Wir haben Cannabis-Kekse mit einer 80-Jährigen gebacken
Alle Fotos: Eva Luise Hoppe

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Drogen

Wir haben Cannabis-Kekse mit einer 80-Jährigen gebacken

"Bakerstreet" gegen die Schmerzen am Morgen und "Bediol" abends zum Einschlafen.

In einem Alter, in dem andere Feinwaagen höchstens zum Briefe-Wiegen benutzen, hat sich Brigitte Biesel eine für ihr Weed gekauft. "In der ZDF-Sendung Bares für Rares haben sie auch so eine", sagt die 80-Jährige, während sie konzentriert zermahlene Cannabis-Blüten der Sorte "Bediol" auf die flache silberfarbene Digitalwaage streut, als wäre es die finale Prise Thymian auf den Sonntagsrouladen.

Heute ist Backtag in Frau Biesels Köpenicker Reihenhäuschen, das jemand zwischen die Nachbarshäuser gesteckt hat, als wäre es eine Kulisse für Wes Andersons nächsten Film. 1936 zogen Frau Biesels Eltern hier ein. "Dit Erste, wat die hier jemacht haben, war ick", sagt sie. In den Wochen vor Weihnachten backte sie Vanillekipferl, Zimtsterne und viele andere Sorten, für Familie, Freunde und Bekannte. Heute backt sie ihre "Medikamente", wie sie sagt, oder einfach nur "die Kekse" – mit Cannabis aus der Apotheke und nur für sich.

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Brigitte Biesel will nicht bekifft auf der Couch die Welt ausblenden. Nicht ihr Ding, sagt sie. Im Gegenteil. Cannabis hilft ihr, am Leben teilzunehmen. Es macht ihre chronischen Schmerzen erträglich, hilft ihr, aus dem Bett zu kommen, damit sie für ihren Mann kochen kann, oder, um sich im Frühling in ihren kleinen Garten unter die Rhododendron-Sträucher zu setzen, wenn sie im März wieder rot, weiß und lila blühen. Frau Biesels Geschichte ist eine von Tausenden Patienten in Deutschland, bei denen die konventionelle Medizin scheitert, aber Cannabis hilft. Seit letztem Jahr ist Gras als Medizin legal, aber noch immer verschreiben es wenige Ärzte, übernehmen Krankenkassen nicht immer die Kosten. Bis Brigitte Biesel überhaupt ihren ersten Cannabis-Keks kosten konnte, musste sie vieles ertragen.

Seit 60 Jahren fühlt sich Brigitte Biesels Rücken an, als wäre er aus brüchigem Gips. Als sie 19 ist, kann sie die Rückenschmerzen nicht mehr ignorieren, die Ärzte diagnostizieren eine Skoliose – wahrscheinlich hatte sie sie schon von Geburt an. Ihre Wirbelsäule ist von hinten betrachtet nicht gerade, sondern eher wie ein S geformt. Damals entscheidet Brigitte Biesel, sie ist jung und will jetzt erst mal leben: Pfeif doch auf den krummen Rücken, denkt sie sich: "Nicht die Schmerzen bestimmen mein Leben, sondern ich."

Experimente in Ost-Berliner Krankenhäusern

"Ich hab' einfach alles gemacht", sagt sie. In ihren 20ern fährt sie Fahrrad, geht Schwimmen und läuft Ski. Sie arbeitet als Theaterschneiderin für die Revues am Friedrichstadt-Palast und bringt 1963 eine Tochter zur Welt. Doch mit Mitte 30 wacht sie eines Tages auf und spürt ihre linke Körperhälfte kaum noch. "Die linke Hand ging gar nicht mehr", sagt sie. Im Ost-Berliner Klinikum Herzberge schnallt man sie auf eine Pritsche und schiebt sie in einen OP-Saal. Grelles Licht, 20 Studenten, und zwei Professoren schauen auf sie herunter, als wäre sie die einzige Überlebende einer UFO-Notlandung. Keiner kann sich die Lähmung erklären. Zur Diagnose fehlen in der DDR Computertomographen. Die Alternative: eine Tortur. Bei vollem Bewusstsein schieben die Ärzte eine Hohlnadel in ihr Rückenmark, entziehen Nervenwasser, sie fällt in Ohnmacht. "Das ist wie Vierteilen, wissen sie?", sagt Frau Biesel. Der Grund für die Lähmung: Ihre Bandscheibe war raus, zwischen fünften und siebten Wirbel.

Fast 15 Jahre lebt Frau Biesel mit der Lähmung, bis es Mitte der 80er Jahre drei Ost-Berliner Ärzten gelingt, ihren Nacken mit einem Stück aus ihrem Hüftknochen zu stabilisieren. Sie kann ihre linke Körperhälfte größtenteils wieder spüren, der linke Zeigefinger ist aber noch heute steif. Die Ärzte dürfen ihre revolutionäre OP in Westdeutschland vorstellen – und kehren nie in den Osten zurück. "Dann hab ich die Nachsorge halt selbst erledigt und geschaut, dass die Narben gut heilen", sagt sie, ihr Haus habe sie schließlich auch alleine tapeziert.

