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The Grievous Sins Issue

Wie Flüchtlinge mitten in Berlin in einem Zeltcamp hausen, und keinen interessiert's

Vor einem Jahr fing es an, dass Flüchtlinge überall in Deutschland ihre Lager verlassen haben und ins Land gezogen sind, um zu protestieren. Ich habe rausgefunden, warum genau sie die Schnauze voll haben.

Mash, einer der Flüchtlingsaktivisten, reckt bei einer Demo im Regierungsviertel die Faust in den Himmel und schreit sich den Frust von der Seele. „Angela Merkel, can you hear me?“

Vor knapp einem Jahr hat in Deutschland eine Geschichte angefangen, die sich hier in Österreich ganz ähnlich abspielt und der wir eine eigene Serie gewidmet haben. Hier ein Bericht über den Flüchtlingsprotest in unserem Nachbarland. Ein paar Flüchtlinge aus der Nähe von Würzburg hatten die Schnauze voll, haben das Flüchtlingslager verlassen, in dem sie außerhalb der Stadt untergebracht waren und sind einfach losgelaufen. Sie haben sich zu Fuß auf den 600 Kilometer langen Weg nach Berlin gemacht, um dort ein Protestlager aufzuschlagen und die Politiker zu zwingen, sich endlich einmal den Forderungen der Flüchtlinge zu stellen, die seit 15 Jahren immer dieselben sind. Abschaffung der Residenzpflicht, die besagt, dass ein Flüchtling seinen ihm zugeteilten Landkreis nicht verlassen darf. Abschaffung der Abschiebungen, weil diese Hunger, Verfolgung und in vielen Fällen auch Tod bedeuten. Abschaffung der Lager, in denen man die Menschen abgeschottet und isoliert von der Umwelt unterbringt, solange ihr Asylstatus nicht geklärt ist und wo sie weder arbeiten, sich bilden noch in den meisten Fällen ihr eigenes Essen zubereiten können. Da sich solche Verfahren teilweise über Jahre, in extremen Fällen sogar über Jahrzehnte hinziehen können, bedeutet das für die Betroffenen, dass sie in einem permanenten Zustand der Unsicherheit leben, weil sie jeden Augenblick damit rechnen müssen, abgeschoben zu werden, und dass sie in dieser Zeit absolut verkümmern. Schlafen, essen, essen, schlafen, schlafen und essen. Ansonsten gibt es nichts zu tun. Überall in Deutschland haben sie ihre Camps aufgeschlagen und als sich im vergangenen Jahr ein paar Iraner den Mund zugenäht haben und am Brandenburger Tor in Berlin über Wochen in einen lebensbedrohlichen Hungerstreik getreten sind, war das Medienecho groß. Nun dauert der Protest aber schon 12 Monate und die kleine Zeltstadt, die am Berliner Oranienplatz - ähnlich wie vor der Votivkirche in Wien, errichtet wurde, ist nicht mehr wirklich interessant. Achtlos fährt man an den Zelten mit den schiefen Ofenrohren vorbei, aus denen schwach der Rauch aufsteigt. Flüchtlingspolitik ist auch in Deutschland ungefähr das letzte, womit man sich in seinem Alltag auseinandersetzen möchte. Zu kompliziert das alles. Zu viele Facetten. Gerade deshalb wollten wir wissen, wie das Leben und der Alltag der Bewohner auf dem Platz aussieht, wie sich ein permanenter Protest leben lässt und welche ganz praktischen Probleme das so mit sich bringt. Das Refugee Protest Camp in Berlin—ein Reisebericht. Mit den Flüchtlingen Kontakt aufzunehmen, stellt sich als relativ kompliziert heraus. Zwar verfügt die Protestbewegung über ein weit verzweigtes Netz an Unterstützern, von radikalen Feministinnen bis zu den Grünen, doch am Infotisch des Zeltlagers kann mir keiner wirklich Auskunft geben. Das mag daran liegen, dass hier spontanbegeisterte Passanten sitzen, die kurzfristig beschlossen haben einzuspringen und keine Ahnung haben oder dass es tatsächlich keine Telefonliste gibt. Vielleicht liegt es aber auch schlicht und einfach daran, dass nach einem Jahr kontinuierlichem, innerstädtischen Protest so langsam die Luft raus ist und man mit der Presse sehr ambivalente Erfahrungen gemacht hat. Die deutschen Helfer sind ein wenig misstrauisch und stellen sich schützend vor die Flüchtlinge und das vielleicht nicht ohne Grund. Immerhin haben die meisten von diesen gegen geltendes Recht verstoßen. Sie haben ihre Residenzpflicht gebrochen, sie haben sich der Lagerpflicht widersetzt, sie haben teilweise ihre Papiere verbrannt und sind somit durch ihren bloßen Aufenthalt in Deutschland, ihre bloße Existenz illegal. Jederzeit könnten sie von der Polizei festgenommen und in Abschiebehaft gesteckt werden. Dementsprechend reserviert reagiert man auf Fremde. Schließlich bekomme ich dann aber doch noch eine Nummer, und so verschlossen sich manche Helfer und Unterstützer geben, so offen sind die Flüchtlinge selbst. Ich will in der Küche helfen, denn immerhin werden im provisorischen Küchenzelt täglich bis zu 150 Menschen versorgt. Auf der Suche nach dem Küchenchef werde ich in ein Zelt verwiesen, aus dem noch kurz zuvor Trommelmusik ertönte. „Go in. There is african Music. African Culture.“ Ich stolpere also in das schlecht beleuchtete Zelt, das vollgestellt ist mit provisorischen Betten und abgenutzten Sofas. Das afrikanische Kulturprogramm muss ich wohl verpasst haben, auch den Küchenchef kann ich nicht finden, stattdessen tagt die frisch gegründete Empowerment Group, die sich um die Sicherheit im Camp kümmern soll und mit einem mal bin ich mittendrin in einer lebhaften Diskussionsrunde.

