Ein Kleinkind mit Behinderung hält die Haare seiner Mutter
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Mutterschaft

Wie es ist, ein Kind mit Behinderung alleine großzuziehen

Ich fühle mich oft isoliert. Euer Mitleid brauche ich aber nicht.

Meine Schwangerschaft verläuft eigentlich problemlos. Mein Kind entwickelt sich gut, die Feindiagnostik ist unauffällig, und ich habe bis auf einige Panikattacken keine Beschwerden. Den ersten Tritt meiner Tochter spüre ich pünktlich in der 20. Woche. Sogar den errechneten Geburtstermin hält sie ein: Am 22. Oktober 2017 gegen Mittag kommt Klara auf die Welt. Doch schon einige Sekunden später erwartet mich der erste Schock: Die Hebamme untersucht mein Baby und sagt: "Ihre Tochter hat an der einen Hand eine Vierfingerfurche. Das kann Trisomie 21 bedeuten."

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Die Vermutung stellt sich als falsch heraus: Klara wird von der Ärztin untersucht, die keine weiteren Hinweise auf Anomalien feststellt. Dennoch wird mir zum ersten Mal etwas bewusst, über das ich bis dahin nie nachdenken musste: Ich reagiere auf die mögliche Behinderung meines Kindes nicht mit bedingungsloser Liebe und Gleichgültigkeit, sondern mit Angst und Unsicherheit. In meiner überheblichen Vorstellung habe ich immer gedacht, dass mir alles egal sei, solange mein Kind körperlich gesund ist. Doch als die Ärztin Trisomie 21 ausschließt, bin ich erleichtert. Bis sich zeigt, dass mit Klara vielleicht doch etwas nicht stimmt.

Klara ist vier Monate alt, als ich mit dem Verdacht zur Kinderärztin gehe. Sie hat bis dahin nicht versucht, sich zu drehen oder nach Spielzeug zu greifen. Dafür schläft sie viel und ist ein sehr ruhiges Kind. Zu ruhig? Die Kinderärztin sagt, ich solle mir nicht so viele Gedanken machen. Jedes Kind habe seinen eigenen Rhythmus. Doch ich bestehe darauf, Klara in die Physiotherapie zu schicken. Sie soll spielerisch lernen, sich zu drehen und ihren Körper zu spüren.

"Klara wird vielleicht nie alleine laufen können"

Dort wird klar: Klara hat einen niedrigen Muskeltonus, auch muskuläre Hypotonie genannt. Sie wird immer motorische Schwierigkeiten haben und vielleicht nie alleine laufen können. Auch drei Monate nach Therapiestart gibt Klara keine Silbenlaute von sich und zeigt weder Interesse an ihrem Spielzeug, noch an ihrem Umfeld. Von Anfang an ist sie vor allem auf mich fokussiert, lächelt mich an und quiekt. Doch selbst der Kinderärztin fällt nun bei der Untersuchung auf, dass Klaras Entwicklung tatsächlich verzögert ist. Als Klara schlaff daliegt und kaum reagiert, wirkt die Ärztin nervös. Dann schreibt sie mir die Nummer des sozialpädiatrischen Dienstes auf, der herausfinden soll, was genau mit Klara los ist.

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Ich realisiere zum ersten Mal, dass mein Kind eine Behinderung hat

Bis dahin lebe ich in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung im Prenzlauer Berg in Berlin. Ich habe viele Freundinnen, die mich in der Situation unterstützen. Als das Start-up, bei dem ich arbeite, Insolvenz anmeldet, ziehe ich allerdings zurück in meine Heimat Saarbrücken. Ich möchte näher bei meiner Familie sein. Hier kann ich auch eine größere Wohnung mit Aufzug und eigenem Zimmer für Klara beziehen. Weil Klara sich weiterhin sehr langsam entwickelt, beantrage ich Pflegegeld und Hilfsmittel wie einen Badesitz, einen Rehabuggy und einen Therapiestuhl. Kurz vor ihrem ersten Geburtstag bewilligt die Krankenkasse den Antrag. Mir wird klar, dass mein Kind eine Behinderung hat. Und es tut weh.

