Wir haben mit Berlinern gesprochen, die in Zelten überwintert haben

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Obdachlose

Wir haben mit Berlinern gesprochen, die in Zelten überwintert haben

"Die Kälte ist nicht das größte Problem. Sondern der Mangel an Respekt. Ein Typ hat schon einmal mein Zelt aufgemacht und mich angepinkelt."

Die Zelte der Obdachlosen stehen mitten im Regierungsviertel – am Ludwig-Erhard-Ufer gegenüber dem Berliner Hauptbahnhof. Die Menschen müssen sich nur umdrehen, um den Bundestag zu sehen – wo die Politiker darüber streiten, was Deutschland mit dem Haushaltsüberschuss von 24 Milliarden Euro machen soll.

Zelte am Ludwig-Erhard-Ufer | Alle Fotos: Lisa Ziegler

Die anderen Zelte in Berlin stehen an weniger symbolischen Orten, am Spreeufer, unter Brücken, in Parks. Und es kann sein, dass wir in den nächsten Jahren immer mehr von ihnen sehen werden – nicht nur in der Hauptstadt.

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Ein Zelt am Ludwig-Erhard-Ufer

Die Anzahl der Wohnungslosen in Deutschland steigt. 2010 hatten 248.000 Menschen keinen festen Wohnsitz, heute sind es 335.000. Die meisten davon sind Männer, auch 29.000 Minderjährige sind wohnungslos. Und laut der Prognose der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe könnten 2018 schon 536.000 Menschen in Deutschland in Notunterkünften und auf der Straße leben – oder eben in Zelten.

Zelte unter einer Brücke in Berlin

Aber wie kann man den Menschen helfen, die darin wohnen? Darf man bei ihnen anklopfen und eine Decke vorbeibringen – oder ein heißes Getränk? Oder ist das schon ein Eingriff in ihre Privatsphäre? Schließlich hätte man selbst keine Lust, von Fremden in seinem Zuhause gestört zu werden. Wir haben sie gefragt – und uns auch ihre Geschichten erzählen lassen.

Menzo, 42, zeltet am Ludwig-Erhard-Ufer im Regierungsviertel

Vorher habe im Tiergarten gewohnt, aber dort räumt die Polizei ständig die Zelte. Hier sind Vero und ich schon seit einer Woche und wurden bisher in Ruhe gelassen. Unsere Nachbarn haben erzählt, dass sie immer wegmüssen, wenn es eine Großveranstaltung in Berlin gibt. Aber ein paar Tage später sind die meisten wieder da. Die Polizei gibt häufig eine Stunde, um den Besitz einzupacken. Dumm ist es nur, wenn man gerade nicht da ist – dann schmeißen sie einfach alles weg. Aber im Zelt ist es immer noch besser als in den Unterkünften. Hier hat man noch ein bisschen Würde und Privatsphäre. In Holland, wo ich herkomme, hatte ich ein eigenes Haus mit meiner Frau, die ich damals für die Liebe meines Lebens hielt. Aber sie war heroinabhängig, hat sich mit 37 totgespritzt. Seitdem ist mein Leben den Bach runtergegangen. In Berlin wohne ich seit sechs Jahren auf der Straße und habe viel gezeltet. Im Winter ist es sehr kalt – aber erträglich. Man kann das Zelt mit Rettungsdecken abschirmen, und sich darin eine Kerze anmachen, um die Hände zu wärmen. Das größte Problem ist auch nicht die Kälte. Sondern der Mangel an Respekt. Nachts treten manche Menschen gegen die Zelte, oder pissen sie an. Ein Typ hat schon einmal mein Zelt aufgemacht und mich angepinkelt. Aber es gibt auch Menschen, die helfen. Am meisten freue ich mich über einen heißen Kaffee – oder wenn einfach jemand zum Quatschen stehen bleibt. Seit ich Vero kenne, versuche ich, mit ihr zusammen eine Wohnung zu bekommen. Aber das ist schwer, bis vor Kurzem hatte ich nicht einmal einen Ausweis. Und damit die Ämter einem mit der Wohnung helfen, braucht man Papiere. Ich muss nachweisen, dass ich seit fünf Jahren in Berlin wohne – aber wie soll ich das tun? Ich war ja immer auf der Straße.

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Vero, 51, wohnt zusammen mit Menzo

Menzo und ich haben fast den ganzen Winter über gezeltet. In Notunterkünfte gehen wir nur, wenn die Kälte wirklich nicht mehr auszuhalten ist – ein paar Wochen im Januar und im Februar. Ich hasse die Notunterkünfte. Anstatt sich gegenseitig zu unterstützen, beklauen sich die Obdachlosen dort gegenseitig. Die Leute, die neben uns zelten, halten zusammen und passen aufeinander auf. Der Mann, der nebenan wohnt, holt zum Beispiel alle paar Tage Brötchen für alle, die bei einer Bäckerei weggeschmissen werden. Was mich am Wohnen im Zelt am meisten stört, sind die abfälligen Blicke der Menschen. Wenn ich durch die Straße laufe, sieht mir niemand an, dass ich obdachlos bin. Hier kann ich das nicht verstecken. Diese Verachtung macht mich am meisten fertig. Denn ich hatte ja mal ein geregeltes Leben, da sind nur ein paar Dinge sehr schief gelaufen – ich möchte jetzt nicht darüber reden, welche. Dafür habe ich die größte Liebe meines Lebens gefunden. Als ich am tiefsten Punkt meines Lebens im Tiergarten saß, setzte sich dieser freundliche Flaschensammler dazu [zeigt auf Menzo]. Ich habe wirklich nicht gedacht, dass ich mich noch einmal im Leben auf einen Menschen so einlassen kann, aber jetzt sind wir seit zehn Monaten zusammen. Diese Blumen, die neben dem Zelt stehen, hat er mir zum Frauentag geschenkt. Ich freue mich am meisten, wenn mir jemand etwas Warmes zu essen oder zu trinken schenkt – oder ein gutes Buch. Momentan lese ich einen Roman von Stieg Larsson.

