Wie es ist, mit 17 seinen Vater zu verlieren
Titelfoto von Steven Van Loy​ | Unsplash | CC0

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Wie es ist, mit 17 seinen Vater zu verlieren

Der Tod meines Vaters wird mich, obwohl ich ihn kaum gekannt hatte, wahrscheinlich nie ganz in Ruhe lassen.

"Das wird mir schon nicht passieren", denkt man sich jedes Mal, wenn ein Freund jemand Nahestehenden verliert, während man ihm tröstend über den Rücken streichelt. Vielleicht ist es uns in diesem Moment nicht bewusst, aber wir können den Schmerz, den unser Freund wegen seines Verlustes verspürt, nicht nachempfinden. Wir haben zwar Mitleid, aber dieses Mitleid ist eben nur Mitleid und kein tiefes Mitgefühl.

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Nachdem wir für eine Weile die Mundwinkel nach unten gezogen haben, kehren wir wieder in unseren Alltag zurück und vergessen die schlimmen Dinge, die andere um uns herum erleben. Das ist auch gut so. Dieser Schutzmechanismus hilft uns, morgens aus dem Bett zu steigen und sich den täglichen Aufgaben zu stellen, die hinter jeder Ecke auf uns warten. Ob im Job oder privat: Wir verdrängen unsere Emotionen zu Gunsten der Leistungsfähigkeit. Weil wir es müssen. In unserer Gesellschaft macht man das eben so. Wir haben schon lange verlernt mit schlimmen Dingen wie dem Tod umzugehen, weil wir schlichtweg keine Zeit dafür haben. Wir flüchten vor der Realität, um uns mit eben dieser nicht auseinandersetzen zu müssen. Bis sie uns schliesslich einholt.

Ich gebe zu, ich selbst hätte nie gedacht, dass ich zu den Menschen gehören würde, die trauern und aufrichtig leiden. Die um jemanden heulen müssen. Aber wie so oft belehrte mich der Lauf des Lebens eines Besseren.

Ich war ungefähr zwei Jahre alt, als meine Mutter meinen Vater rausschmiss. "Ein nichtsnutziger Versager war er", erzählte sie mir im Nachhinein. Er habe keinen Job gehabt, sei immer auf Sauftour mit seinen Kumpanen oder in krumme Geschäfte verwickelt gewesen. Sogar meine eigene Geburt soll er wegen eines Saufgelages verpasst haben. "Alles, was er mir jemals erzählt hat, war eine Lüge", sagte meine Mutter. Angeblich verdiente er sein Geld damit, Kunst und Pelz über die Grenze zu schmuggeln. Drogen sollen das ein oder andere Mal auch dabei gewesen sein. Irgendwann wurde er erwischt und kam für ein Jahr ins Gefängnis, wo wir ihn hin und wieder besuchten. "Er wollte immer zur Mafia gehören", erzählte meine Mutter weiter. Er habe sich die ganze Zeit mit schrägen Typen herumgetrieben. Was sie genau machten, wusste selbst meine Mutter nicht.

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Von all dem bekam ich als Kind wenig mit. Ich kannte diesen Menschen nicht, den man mir da beschrieb. Für mich war er bloss irgendein Typ, den ich ein paar Mal gesehen hatte. Vielleicht waren es vier, vielleicht sechs Mal. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern. Das einzige, das ich noch klar vor mir sehe, ist das Plüschtier, welches er mir bei seinem letzten Besuch mitbrachte: ein riesiger, rosa Elefant mit einer grünen Latzhose und einem Melonenhut. Es war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, aber danach sollte ich meinen Vater über zwölf Jahre lang nicht mehr wiedersehen. Denn ich und meine Mutter wanderten aus.

Als ich meinen Vater wieder traf, war ich 17 Jahre alt. Es war Sommer und meine Mutter und ich besuchten wieder einmal unseren Heimatort. Er wohnte immer noch bei seiner Mutter, hatte immer noch keinen Job und war immer noch so verantwortungslos wie damals vor zwölf Jahren. Nur sah er um einiges schlimmer aus: Sein ganzer Körper war aufgedunsen, als hätte er einige wilde Partynächte hinter sich. Wie sich später herausstellen sollte, waren es mehr als nur ein paar gewesen.

Den Grossteil dieses zweistündigen Treffens redete meine Mutter mit ihm, während ich hinter ihnen her schlenderte. Nur ein einziges Mal richtete er das Wort an mich: "Und Prinzessin, hast du einen Freund?" Ich antwortete mit einem knappen "Nein" und beendete somit schnell dieses wenig herzhafte Gespräch. Ich hatte schlichtweg keine Lust, diesem Fremden auch nur irgendwas über mein Privatleben zu erzählen. Der Mann, der mein Vater sein soll, scherte sich zehn Jahre lang einen Scheiss darum, wie es mir ging oder ob ich einen Freund hatte. Das geheuchelte Interesse, welches mit seiner Frage offensichtlich wurde, ändert an dieser Tatsache herzlich wenig.

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Danach haben wir nie wieder miteinander geredet. Mein Vater starb einige Monate nach unserer Abreise an Leberversagen. Ich erfuhr erst zwei Tage vor seinem Tod, dass er im Krankenhaus lag. Als meine Mutter in mein Zimmer kam und mir sagte, dass er vor einer Stunde verstorben sei, wusste ich nicht genau, ob ich lachen oder weinen sollte. Die Situation an sich war so fremd, so absurd, dass ich mir vorkam wie in einem schlechten Film. Auf einmal kullerten unkontrolliert Tränen über meine Wangen. Ich war wie gelähmt, gelähmt von einem fremden, stechenden Schmerz in meiner Brust.