"Ich merke, dass man bedingungslose Liebe manchmal erst lernen muss."

Ich trauere um das Kind, das ich nie haben werde, und merke, dass man bedingungslose Liebe manchmal erst lernen muss. Ich finde mein Leben und meine Tochter nicht immer inspirierend. Manchmal bin ich einfach nur traurig oder genervt. Ich muss in diese Situation hineinwachsen. Und das ist OK. Selbstverständlich liebe ich mein Kind, wie es ist. Dennoch: Würde jemand kommen und Klara "heilen", ich würde Ja sagen. Das macht mich nicht zum Monster.


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Jeden Tag muss ich Klara fördern, jeder kleine Fortschritt in ihrer Motorik ist ein wochenlanger Lernprozess. Andere Kinder entdecken die Welt; Klara liegt auf dem Rücken. Andere Kinder planschen im Becken; Klara braucht einen Badesitz. Sie selbst stört das wenig. Sie kennt es nicht anders. Obwohl sie mental aufgeweckt wirkt und jeden mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln anstrahlt, wird immer klarer, dass sie nicht nur körperlich, sondern auch kognitiv beeinträchtigt ist.

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Es hilft nicht, wenn ihr mir erzählt, wie spät euer Kind laufen gelernt hat

Alleine ein Kind mit Behinderung großzuziehen, isoliert. Ich merke, dass Klara weniger Fortschritte macht als die jüngeren Kinder in Krabbelgruppen oder bei Freunden. Ich kann nicht mitreden, wenn andere Mütter erzählen, wie anstrengend es ist, wenn das Kind ständig nach Mama ruft oder durch die Wohnung rennt und alles in den Mund nimmt. Und ich möchte oft weinen und schreien, wenn sie stolz erzählen, wie toll der Nachwuchs mithilft, spricht, tanzt, läuft, liest oder malt. Manchen ist es unangenehm, wenn ich ihnen sage, dass mein Kind all das nicht kann und vielleicht auch niemals können wird. Doch Mitleid und peinliche Berührtheit machen es für mich oft noch schlimmer.

Ich habe mich aus der Mama-Community zurückgezogen, weil mir diese Reaktionen unangenehm sind. Ich wünsche mir mehr ehrliches Interesse an Klara selbst, statt über ihre Fähigkeiten reden zu müssen. Und manchmal würde ich mich auch einfach freuen, wenn andere Eltern mich nach meinem eigenen Alltag fragen würden. Ich wünsche mir auch mehr Ehrlichkeit von meinen Freundinnen, die selbst Kinder haben. Ich bin niemandem böse, wenn er offen zugibt, froh über sein neurotypisches Kind zu sein. Aber es bringt mir nichts, wenn jemand sagt: "Mein Kind hat auch erst spät laufen gelernt." Das ist nicht das Gleiche.

"Eine Behinderung zu haben, bedeutet in vielen Fällen auch Armut und soziale Isolation."

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Die Zukunft meiner Tochter ist ungewiss: Wahrscheinlich wird sie keine reguläre Schule besuchen, nie einen Job haben und auch im Erwachsenenalter Hilfe brauchen. Viele Erwachsene mit Behinderung müssen Grundsicherung beantragen. Sie können in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen arbeiten. Die 200 Euro, die sie in Vollzeit höchstens verdienen, werden allerdings zu der Grundsicherung angerechnet. Eine Behinderung zu haben, bedeutet in vielen Fällen auch Armut und soziale Isolation. Und auch ich weiß nicht, ob ich neben Klaras Pflege wieder regulär arbeiten kann. Ob ich wieder einen Partner finden werde, ob Klara jemals ausziehen wird oder ob ich mich jedes Mal schuldig fühlen werde, wenn sie alleine ist.

