt, dass die USA uns kein Asyl gewähren würde, wenn wir aus El Salvador oder Honduras stammen", sagt Jesenia. Dieses Vorgehen würde nicht den US-Richtlinien entsprechen. "Sie sagten, dass sie mit der Grenzpolizei zurückkommen würden, wenn wir nicht verschwinden. Also sind wir für 30 Minuten gegangen und dann zurückgekommen."


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Jesenia wir nervös, als ein anderer mexikanischer Beamter an diesem Abend zur Brücke kommt und die Namen der Menschen auf einem Zettel notiert. Der Beamte, der mir seinen Namen nicht nennen will, sagt mir, dass er nur festhalten möchte, wer die Brücke passiert. Von den Beamten vom Morgen wisse er nichts. "So weit ich weiß, gewähren die USA niemandem Asyl", sagt er. Das ist nicht korrekt: Die US-Regierung hat Richtlinien implementiert, die es Menschen erschweren, ins Land zu kommen. Aber sie haben nicht komplett aufgehört, Asyl zu gewähren.

Obwohl sie gehört haben, dass US-Beamte Kinder von ihren Eltern getrennt haben, halten Jesenia und die anderen Eltern auf der Brücke die Migration in die USA immer noch für die einzige Option, ihre Familien zu schützen.

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"Meine Familie rief mich aus El Salvador an, als ich schon auf dem Weg zur Grenze war und erzählte mir von den getrennten Familien. Das machte mir viel Angst – aber ich musste einfach auf Gott vertrauen, denn wir konnten nicht zurück", sagt Jesenia.

Drei Väter, die ebenfalls in der Schlange warten, sagen mir, dass sie erleichtert waren, als sie hörten, dass Familien nicht länger getrennt würden. Doch soeben haben sie erfahren, dass einer ihrer Freunde an der Grenze von seinem Kind getrennt wurde. "Wir haben sehr viel Angst", sagt Israel, einer der Väter, "aber wenn wir zurückgehen, verlieren wir unser Leben. Ich bin froh, dass wir so weit gekommen sind. Aber es besteht die Gefahr, dass wir zurückgeschickt werden."

Für eine Mutter aus Honduras und ihr Baby waren auch die letzten Momente, bevor sie die Brücke erreichte, gefährlich: Mitglieder der mexikanischen Gang Los Zetas fingen ihren Bus an der Haltestelle in Nuevo Laredo ab und verlangten von allen aussteigenden Passagieren Geld und Wertgegenstände.

"Wir haben fünf Monate gebraucht, um hierher zu kommen", sagt sie. "Uns ist das Geld ausgegangen, also mussten wir zwischendurch arbeiten, um weiterzukommen."

Während sie das sagt, brettert ein Boot der Grenzpatrouille unter der Brücke entlang. Die zwei bewaffneten Männer im Boot beobachten die Wartenden. Dann wendet das Boot, hält kurz an und rast wieder davon.

Die Nuevo Laredo International Bridge bei Nacht.

Die Nuevo Laredo International Bridge bei Nacht | Bild: Ulysses S. Romero

Es wird immer später. Die Kinder und Babys liegen inzwischen auf Kleiderhaufen mit Handtaschen als Kopfkissen und versuchen, die Neonbeleuchtung zu ignorieren. Freiwillige Helfer aus Laredo kommen mit Tortilla-Stapeln vorbei, die sie an die Hungrigen austeilen. Ein mexikanischer Straßenmusiker singt ein paar Pop-Songs und fragt Passanten auf der Brücke nach Kleingeld.

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"Mama, lass uns endlich gehen!", jammert die dreijährige Marigny und bricht dann in bitteres Schluchzen aus, das mehrere Minuten andauert. Schließlich lässt sie sich mit einem Kaugummi etwas beruhigen.

Kurz nach 22 Uhr springt die ganze Gruppe plötzlich auf, Eltern wecken ihre Kinder und rennen zum Anfang der Schlange. "Sie lassen mehr Leute rein!", ruft jemand. Doch 30 Sekunden später führen die Grenzbeamten ein paar Asylsuchende nach vorne und weisen alle anderen an, sich zu beruhigen und wieder zurückzutreten.

"Ich schätze, wir bleiben eine weitere Nacht hier", sagt Jesenia, ihre schlafende Tochter im Arm, eine Hand auf der Schulter ihres Sohnes, der am Brückengeländer spielt. Ihr einziges Gepäckstück liegt neben ihr – ein pinker Rucksack, darin dreimal Wechselkleidung für sie und die Kinder und eine Flasche Shampoo. "Wir konnten das Shampoo noch nicht benutzen – wir konnten uns seit Tagen nicht waschen."

Es wird immer ruhiger auf der Brücke, doch niemand von den Asylsuchenden gibt den Platz in der Schlange auf. Die meisten Wartenden stammen aus Honduras und El Salvador. Unter ihnen auch ein 28-jähriger Physiotherapeut aus der Ukraine, den alle anderen für einen Amerikaner halten, weil er Englisch spricht und nicht lateinamerikanisch aussieht. Er sagt, dass er seit 2013 von seiner Regierung verfolgt würde, weil er beobachtet habe, wie ein Polizist jemanden ermordete. "Ich habe mich erst in Israel versteckt, aber dort haben sie mich gefunden", erzählt er mir. Er sei nach Cancún geflogen, um von dort zur US-amerikanischen Grenze zu reisen. "Ich sorge mich um meine Mutter. Sie ist noch in der Ukraine und musste wegen mir viel leiden."

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Einige der Wartenden stammen aus Kuba. Unter ihnen die 70-jährige Primitiva Reyes, die zwei Jahre lang mit ihrem Sohn von Kuba über Süd- und Mittelamerika gereist ist, um die USA zu erreichen. Wenige Stunden nachdem sie die Brücke erreicht hatten, brach sie mit niedrigem Blutzucker zusammen. Sie wurde für mehrere Stunden in ein Krankenhaus gebracht, bevor sie an ihren Platz in der Schlange zurückkehrte.

"Ich dachte, ich hätte sie verloren. Ich habe geweint", erzählt mir Reyes' Sohn, Anibel Nuñes. Niemand sagte ihm, in welches Krankenhaus seine Mutter gebracht wurde. Darum machte er sich selbst auf die Suche und fand sie schließlich. "Wenn wir es in die USA schaffen, ist das ein Segen", sagt er.

Am nächsten Vormittag hat sich die Schlange bewegt. Jesenias Familie ist nun fast vorne angelangt. Obwohl sie eine weitere schlaflose Nacht hinter sich hat und mexikanische Beamte sie erneut aufgefordert haben, die Brücke zu verlassen, wirkt sie gestärkt. Ich frage sie, was sie sich für den Tag wünscht, und zum ersten Mal sehe ich sie lächeln. Sie sagt nur: "Ich wäre glücklich, wenn sie uns reinlassen würden. Dann hätten wir es geschafft."

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