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Campus, Sex und Ravioli

Wie es ist, in der grössten WG von Zürich zu leben

Jassrunden, gemeinsames Fahrrad reparieren und Partys stürmen sind nur einige Aktivitäten in der 38er-WG von Zürich.
Foto von Alex Popert

Bild von Alex Popert; Flickr; CC BY-SA 2.0

Alex wohnt mit 37 anderen in einer WG im Zürcher Kreis 1. Das Haus gehört der WOKO, ist also für Studenten gedacht. Deshalb wechseln die Mitbewohner auch regelmässig, wenn mal wieder jemand sein Studium abgeschlossen oder abgebrochen hat. Geselligkeit ist wahrscheinlich die wichtigste Eigenschaft, die man als Mitbewohner mitbringen muss.

Heute geht's früh los. Tobi und ich turnen um 10:00 Uhr morgens im Treppenhaus herum und hängen ein Kletterseil auf, um ein Netz zu spannen. Für den Fall, dass jemand runterfällt. Ist eigentlich noch nie passiert, die Leute wissen sich an Partys ja bekanntlich zu benehmen. So dient das Kletterseil denn auch mehr der Dekoration. Und diese ist aufwändig. Farbige Pilze verzieren die Wände, eine gigantische Spinne hängt an der Decke. Wir sind 38 Leute in der WG, und fast jeder hilft irgendwo mit. Jeder sollte maximal fünf Freunde einladen, so kommen die 200 Gäste für unser Hausfest zusammen.

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Alice

Tobi grüsst Alice, die das Haus mit grossem Rucksack verlässt. Sie geht übers Wochenende zu Freunden ins Asyl, um dem Rummel zu entkommen. Alice mag lieber Jassrunden am Abend. Wenn sie da ist, lässt sie ihre Zimmertür offen und jeder darf auf Kaffee und Kuchen kommen. Sie hat bei weitem das grösste Zimmer, mit einem richtigen Klavier drin. Manchmal spiele ich darauf während sie für die Uni lernt.

Alice studiert Veterinärmedizin. Im Sommer war sie drei Monate zum Kühe hüten auf der Alp und hat die ganze WG zu sich eingeladen. Viele von uns schauten mal vorbei. Es gab selbstgemachte Butter und Rohmilchkäse vom Alpöhi nebenan. Und Jassrunden.

Jassen, Elektro und unsere lieben Nachbarn

Jassen gehört zu den Dingen, die wir auch mit Nachbarn tun können. Wir haben schon mit Herrn Schellenhauser* auf der Dachterrasse gejasst, stundenlang, mit Elektromusik. Von Nahem findet der Herr Schellenhauser die Musik nämlich gar nicht so schlecht. Bloss in seinem Haus, wo man nur noch den Bass hört, da mag er es nicht so, vor allem zu später Stunde. Dann kommt es auch mal vor, dass er eine SMS ans Haustelefon sendet. „Bitte leiser sein, ich möchte schlafen, Gruss, Schellenhauser."

Bild von Alex Popert; Flickr; CC BY-SA 2.0

Etwas problematischer sieht es der Herr Hefti*, welcher auch nebenan wohnt. Bei Hausfesten geht es ihm jeweils einfach zu lange. Er versteht schon, dass wir einmal pro Semester ein Fest machen wollen. Aber dass die WG ausgerechnet im Kreis 1 sein muss, findet er suboptimal.

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Für die meisten Nachbarn ist unser heutiges Fest aber kein Problem. Der Herr Burri* hat uns sogar eine Flasche Wein mitgebracht und viel Spass gewünscht. Er hat selber Kinder über 18, wahrscheinlich sind die heute auch gekommen. Es ist schwer, den Überblick über alle Gäste zu bewahren.

Partys kapern

Ich schaue nervös aufs Hausnatel. Heute habe ich das ehrenvolle Amt erhalten, die Leute reinzuschicken, welche vor dem Haus stehen und Radau machen. „Bitte benehmt euch. Wir wollen heute lange feiern und das geht nur, wenn draussen kein Lärm ist. Geht bitte ins Haus." Bis 1:00 Uhr müssen die Nachbarn noch durchhalten, danach spielen wir nur noch im Keller Musik. Ein Klebeband am Mischpult limitiert die maximale Lautstärke. Und die haben wir im Soundcheck mit Herrn Hefti* ausgehandelt.

Derweil proben Corneel und Xavier ihren Song zum letzten Mal. Sie sind leidenschaftliche DJs, heute wollen sie aber auch eine kleine Rap-Einlage machen. Ein passendes Publikum haben sie: Die Stimmung ist ausgelassen, die meisten sind verkleidet gekommen.

Wir haben im Haus drei DJs, die auch in Clubs auflegen. Deshalb passiert es auch ab und zu, dass eine Party in einer anderen WG von uns „gekapert" wird. Wenn jemand von unserer WG auflegt, wirkt sich das auch auf die Zusammensetzung der Gäste aus: Die meisten gehören zu uns.

