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Vergewaltigt oder in die Prostitution getrieben

Das Kafala-System im Libanon zwingt knapp 250.000 Frauen zu stillschweigender Sklaverei und Zwangsprostitution. Wenn es keine Fluchtmöglichkeit mehr gibt, ziehen viele Frauen als letzten Ausweg den Selbstmord in Betracht.

Eine äthiopische Hausangestellte beim Wäscheaufhängen auf einem Balkon in Beirut. Foto von AP/Grace Kassab

Elhanan* ist eine 24-jährige Äthiopierin mit breiten Schultern, kurzen schwarzen Haaren und faltenumkräuselten Augen. Vor fünf Monaten ist sie in den Libanon gekommen, um eine Anstellung als Dienstmädchen zu anzutreten. Ihr war ein Monatsgehalt von 145 Euro versprochen worden, und sie sollte in ihr Heimatland zurückzukehren können, wenn ihr die Arbeit nicht gefällt. Als sie in dem Haus in Beirut angekommen war, nahm ihr der Arbeitgeber jedoch den Pass weg. Wenn seine Frau und die Kinder aus dem Haus waren, vergewaltigte er sie oft. „Ich habe ,Nein, Herr‘ gesagt“, erzählte mir Elhanan in einem Büro in der Nähe eines Versteckes in einem Vorort von Beirut. „Ich habe immer ,Nein, Herr‘ gesagt. Aber er hat gedroht, mich umzubringen.“ Tausende ausländische Hausangestellte im Libanon sind Teil dessen, was in der arabischen Welt als Kafala-System bekannt ist. Es erlaubt Menschen aus umliegenden Regionen, in arabische Staaten zu emigrieren und dort für höhere Löhne als in der Heimat zu arbeiten. Die entsprechenden Arbeitskräfte werden in vielen Branchen eingesetzt, besonders aber auf dem Bau und als Hausangestellte. Über die Arbeitsbedingungen an Orten wie Katar und der Vereinigten Arabischen Emirate wurde weitgehend berichtet. Die Vereinbarung ermächtigt Arbeitgeber im Libanon wie in anderen Ländern, den Arbeitnehmern den Pass wegzunehmen, ihren Lohn einzubehalten und sie in einer Art Vertragsknechtschaft zu halten. Es gibt mehr als 250.000 weibliche Hausangestellte im Libanon, die vor allem aus Äthiopien, Bangladesch und auch von den Philippinen kommen. Auf sie warten zusätzliche Gefahren. Denn das System zwingt diese Frauen nicht nur in eine Art stillschweigende Sklaverei, sondern begünstigt zudem sexuelle Gewalt und Zwangsprostitution, wie sowohl von Seite der Angestellte als auch von Menschenhändlern berichtet wird. Najla Chahda, Leiterin des Caritas Lebanese Migrant Center (CLMC), einer NGO, die Hausangestellte im Libanon unterstützt, sagt, dass einige Frauen von ihrem Arbeitgeber vergewaltigt oder sexuell missbraucht werden. Darüber hinaus sei es jedoch auch verbreitet, dass Gangs bessere Arbeitsbedingungen versprechen, um Frauen dazu zu bringen, den missbräuchlichen Haushalt zu verlassen. Wenn sie dies jedoch vor dem vertraglich vereinbarten Termin tun, verlieren sie ihr Aufenthaltsrecht. „Das Rechtssystem muss verbessert werden“, sagt  Chahda. „Die Frauen werden durch häusliche Gewalt in die Hände von Menschenhändlern getrieben.“ „Lass mich erklären, wie es funktioniert“, sagte der 26-jährige Ali, der einer libanesischen Gang angehört und in Schatila lebt, einem palästinensischen Lager im Süden von Beirut, zu dem libanesische Behörden keinen Zugang haben. „Ich nehme 30 Dollar für eine Philippinerin und 20 Dollar für eine Äthiopierin. Du gibst mir das Geld und ich mache den Anruf.