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Jimmy, 54, wohnt in einem Tipi im Teepeeland an der Spree

Ich komme aus Schottland und habe schon seit Jahren keinen festen Wohnsitz. Als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich zuerst im Teepeeland gezeltet – einer Tipi-Siedlung am Spreeufer. Als es im Oktober kalt wurde, habe ich mir dieses Zuhause gebaut. Alle Materialien habe ich auf der Straße gefunden. Jeder sagt, dass mein Tipi aussieht wie eine Hobbithöhle. Ich habe darin sogar einen Kamin aus Ziegelsteinen, den ich selbst gebaut habe. Das Feuerholz sammle ich jeden Tag auf der Straße. Ich sammele auch Flaschen – die paar Euros, die ich damit verdiene, reichen mir zum Leben. Im Sommer jongliere ich auch gegen Spenden auf der Straße. Jeder, der in Teepeeland wohnt, muss jeden Monat etwa fünf Euro Miete bezahlen – damit finanzieren wir den Strom im Küchenzelt. Im Winter sind wir hier ungefähr zehn Leute, im Sommer kommen mehr. Es gibt sogar ein Zelt für Couchsurfer, eine Bühne und eine Bar. Ich hasse es nur, dass ich in den Einrichtungen für Obdachlose duschen muss. Viele sind Alkoholiker und echt verwahrlost. Ich selbst trinke nicht und nehme auch keine harten Drogen. Ich sehe mich selbst nicht als obdachlos – das ist ja mein Zuhause. Im Winter ist es durch den Kamin auch ganz warm, wobei es nicht ganz ungefährlich ist, in den Tipis Feuer zu machen. Erst letztes Jahr sind hier welche abgebrannt. Und auf Dauer ist das hier kein Zustand. Ich bin über 50. Im Sommer ist es ganz schön, an der Spree zu leben, aber durch die ganzen Bars am anderen Ufer ist es einfach zu laut. Ich habe mir selbst diesen alternativen Lebensstil ausgesucht, ich will kein Mitleid. Aber ich fände es schön, dass die Leute von ihren Telefonen hochschauen und mit mir sprechen, wenn ich Flaschen sammle.

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Alex, wohnt in der Nähe eines Spielplatzes in Neukölln und will sein Alter nicht verraten, nur so viel: "Ich bin ein alter Mann"

Ich schlage mein Zelt meisten in der Nähe des Kanals auf. Die Polizei kontrolliert zwar regelmäßig und manchmal muss ich auch weg, aber ich baue mein Zuhause dann einfach woanders auf. Früher war ich ein Soldat. Ich komme aus Istanbul und bin schon seit sieben Jahren in Berlin.

Jetzt, wo es wärmer wird, ist Zelten ganz erträglich. Aber der Winter ist scheiße. Und gefährlich ist es auch – aber es ist mir trotzdem lieber, als zurück in die Türkei zu gehen. Am besten hilft man mir, wenn man neben meinem Zelt nicht lärmt und keinen Müll hinschmeißt. Mein Zelt ist kein Schrotthaufen. Es ist mein Zuhause.

Sergio, 38, wohnt am Spreeufer

Früher habe ich im Zelt unter einer Brücke gewohnt, aber die Ratten machten mich fertig. Nachts, wenn alles leise ist, hört man sie besonders gut. Vor Kurzem habe ich diesen kleinen Bunker an der Spree gefunden, er ist vielleicht drei Quadratmeter groß. Er hat keine Tür, nur ein Gitter. Wenn ich arbeiten gehe – ich verkaufe das Straßenmagazin Motz –, sperre ich es mit einem Fahrradschloss zu. Ich lasse nachts extra Brötchen vor dem Gitter liegen, damit die Ratten sie fressen und mich in Ruhe lassen. Aber wenn das Wetter gut ist, werden sie dreist, klauen mein Essen. Einmal habe ich gesehen, wie drei Ratten gemeinsam mein Laib Brot weggetragen haben. Im Winter mache ich meinen kleinen Elektroherd an, Strom klaue ich aus der Leitung. Im Vergleich zu anderen Obdachlosen geht es mir richtig gut. Ich halte meinen Bunker ordentlich, trinke nicht, nehme keine Drogen.

Mein Laster sind Casinos – das Glücksspiel hat mein Leben ruiniert. Ich komme ursprünglich aus Litauen, in Berlin wohne ich seit sechs Jahren – immer auf der Straße. Einmal habe ich mich sogar um eine Wohnung bemüht, war zwei Wochen jeden Tag beim Jobcenter und habe Papiere gesammelt, mir sogar eine Postadresse besorgt. Aber dann hat es nicht geklappt – ich habe nicht genau verstanden, warum. Ich finde das deutsche Sozialsystem nicht schlecht, nur zu bürokratisch. Am meisten würde es mir helfen, wenn mir jemand bei dem ganzen Papierkram unter die Arme greift – oder mir die Motz abkauft. Und wenn mir jemand eine Bohrmaschine ausleihen könnte, wäre es nett. Ich würde gerne ein paar Regale aufhängen.

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