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Doch weil Brigitte Biesel zwar keine Lähmung, aber immer noch Entzündungen in ihren Nervenbahnen hat, lebt sie weiter mit Schmerzen. Neue Ärzte pumpen sie mit Tabletten voll, auch fürs Herz. "Da haben wir was!", hätten die Mediziner immer wiederholt und hilflos in ihre Rezeptbögen gekritzelt. "Die starken Kracher", sagt Frau Biesel, bis heute gehe das so. In den USA hat eine ähnliche Praxis die aktuelle Opioid-Krise entfacht, aufgrund derer allein 2015 etwa 59.000 Menschen an Schmerzmitteln starben.

Auch Brigitte Biesel schaden die ganzen Medikamente mehr, als ihr zu helfen. Gegen die Nebenwirkungen bekommt sie mehr Pillen – und noch mehr Nebenwirkungen. Es gibt Medikamente, deren Nebenwirkungen erst bekannt sind, seit sie bei Frau Biesel auftraten. Anfang 2000 erleidet sie einen Schlaganfall. Die Medikamente haben außerdem ihren Darm verätzt und fingerkuppengroße Löcher in die Magenwand gefressen. Über 50 Mal lag sie in irgendwelchen Kliniken – es dauert eine halbe Stunde, bis sie ihre ganze Krankheitsgeschichte erzählt hat. Aber man muss sie sich anhören, um zu verstehen, warum hier auf dem Küchentisch dieser gepflegten alten Dame neben der Vase mit den frischen Tulpen ein kleiner Haufen Cannabis liegt.

Die Ärzte sind ratlos, aber ihr Enkel hat eine Idee

Vor eineinhalb Jahren kam ihr Enkel zum ersten Mal mit Weed-Keksen an. "Omi, das musst du probieren", habe er zu ihr gesagt. Nach kurzem Zögern habe sie die Kekse gegessen – wenn ihr Enkel etwas empfiehlt, wird es passen, dachte sie und schlimmer als die Medikamente kann es nicht werden. Eine halbe Stunde dauerte es damals, bis Frau Biesel fand: "Doch, das macht es erträglicher."

"Wissen Sie", sagt sie jetzt und es klingt, als würde sie von einem besonders schönen Traum erzählen, "die Schmerzen schaff' ich nie ganz weg. Aber wenn ich die Kekse gegessen habe, fühl' ich mich wieder leichter. Dann denk' ich nicht mehr daran, dass alles so weh tut, und bin auch nicht traurig." Auch gegen ihre Depression, mit der sie vor 15 Jahren nach einer Magen-OP erwachte und die bis heute blieb, würden die Kekse helfen, sagt sie. "Ich fühle mich wohler und bin beweglicher. Dann empfinde ich das alles als nicht so schlimm und schiebe mich durch die Gegend."

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Diese Geschichte entstand in Zusammenarbeit mit in.fused, dem Magazin für Gesundheit, Lifestyle und Cannabis. Die neue Ausgabe findet ihr am Kiosk oder könnt sie hier bestellen.


In Deutschland können sich unter anderem Patienten mit chronischen Schmerzen Cannabis verschreiben lassen, andere behandeln damit ihre Depression. Bis Ende des letzten Jahres haben mehr als 13.000 Menschen bei den drei größten Krankenkassen die Kostenübernahme ihrer Rezepte beantragt. Die Bundesregierung hatte nur mit 700 gerechnet. "Die sind ja ahnungslos", sagt Frau Biesel, die erst seit dem Vortag ein Privatrezept von einer Berliner Ärztin hat. In den eineinhalb Jahren zuvor hat sie ein Verwandter versorgt.

Um Cannabis legal zu bekommen, musste sie 160 Euro für die Sprechstunde bezahlen und weitere 110 Euro für ein Fläschchen mit 5 Gramm Cannabis – Frau Biesel hat es nachgewogen. Davon kann sie drei Mal Kekse backen, genug für zwei bis zweieinhalb Monate. Ein Kassenrezept könnte sie sich wahrscheinlich erstatten lassen, "aber die Ärzte machen da beide Ohren zu", sagt sie.

Viele Ärzte hätten aus Unwissenheit einfach Angst, Cannabis zu verschreiben, oder glauben nicht an die Wirksamkeit, sagt der Mediziner Franjo Grotenhermen, der sich seit 20 Jahren mit Cannabis befasst. Auch Frau Biesel erzählt, dass die Ärzte ihr eher Morphium verschrieben hätten: "Sonst fällt denen bei mir nichts mehr ein."

Die neue Ärztin habe ihr jetzt zwei Sorten medizinisches Cannabis verschrieben, "richtige Medikamente", seien das. Bakerstreet gegen die Schmerzen am Morgen und Bediol abends zum Einschlafen. Inhalieren wolle sie die Blüten nicht, vom Rauchen habe sie früher Durchblutungsstörungen bekommen, aber die Kekse seien ihr sympathisch. "Und zwei am Tag machen mich auch nicht fett." Dann schraubt sie die kleine Dose Bediol auf. "Wollen wir backen?"