eine frau schiebt einen kinderwagen und ein kind liegt auf einer decke

Es ist nicht so, dass Klara und ich ein von Ängsten und Leid geprägtes Leben führen. Wir lachen viel. Klara verzaubert die Menschen um sich herum mit ihrem liebenswerten und zarten Wesen. Meine Familie unterstützt mich. Wenn wir können, gehen wir ins Schwimmbad, spazieren oder ins Café Kuchen essen. Ich musste mich vielleicht davon verabschieden, mit Klara zusammen meine alten Lieblingsbücher zu lesen oder mit ihr draußen zu toben. Unglücklich bin ich dennoch nicht. Ich habe Zeit für mich, wenn Klara schläft, und versuche, mit Freundinnen auszugehen und mich von schlechten Gedanken abzulenken. Ich bin Mitglied in einigen Online-Selbsthilfegruppen für Eltern mit Kindern, die eine Behinderung haben.

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Menschen mit Behinderungen dürfen in der Gesellschaft nicht unsichtbar bleiben

Ich wünsche mir, dass Menschen wie Klara in ihrem Leben mehr Akzeptanz erfahren. Dass sie sich barrierefrei durch die Stadt bewegen können und ihre Eltern nicht für jedes Hilfsmittel gegen die Krankenkasse kämpfen müssen. Aktuell werden Menschen mit Behinderungen und ihre Familien an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Dem Verein Indiwi zufolge gibt es in Deutschland rund neun Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung. Doch allein die Hälfte aller deutschen Bahnsteige ist nicht barrierefrei, und nur zwei Prozent aller Allgemeinarztpraxen haben eine für Patientinnen mit Behinderung zugängliche Toilette.

In der Gesellschaft werden Behinderungen selten thematisiert. Meistens kommen Menschen mit Behinderungen nicht zu Wort. Das schließt sie aus und macht sie unsichtbar. Und gibt Menschen ohne Behinderung keine Chance zu lernen, wie sie damit umgehen sollten. Ich erwarte von niemandem, dass er zusammenzuckt, wenn er von Klaras Behinderung hört. Im Gegenteil: Wir brauchen den Dialog, wir brauchen mehr Anerkennung für Menschen, die sich der Pflege ihrer Angehöriger widmen. Finanziell und emotional.

Ich bekomme zusätzlich zu meinen monatlichen Bezügen 316 Euro Pflegegeld im Monat. Arbeiten oder gar eine Ausbildung anfangen kann ich momentan nicht. Meine Arbeit mit Klara wird nicht als solche anerkannt, Hilfsmittel gibt es oft erst viele Monate nachdem ich sie beantrage. Ich habe von vielen Eltern gehört, die erst vors Sozialgericht ziehen mussten, damit ihr Antrag auf ein Pflegebett bewilligt wird. Und durch den Pflegenotstand ist es ungewiss, ob jemand mich ersetzen könnte, wenn ich selber einmal ins Krankenhaus müsste.

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"Ich habe durch die Behinderung meiner Tochter viel über mich selbst gelernt."

Klara ist heute 17 Monate alt und hat bisher keine verbalen Fortschritte gemacht. Sie brummt und quiekt, aber spricht nicht. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass sie irgendwann verbal kommunizieren kann. Aber warum das so ist, weiß ich auch nach unzähligen Bluttests, mehreren Krankenhausaufenthalten oder einer Messung ihrer Gehirnaktivitäten nicht.

Ich habe durch die Behinderung meiner Tochter viel über mich selbst gelernt. Das eigene Ego existiert auch, wenn man ein Kind bekommt. Viele Eltern definieren sich darüber, was und wie gut ihr Kind lernt und wie toll sie es erzogen haben. Wenn ich Eltern über ihre Kinder sprechen höre, geht es oft nur darum, wie klug sie sind oder wie weit sie anderen voraus sind. Und wer weiß: Vielleicht wäre ich auch so eine Angebermutti geworden, hätte mir die Natur nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht.

So bin ich befreit von diesen Wertungen und kann Klaras liebenswerte Art auch ohne Wettbewerb genießen. Meine Familie und ich freuen uns über jeden ihrer Fortschritte und versuchen, ihr eine möglichst sorgenfreie Kindheit zu ermöglichen. Und das ist am Ende wichtiger als alles andere.

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