“ Ali sagt, dass die Frauen die Kunden oft neben einem Fastfoodrestaurant namens Hamra treffen, dem kosmopolitischsten Stadtteil im westlichen Beirut. Um nicht mit der Polizei zusammenzustoßen, bleibt er selbst in Schatila und verlässt sich auf ein Netzwerk von Taxen, mit denen die Frauen ausgefahren werden.   Taxen sind das wichtigste Verkehrsmittel im Libanon. Da Fahrer nur zweitausend libanesische Pfund (1 Euro) pro Fahrgast nehmen, stellt das Ausfahren von Frauen einen lukrativen Nebenverdienst dar. „Taxifahrern ist das Gewerbe nicht fremd“, sagte Ghada Jabbour, Leiterin des KAFA, einer libanesischen NGO, die sich gegen Gewalt gegenüber Frauen einsetzt. „Allzu oft ist die erste Frage, die Ausländer dem Taxifahrer stellen, wo sie Mädchen finden können.“ Genau diese Fragen hört Castro, ein 40-jährige Taxifahrer, ständig. Castro verdient durch den Transport von Frauen 200 Dollar pro Woche. Obwohl ihn viele von sich aus gefragt haben, gibt er zu, dass er auch schon Kunden für die Menschenhändler geworben hat. „Einige der Mädchen aus dem Ausland hatten keine Wahl“, erzählte mir Castro kettenrauchend in seinem Schlafzimmer in Schatila. „Auch wenn sie keinen Sex wollten, was blieb ihnen anderes übrig? Sollen sie zur Polizei gehen?“ Aufgrund der fehlenden Aufenthaltserlaubnis werden Hausangestellte, die sich an die libanesische Polizei wenden, verhaftet und zuweilen so lange weiter missbraucht, bis ihr ursprünglicher Bürge für ihre Abschiebung bezahlt. Wenn es keine Fluchtmöglichkeit mehr gibt, ziehen viele Frauen als letzten Ausweg den Selbstmord in Betracht. Gemäß eines 2008 veröffentlichten Berichts von Human Rights Watch starben im Libanon von Januar 2007 bis zur Veröffentlichung des Berichts ungefähr 95 Hausangestellte eines unnatürlichen Todes. Vierzig von ihnen begangen Selbstmord. Wenngleich seit dem Bericht keine endgültigen Zahlen veröffentlicht wurden, berichten Anwälte im Libanon, dass es noch immer häufig zu Todesfällen kommt. Nachdem Elhanan im Büro ihrer Personalagentur Zuflucht gesucht und um Hilfe gebeten hatte, war sie an den Haaren gepackt und stundenlang geschlagen worden, bevor sie wieder zurück zu ihrem Arbeitgeber gebracht wurde. Am nächsten Tag nahm sie sich ein Küchenmesser und schloss sich im Wohnzimmer ein. „Madame hat es nicht zugelassen“, sagte Elhanan, als sie mir die Narben an ihrem Handgelenk zeigte. Die Hausherrin schaffte es, die Tür aufzustoßen und ihr das Messer wegzunehmen. Doch auch sie war nicht unschuldig an Elhanans Misshandlung. Mit zwei Kindern im Haus und einem unzureichenden Netzwerk habe „Madame“ gewusst, dass Elhanan vergewaltigt wurde, aber Angst gehabt, etwas zu sagen. Tage nach ihrem Selbstmordversuch begann Elhanan, kurze Spaziergänge im Viertel zu unternehmen, wenn sonst niemand im Haus war. Eines Morgens traf sie eine andere Äthiopierin auf der Straße und flüsterte ihr zu, dass sie Hilfe brauche. Die Frau winkte sofort ein Taxi heran und ließ sie zur äthiopischen Botschaft fahren. Heute lebt Elhanan in einem sicheren Unterschlupf in einem Vorort von Beirut. Mit Hilfe der CLMC hat sie Anklage gegen ihren Bürgen erhoben und wartet auf einen Gerichtstermin im nächsten Monat. Doch auch wenn sie ihre Gerechtigkeit verfolgt, hat sie wenig Hoffnung, dass sich die Bedingungen für eingewanderte Hausangestellte verbessern.   „Wie wär’s mit einer Philippinerin für 20.000 libanesische Pfund [10 Euro]“, sagte Ali, das Gangmitglied, während er mir sein Gewehr in der Ecke des Schlafzimmers zeigte. „Sie wird keinen Widerstand leisten—das verspreche ich.“