Es war so, als wäre ich wieder fünf Jahre alt und neben mir lag ein dreckiges, altes Spielzeug. Ich interessierte mich nie dafür, ja es gefiel mir nicht einmal. Da kommt ein anderes Kind, nimmt sich dieses Spielzeug und fängt an, damit zu spielen. Es spielt so freudig, so heftig damit, dass das Spielzeug auseinander bricht. Und in diesem Moment wird mir bewusst, dass ich nie mehr mit diesem Spielzeug spielen werde können. Es ist weg, und keine Macht auf dieser Welt wird es mir wiederbringen.

Ich habe es damals nicht gemerkt, aber nach dem Tod meines Vaters fiel ich in eine schwere Depression. Ich ass nur noch wenig und stritt ununterbrochen mit allen aus meinem Umfeld. Ich wusste nicht genau wieso, aber ich erzählte damals niemandem, was passiert war. Weder meiner besten Freundin, noch meinem Freund. Ich wollte es nicht. Ich konnte ihre mitleidigen Blicke nicht ertragen, ich wollte ihre liebevollen Umarmungen nicht spüren. Ich wollte mich genau so fühlen, wie ich es tat: alleine und einsam. Auf eine absurde, durchgedrehte Art dachte ich, ich hätte diesen Schmerz verdient.

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So verbrachte ich ein halbes Jahr in Schweigen gehüllt. Die erste Phase meiner Trauerverarbeitung war laut der Zürcher Psychologieprofessorin Verena Kast wie bei vielen anderen auch: die Verleugnung. Immer, wenn mich jemand auf meinen Vater ansprach, sagte ich, dass er in meinem Heimatland lebe und ich ihn nicht kenne, und wechselte das Thema. Ich verdrängte die Tatsache, dass er nicht mehr da war. So schien es mir am einfachsten.

Aber immer, wenn ich betrunken war, blickte die zweite Phase der Trauerverarbeitung in mir durch: das Aufbrechen der Emotionen. Ich fing an, Menschen, die ich gerade fünf Minuten kannte, von meinem Verlust zu erzählen und vor deren Augen in Tränen auszubrechen. Oder ich lachte ihnen ins Gesicht, als hätte ich gerade den Witz des Jahrhundert erzählt. Die einen oder anderen müssen mich für verrückt gehalten haben, aber laut Verena Kast sind solche Gefühlschwankungen in diesem Teil der Trauer normal und sogar nötig, um den Schmerz über den Verlust zu überwinden und weitermachen zu können.

Da ich meinen Vater kaum gekannt und somit kaum etwas hatte, dass mich an ihn erinnerte, konnte ich die Verbindung zu ihm, die Betroffene im Schema von Verena Kast in der dritten Trauerphase aufbauen, nicht wirklich intensiv ausleben. Ich hatte lediglich ein Foto von dem letzten Tag, an dem wir uns gesehen hatten. Man sah nur den Rücken von ihm und meiner Mutter, aber bereits dieser Anblick wirkte auf mich beruhigend.

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Etwa zwei Jahre nach dem Tod meines Vaters, an einem sehr betrunkenen Abend, kam ich zur vierten und letzten Phase meiner Trauer: der Akzeptanz. Im Garten meiner Freundin beichtete ich schliesslich allen meinen anwesenden Freunden, dass ich nun Halbwaise war. In diesem Moment war ich endlich in der Realität angekommen. Ich habe das getan, was wir leider viel zu selten tun: Ich war ehrlich zu mir selbst. Ich akzeptierte den Schmerz und lernte mit ihm zu leben. Und das fühlte sich gut an.

Vielleicht war die Tatsache, dass ich ein Gläschen über den Durst getrunken hatte, vielleicht war es die Tatsache, dass ich bereits ein wenig Gras über den Tod meines Vaters habe wachsen lassen, aber zu meiner Überraschung waren die Reaktionen meiner Freunde nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Es gab keine falschen mitleidigen Blicke oder gespielt liebevollen Umarmungen. Es gab nur ein paar Kopfnicker und eine verlegene Schweigeminute, in der sie sehr tollpatschig versucht hatten, das Thema zu wechseln.

Der Tod meines Vaters wird mich, obwohl ich ihn kaum gekannt hatte, wahrscheinlich nie ganz in Ruhe lassen. Heute, vier Jahre später, habe ich immerhin gelernt, damit umzugehen. Ich kann mir und anderen gegenüber eingestehen, dass er nicht mehr da ist und das ist schon sehr viel wert. Auch wenn ich diesen Menschen kaum gekannt habe, bestand doch immer die Möglichkeit, diese Tatsache zu ändern. Zu akzeptieren, dass das nicht mehr so ist, erwies sich schwerer als ich es mir je hätte vorstellen können. Und obwohl ich auf meiner noch nicht geplanten Hochzeit—die hoffentlich trotzdem in zehn Jahren oder so stattfinden wird—wohl nie einen Vater-Tochter-Tanz erleben werde, nehme ich meinem Vater sein selbstsüchtiges Verhalten nicht übel. Wir sind schliesslich alle Menschen und Menschen machen nun mal Fehler.

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Titelfoto von Steven Van Loy | Unsplash | CC0