Generell unternehmen wir als WG viel zusammen. Als wir einen Kletterausflug nach Griechenland planten, war es für uns selbstverständlich, alle Mitbewohner zu fragen, ob sie mitwollen. Denn es soll eigentlich keine Untergrüppchen in der WG geben. Das ist auch der Grund, warum wir uns nicht als Studentenheim fühlen sondern als richtige WG. Natürlich kennen sich die einen besser als die anderen, denn es können ja nicht alle 38 Mitbewohner engste Freunde sein. Bei Aktivitäten ist jeder willkommen, seien es Ferien, ein spontanes Essen, Baden gehen oder für die Uni lernen. Manchmal reparieren wir zusammen auch alte Fahrräder, die dann von allen benutzt werden können.

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Vom Kloster zum Studentenheim

Früher wohnten hier Nonnen. Heute gehört das Haus der Stadt, die es der Woko vermietet. Und die vermietet es dann an Studenten weiter. Obwohl wir nicht so heilig sind wie Kirchenschwestern: Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist geblieben. Es wird durch die Struktur des Hauses begünstigt: Jeder hat sein Zimmer, wir teilen uns aber zwei grosse Küchen, ein Wohnzimmer, ein Gästezimmer und eine Dachterrasse mit schon fast asozial schöner Aussicht. Wer zum ersten Mal hoch kommt, schiesst normalerweise erst mal ein Foto.

Yasmine meint: „Die Dachterrasse ist ein Luxus, das streitet niemand ab. Aber guck doch mal in der Nachbarschaft rum, wann werden all die Dachterrassen jemals benutzt? Einmal in der Woche vielleicht, denn nur die obersten Wohnungen haben Zugang. Bei uns hat das ganze Haus Zugang, und weil wir oft Gäste haben, profitiert eine riesige Anzahl Leute. Das ist doch fair, oder?"

Bild von Alex Popert; Flickr; CC BY-SA 2.0

Wichtig für das Zusammengehörigkeitsgefühl ist auch das Casting, wenn ein Zimmer frei wird. Ein Komitee bereitet das Casting vor, macht die Ausschreibung und wählt ein paar Kandidaten aus, welche dann eingeladen werden. Beim Casting kann jeder Mitbewohner mitreden. Unsere WG soll möglichst durchmischt sein in punkto Studienfach, Kultur und Geschlecht. Eines aber muss gegeben sein: Die Leute müssen auf andere zugehen können. Ohne eine gewisse Offenheit kann man bei uns vereinsamen. So eine grosse WG ist nicht Jedermanns Sache.

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Die Ineffizienz von Kleinfamilien

Um fünf Uhr morgens sind die meisten heimgegangen. Die Verbliebenen feiern umso mehr. Jetzt ist endlich Platz für die ausgefallensten Moves. Ingmar ist der letzte DJ. Seine Schicht ist eigentlich schon vorbei, aber die Musik ist einfach zu gut. Im Liedwechsel fährt er die Lautstärke hoch. Die Leute gehen mit. Der Kleber am Mischpult, der zur Markierung der Maximallautstärke, reisst. Das Haustelefon ist irgendwo in Anninas Tasche. Morgen wird es einiges aufzuräumen geben.

Dabei helfen alle mit. Auch die, die keine Ahnung von Ämtli und Hausarbeit haben. Die gibt es bei uns nämlich auch. Als einer dieser Kandidaten zum ersten mal die Küche putzte, fühlte ich mich wie in einem Quiz à la „Finde den Unterschied". Aber irgendwann zieht es jeden mit und mit ein bisschen Flexibilität und Kommunikation pendelt sich der allgemeine Sauberkeitsstandard immer auf einem akzeptablen Niveau ein.

Bild von Alex Popert; Flickr; CC BY-SA 2.0

Man muss halt einfach zusammenleben können. Dafür ist der Mensch doch geschaffen, oder nicht? Die Idee der Kleinfamilie ist evolutionstechnisch völlig neu und ineffizient. Eigentlich sollten auch Familien in WGs leben. Mehrere Familien hätten ihre eigenen paar Räume, aber eine grosszügige Küche und ein Wohnzimmer wären gemeinschaftlich nutzbar.

Fisnik ist skeptisch. „Verwandte von mir leben als Grossfamilie zusammen. Da gibt es ständig Auseinandersetzungen wegen irgendwelchen Kleinigkeiten." Die zwischenmenschliche Komponente ist wichtig in solchen Unterfangen. Luca ist weniger skeptisch. „Sowas gibt's doch schon! Gewisse Wohngenossenschaften in Zürich unterstützen genau solche Modelle." Freunde von ihm wohnen in so einer Wohngemeinschaft. Auch Telmo ist hell begeistert. „Stell dir vor, deine Kinder wachsen mit anderen Kindern auf und ihr könnt euch das Kinderhüten viel besser aufteilen!"

Das Thema macht uns aber auch ein bisschen traurig. Es macht uns bewusst, dass unsere Zeit hier eben doch befristet ist. Wer fertig mit dem Studium ist, bekommt eine Notiz, er müsse sich innerhalb von vier Monaten etwas Neues suchen. Auch ich bin in einem Jahr fertig. Aber ich weiss: Etwas in dieser Art will ich später wieder haben.

ViceSwitzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland