Wir haben mit österreichischen Erdoğan-Gegnern gesprochen

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Wir haben mit österreichischen Erdoğan-Gegnern gesprochen

"Busse wurden organisiert, vor den Konsulaten standen dann sogar noch Autos bereit, falls jemand etwas vergessen hatte."

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"Wir haben alle Nein gesagt, aber wir haben auch genau gewusst, dass ein Ja raus kommt." Asiya, eine Studentin aus Innsbruck, hat keine Illusionen. Sie befürchtet, dass sich die Lage in der Türkei nun noch mehr verschärfen könnte. "Es werden viele Menschen eingesperrt werden. Ich denke auch, dass es Krieg geben wird."

Adnan Ergil, ein Taxifahrer aus Wien, hat klare Vermutungen, wie das Ergebnis in der Türkei zustande gekommen ist: "Du hast wahrscheinlich in den internationalen Medien schon einiges über Wahlmanipulation gehört. Es ist alles wahr. Sie haben einfach das tatsächliche Ergebnis umgedreht."

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Auch Elif Kuru aus Vorarlberg ist von Wahlbetrug überzeugt. "Die Wahlbehörde hat einfach das Ergebnis gedreht." Die Aktivistin der marxistischen Strömung "Funke" meint aber auch, dass das Ergebnis der Abstimmung keinen besonderen Erfolg für die konservative AKP-Regierung darstellt. "Trotz Wahlbetrug, trotz Verhaftungen, trotz der ungleichen Berichterstattung in den Medien hat die Regierung schließlich gerade einmal 51 Prozent bekannt gegeben. Das ist richtig wenig," sagt die 38-jährige Österreicherin türkischer Herkunft.

Das Referendum in der Türkei sorgt unter Österreichs Bevölkerung mit türkischem und kurdischem Hintergrund für zahlreiche Diskussionen. In den Medien wurde auch das Abstimmungsverhalten dieser Bevölkerungsgruppe breit diskutiert. 73,23 Prozent sollen in Österreich für eine Verfassungsänderung und damit für eine De-Facto-Diktatur von Präsident Recep Tayyip Erdoğan gestimmt haben. Das Wort "solle" ist dabei bewusst gewählt.

Die Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses in der Türkei wird von vielen türkischen und internationalen Beobachtern infrage gestellt. Somit sollten auch Teilergebnisse mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden.

Das Lager derer, die nicht für die Regierung gestimmt haben, ist allerdings ebenfalls sehr bedeutend. Und nachdem es immer besser ist, mit Leuten zu sprechen, als über sie, haben wir hier für Euch einige Stimmen eingefangen.

Ziemlich genau die Hälfte der Wahlberechtigten hat am Referendum gar nicht teilgenommen.

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Mehr als ein Viertel der WählerInnen hat bei der Abstimmung in Österreich mit Nein votiert. Viele weitere haben aus unterschiedlichen Gründen gar nicht abgestimmt. Die Wahlbeteiligung betrug gerade einmal 50,59 Prozent. Ziemlich genau die Hälfte der Wahlberechtigten hat also am Referendum gar nicht teilgenommen. Sehr viele Menschen mit türkischem und kurdischem Hintergrund haben auch die österreichische Staatsbürgerschaft – sie waren somit nicht wahlberechtigt.

Ein weiteres Problem nennt Berîvan Aslan. Sie ist Nationalratsabgeordnete der Grünen und stammt aus der kurdischen Minderheit in der Türkei: "Für viele Kurden und Aleviten ist der Gang zum türkischen Konsulat ein Trauma. Es wurde auch das Gerücht gestreut, dass es für die Leute Einreiseverbote geben könnte, wenn sie das nächste Mal in die Türkei fahren wollen. Viele politisch aktive Menschen haben Verwandte in der Türkei. Sie haben Angst, dass denen etwas passiert oder dass sie ihre Verwandten nie wieder sehen, weil ihnen die Einreise untersagt wird."

Aslan sagt, dass sie selbst Fälle kennt, wo Menschen aus Angst auf die Abstimmung verzichtet haben: "Einmal habe ich etwa gehört: 'Meine Mutter ist alt. Das ist zu gefährlich.'"

Auch Ruken aus Wien kennt ähnliche Fälle. Die 27-jährige Studentin ist in der kurdischen Bewegung aktiv. "Viele haben gesagt, sie wären gern gegangen. Aber sie hatten Angst vor Spitzeln und was dann mit ihren Daten passiert. Und wenn Menschen aus Angst nicht zu einer Wahl gehen, das sagt auch schon einiges aus."

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Adnan Ergil sagt, dass sich viele Menschen gar nicht so sehr für die Situation in der Türkei interessieren würden. "Viele sagen, dass sie hier in Österreich leben und dass die Entwicklungen in Türkei sie einfach persönlich nicht betreffen. Viele kennen sich auch gar nicht so gut aus mit der Politik in der Türkei." Vorarlbergerin Elif Kuru sieht das ähnlich: "Das Thema Türkei interessiert viele einfach gar nicht."

"Die türkische Bevölkerung in Österreich ist sicher mindestens zu 60 Prozent rechtsorientiert."

Dennoch möchte Ergil nichts beschönigen: "Die türkische Bevölkerung in Österreich ist sicher mindestens zu 60 Prozent rechtsorientiert. Ich selbst komme aus einer Großstadt. Doch wir sollten nicht vergessen, dass die Leute, die in Österreich leben, oft aus sehr konservativen ländlichen Regionen gekommen sind. Nationalismus und Religion spielen in diesen Schichten eine große Rolle, das ändert sich nur langsam und über die Generationen." Er selbst kann mit Religion allerdings überhaupt nichts anfangen.

Ergil musste aus politischen Gründen die Türkei verlassen, er ist Anhänger der Ideen des russischen Revolutionärs Leo Trotzki. In seinem Freundeskreis sieht es recht ähnlich aus, wie er erzählt: "Konservative, religiöse oder rechte Leute kenne ich eigentlich gar nicht."

Bei der Abstimmung war dennoch fast niemand: "Meine Freunde und ich haben fast alle die österreichische Staatsbürgerschaft, das wäre also rechtlich nicht möglich gewesen." Elif Kuru vermutet auch, dass viele fortschrittliche Menschen gar nicht wählen gegangen seien, weil sie das politische System in der Türkei insgesamt ablehnen würden.

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Manche sehen sich auch zwischen verschiedenen Stühlen. Cengiz Kulaç, ehemals Bundessprecher der Jungen Grünen, sagt etwa: "Ich mag türkisches Essen, Börek zum Beispiel, und kann ein paar Türkisch-Basics. Meine Mutter kommt aus Kärnten und mein Vater ist vor über 35 Jahren aus der Türkei gekommen, um in Österreich zu studieren." Für ihn ist die Frage, welche Community er angehören würde, sehr seltsam.

"Für die einen bin ich Türke und für die anderen bin ich zumindest kein richtiger Türke."

"Ich habe einen tiefsitzenden Bezug zu dem, was im Türkei passiert. Aber mir geht der Identitätszwang hier wie dort auf die Nerven. Mir sind Nationalisten aller Länder ein Dorn im Auge. Für die einen bin ich Türke und für die anderen bin ich zumindest kein richtiger Türke."

Für diejenigen, die abstimmen konnten und wollten, war das keineswegs einfach. Wahllokale gab es in Wien, Salzburg und Bregenz. Das bedeutet langwierige Anreisen, die Zeit und Geld kosteten.

Berîvan Aslan erzählt, dass die regierungsnahen türkischen Organisationen in Österreich, etwa die UETD, mit sehr viel Geld mobilisiert hätten. "Busse wurden organisiert, vor den Konsulaten standen dann sogar noch Autos bereit, falls jemand etwas vergessen hatte. Die Linke hatte demgegenüber viel weniger Ressourcen zur Verfügung."

Die AnhängerInnen der türkischen Regierung sind für sie dabei Spiegelbild der österreichischen Innenpolitik: "Die politischen Überzeugungen unterscheiden sich nicht von denen von FPÖ-WählerInnen. Das sind vor allem Männer, das ist die gleiche soziale Schicht, das sind die gleichen politischen Ideen."

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"Busse wurden organisiert, vor den Konsulaten standen dann sogar noch Autos bereit, falls jemand etwas vergessen hatte."

Sie erzählt, dass es bereits im Vorfeld der Wahl Einschüchterungen gegeben hätte: "Alevitische und kurdische Firmen wurden denunziert. Es wurde etwa zum Boykott bestimmter Restaurants aufgerufen und in den sozialen Medien wurde enormer Druck aufgebaut."

Der Druck in Österreich ist allerdings nichts gegen den Druck in der Türkei. Zehntausende wurden in den letzten Monaten verhaftet oder verloren ihren Arbeitsplatz. Die AKP regiert diktatorisch mittels Ausnahmezustand. Die beiden Vorsitzenden und viele weitere Abgeordnete der linken pro-kurdischen HDP, der drittgrößten Parlamentsparteien, sitzen im Gefängnis. Viele von Ihnen befinden sich seit über 60 Tagen im Hungerstreik, es könnte bald die ersten Toten geben.

In den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei herrscht BürgerInnenkrieg. Einzelne Städte und Stadtviertel wurden von der Armee komplett zerstört. Immer wieder riegelt die Armee plötzlich einzelne Dörfer ab, die BewohnerInnen berichten danach von Folterungen und Ermordeten. Es gibt auch zehntausende Vertriebene, die kaum oder gar nicht an der Abstimmung teilnehmen konnten.

Und wie insbesondere in den kurdischen Gebieten bei Wahlen vorgegangen wird, konnte ich als Wahlbeobachter im November 2015 selbst beobachten. Nach dem Schließen der Wahllokale sah ich etwa in einem Dorf nahe dem Van-See bewaffnete sogenannte "Dorfschützer" der Regierung, die in Säcken Wahlzettel mit sich herum trugen.

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"Fest steht, dass die kurzfristige Entscheidung der Wahlkommission, falsch oder gar nicht gestempelte Wahlzettel als gültig zu werten, ein Verstoß gegen türkisches Recht darstellt."

Alle meine GesprächspartnerInnen sind durchgehend davon überzeugt, dass die türkische Regierung bei der Abstimmung betrogen hätte. Das deckt sich mit zahlreichen Medienberichten und auch den Eindrücken der WahlbeobachterInnen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Insbesondere wird kritisiert, dass die oberste Wahlbehörde in großem Ausmaß Stimmzettel zugelassen hat, die eigentlich ungültig waren. "Fest steht, dass die kurzfristige Entscheidung der Wahlkommission, falsch oder gar nicht gestempelte Wahlzettel als gültig zu werten, ein Verstoß gegen türkisches Recht darstellt", sagt Michael Georg Link von der OSZE.

Seit der Bekanntgabe des Ergebnisses finden täglich große Demonstrationen in der Türkei statt. Das Motto: "Hayır! Biz kazandık!–Nein! Wir haben gewonnen!" Elif Kuru ist überzeugt, dass diese Demonstrationen noch eine ganze Weile weitergehen werden. Das glaubt auch Adnan Ergil: "Diese Wahlfälschung ist eine Prinzipienfrage für die Linke".

Auch Ruken denkt, dass die Bewegung erst am Anfang steht: "Das Nein-Lager sagt, dass wir die Wahlen gewonnen hätten und sie gestohlen worden sei. Das werden sich die Leute nicht einfach gefallen lassen."

Adnan Ergil denkt dennoch nicht, dass die Regierung schnell einlenken wird. "Eine Neuauszählung würde nichts bringen, weil die ungültigen Stimmzettel bereits mit den gültigen vermischt sind. Und dass die AKP und die Wahlbehörde die Wahl wiederholen lassen, sehe ich derzeit nicht."

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Denn auch er glaubt, dass dieses Wahlergebnis eigentlich eher ein Ausdruck der Schwäche der Regierung ist. "Bei diesen Ausgangsbedingungen nur etwas mehr als die Hälfte der Stimmen, das ist eine Niederlage." Auch Ruken meint: "Das ist nicht glatt gelaufen für Erdoğan. Er steht jetzt innenpolitisch enorm unter Druck."

"Das ist nicht glatt gelaufen für Erdoğan. Er steht jetzt innenpolitisch enorm unter Druck."

Sie meint, dass vieles nun von der wirtschaftlichen Entwicklung und von sozialen Bewegungen abhängen wird. Das sieht auch Cengiz Kulaç so: "Der Euro kostet mittlerweile vier Lira. Irgendwann handelt sich die Regierung auch einen Aufstand der Wirtschaft ein."

Kulaç erwähnt auch das schwache Ergebnis für die AKP in den Städten. "Erdoğan hat so wichtige Städte wie Istanbul und Ankara verloren. Er könnte sich bald eine Revolte in der eigenen Partei einfangen."

Und auch im Regierungslager kriselt es. Die faschistische MHP (besser bekannt als "Graue Wölfe") ist gespalten. Die Führung unterstützt die AKP, doch wesentliche Teile der FaschistInnen stehen Erdoğan kritisch gegenüber. Die aktuellen Überlegungen zur Einführung der Todesstrafe sind auch unter diesem Aspekt zu betrachten. Denn die Todesstrafe für politische GegnerInnen ist eine wesentliche Forderung dieser Kräfte.

Trotz der aktuellen Demonstrationen in der Türkei ist Erdoğan kurzfristig auf jeden Fall gestärkt. Damit könnte sich auch die Repression gegen Andersdenkende und die kurdische Minderheit verstärken. Auch Berîvan Aslan denkt, dass die Eskalation weitergehen wird: "Es gibt bereits Berichte, dass weitere JournalistInnen und PolitikerInnen eingesperrt wurden."

"Wir müssen auf alles gefasst sein."

Außenpolitisch könnte Erdoğan ebenfalls auf Eskalation setzen. "Ich denke, dass die Regierung nun etwa versuchen wird, wieder verstärkt im syrischen Bürgerkrieg einzugreifen", sagt Ruken. "Wir sollten nicht naiv sein und denken, dass sich Erdoğan bessern wird. Das wird nicht passieren. Wir müssen auf alles gefasst sein", meint sie.

Widerspruch der internationalen Machtblöcke ist kaum zu erwarten. Präsident Trump hat Erdoğan nach dem Referendum gratuliert. Die EU ist mit der Türkei eng verbündet und mit den Flüchtlingsabkommen auch ein Abhängigkeitsverhältnis eingegangen. (Was mit dem Flüchtlingen passiert, die in die Türkei abgeschoben werden, habe ich hier und hier beschrieben.)

In der türkischen und kurdischen Community in Österreich gehen die Debatten inzwischen intensiv weiter. Adnan Ergil sagt, dass die Stimmung natürlich von der politischen Überzeugung abhängt: "Die AnhängerInnen der Regierung fühlen sich als Sieger, aber sie sind noch nicht sicher, ob sie wirklich gewonnen haben. Wir Linke sind natürlich enttäuscht. Aber wir bleiben optimistisch – noch ist nicht alles vorbei."

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