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Frau Biesels Cannabis-Kekse – Das Rezept

Vorsichtig streut Frau Biesel Cannabis auf die Waage. Bei 1,47 Gramm nimmt sie noch eine Priese, jetzt zeigt die Waage 1,52 Gramm. "Nein, das ist zu viel!" Also nimmt sie wieder ein winziges Stücken weg, bis die Anzeige bei exakt 1,5 Gramm steht. Frau Biesel weiß: Bei Medikamenten muss man präzise sein.

Nicht alle Berliner Apotheken führen medizinisches Cannabis. Frau Biesels Mann muss dafür zu einer Apotheke am 17 Kilometer entfernten Alexanderplatz fahren. Deutschlandweit gibt es immer wieder Engpässe.

In der Küche mit der gemütlichen grünen Eckbank und Aquarellen von Vogelbeeren, Heckenrosen und Holunderblüten an der Wand breitet sich ein süßlicher Geruch aus: "Es gibt bessere Düfte", sagt sie. Das Rezept hat sie von ihrem Enkel. Er hat ihr außerdem noch ein Kochbuch mit Cannabis-Rezepten geschenkt. In den USA ist eine ganze Industrie um sogenannte Edibles entstanden. Alleine in Kalifornien lag deren Umsatz 2017 bei über 180 Millionen Dollar. Aber Frau Biesel mache lieber "08/15", sagt sie und das geht so:

Zutaten:

  • 1,5 Gramm Cannabis
  • 200 Gramm Mehl
  • 100 Gramm Butter
  • 50 Gramm Zucker
  • Teelöffelspitze Backpulver
  • Ein Eigelb

Frau Biesel verknetet alles zu einem Mürbeteig und lässt ihn in Klarsichtfolie mindestens eine Stunde durchziehen. Sie hat gestern schon einen Teig vorbereitet. Dann stellt sie eine kleine Pfanne mit einem Stückchen Butter auf den Gasherd. Auf kleinster Stufe rührt sie die gemörserten Blüten in die Butter, bis sich alles verbindet und der süßliche Duft noch intensiver wird. "Das zieht schon mächtig in die Nase. Aber das muss so sein", sagt sie. Während die Cannabis-Butter abkühlt, heizt sie den Gasofen auf 220 Grad vor. Dann verknetet sie die Cannabis-Butter mit dem Mürbeteig, bis er grüne Sprenkel bekommt. Am Ende zieht sie ihn durch die Ölreste in der Pfanne. "Alles verwenden, nichts verschwenden", sagt sie. Als Nächstes: Teig ausrollen. Gleichmäßig dünn, für gleichbleibende Wirkung. Dann greift Frau Biesel zum Schnapsglas – als Ersatz für die Backformen, weil die im Keller sind. Am Ende liegen genau 30 runde Plätzchen auf dem Blech, das für zwölf Minuten in den Ofen geht. Ein ganzer Monat weniger Schmerzen.

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Für die einen ist es Rauschgift, für die anderen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft

So wie es in Frau Biesels kleiner Küche nach Plätzchen duftet, könnte man in diesem Moment nicht weiter weg sein von mexikanischen Drogenkartellen, Legalisierungsdebatten oder polemisierenden CSU-Politikern, von denen Frau Biesel manchmal liest. Manche Leute hätten eben Vorurteile, sagt sie. "Die sagen, das ist Rauschgift. Aber die wissen nicht, was Schmerzen sind." Sie nehme nie so viel, dass sie einen Rausch hat, nur einmal habe sie das mit ihrem Enkel zum Spaß gemacht. "Wir saßen draußen im Garten und ich hab drei Kekse gegessen. Dann fühlte ich mich wie nach eineinhalb Gläsern Rotwein."

Letztes Jahr wurde bei ihr PNP festgestellt. Eine seltene Muskellähmung, bei der das Immunsystem gegen die eigenen Nerven kämpft. Manchmal machen Frau Biesels Beine nicht das, was ihr Kopf will, so als würden ihre Beine nicht mehr zu ihr gehören. Kein Medikament konnte die Symptome bislang lindern. "Die Ärzte sagen, wir haben nüscht", sagt sie. Ihre neue Ärztin sieht eine gute Chance, dass medizinisches Cannabis auch die Symptome ihre Nervenerkrankungen lindert. Dann könnte sie vielleicht auch von den Psychopharmaka runter: "Und wenn ich die nicht mehr brauche, kann ich vielleicht auch die Pillen absetzen, die ich für meine Magensäure nehme."

In den zwei Stunden in Frau Biesels Küche sagt sie kein einziges Mal Hasch, Weed, Gras oder irgendein anderes Wort, das Cannabis-Aktivisten oder aufgeregte Bierzeltbrüllhälse benutzen würden, um über ihr Lieblings- oder Hassthema zu sprechen. Warum auch? Schließlich geht es hier eigentlich nur um "die Kekse", die Frau Biesel helfen, ein besseres Leben zu führen, ganz ohne Nebenwirkungen. Und dann ist es doch eigentlich egal, was drin ist.

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