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Der Küchenwagen im Protest-Camp. Herzstück der Bewegung.Man erkennt die Spuren eines Einbruchsversuchs und den Hinweis, dass alles gut verstaut werden muss–„because of the rats“.

Eine Sitzung im Refugee Protest Camp ist immer auch eine Geduldsprobe. Jeder Redebeitrag wird in mindestens drei Sprachen übersetzt und reden darf grundsätzlich jeder. Dabei stellt sich heraus, dass Flüchtlinge und Unterstützer nicht nur sprachlich nicht dieselbe Sprache sprechen, sondern auch inhaltlich und manchmal ist es fast lächerlich, wie sehr aneinander vorbeidiskutiert wird. Die einen reden von Arbeit und Essen, die anderen von politischem Movement. Die einen wollen warmes Wasser und klare Regeln, die anderen wollen globale Forderungen durchsetzen und lehnen jegliche Form von Autorität ab. In dem Moment, in dem ich mich durch den dicken Vorhang aus Teppichen zwänge, der vor dem Eingang hängt, erklärt Mash, ein wortgewaltiger, stämmiger Mann aus Nigeria gerade, dass die Flüchtlinge sehr wohl auf die Hilfe der deutschen Supporter angewiesen seien, gerade auch wenn es darum gehe, Streitigkeiten zu schlichten, die unter den Flüchtlingen selbst entstehen: „Supporters have to help because we are mad. We have mental Problems“, tönt Mash. Dies wird, nach Übersetzungen ins Deutsche, Französische und Arabische von den deutschen Aktivisten kategorisch abgelehnt. Sie wollen partout keine Polizeiaufgaben übernehmen, da diese an die klassische Rollenverteilung innerhalb der staatlichen Flüchtlingslager erinnere: „Nein, wir sind nicht hier um Eure Probleme zu lösen. Ihr seid für Euch selbst verantwortlich. Dieser Protest wird von den Flüchtlingen selbst organisiert und nicht von den Supportern. Wir sind nur hier, um Euch zu unterstützen.“ Nach Übersetzung ins Englische, Französische und Arabische steht ein schlaksiger junger Mann auf und erklärt, wie so eine Unterstützung aussehen könnte. Seine Vorschläge sind eher so ungefähr, gänzlich unkonkret, ja fast ein wenig metaphysisch. Zumindest redet er sehr viel von „understanding“ und „overstanding“ und beendet seinen Vortrag, in dem er beide Hände pathetisch von sich streckt, mit den Worten: „I give my both hands to my brothers.“ Es folgen Übersetzungen in drei andere Sprachen. Die Anwesenden nicken. Jörg, ein hagerer Mann mit rheinischem Akzent, der unaufhörlich seine knochigen Finger knetet, möchte auch etwas sagen. Der Hartz IV Empfänger führt seinen ganz eigenen Kampf und merkt an, dass auch in Deutschland sehr arme Menschen leben und dass Berlin eine sehr arme Stadt sei. Die anwesenden Flüchtlinge schauen ihn mit großen Augen an. Außerdem, holt Jörg aus, habe er mal einen Vortrag über Hartz IV vor Flüchtlingen gehalten in den Räumen einer katholischen Kirchengemeinde … Was folgt ist eine total wirre und verrückte Geschichte über einen angeblichen Diebstahl aus dem Safe der Katholiken, der ihm in die Schuhe geschoben wurde, die absolut nichts, aber auch gar nichts mit dem Thema „Sicherheit im Lager“ zu tun hatte. Trotz allem wird auch Jörgs Beitrag in drei Sprachen übersetzt und mit einem Nicken der Zuhörer quittiert wird. Danach wird es philosophisch. Ein Mann schlägt vor, ein Regelwerk für das Camp auszuarbeiten und eine Art Gesetzgebungsverfahren einzuleiten. Ich bin live dabei, wie eine Demokratie entsteht, doch auch hier wird schnell klar, dass Flüchtlinge und Unterstützer nicht unbedingt dasselbe meinen, wenn sie vom selben sprechen. Die Flüchtlinge, in diesem Fall fast ausschließlich aus afrikanischen Ländern, wollen Älteste als Sprecher bestimmen und sind sich anhand der innerhalb verlaufenden Sprachbarrieren, Religionen und Völker uneins. Die Supporter beschwören die Einheit der Bewegung und lehnen Hierarchien ab. Was auf dieser Sitzung letzten Endes beschlossen wurde, kann ich nicht sagen. Irgendwann erzählte ein Mann aus Mali, der über Italien nach Deutschland gekommen ist, dass ihm deutsche Polizisten seine Papiere abgenommen haben. Aufgebracht schlägt er mit der einen Hand in seine leere Handfläche, um zu zeigen, dass er nichts mehr besitzt. Mash nickt und blickt mich an: „You see. We don’t have documents—we have stories.“

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Das Berliner Refugee-Protest-Camp.

Am nächsten Tag besuche ich die Schule, in der ebenfalls protestierende Flüchtlinge wohnen. Ende Dezember 2012 besetzte ein Teil von ihnen die leerstehende Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg, in ungefähr zwei Kilometer Entfernung vom eigentlichen Protestcamp. Der grüne Bezirksbürgermeister Franz Schulz setzte sich persönlich dafür ein, die Flüchtlinge dort zu dulden, um zumindest den protestierenden Familien und insbesondere deren Kindern ein winterfestes Quartier zu bieten. Mittlerweile leben dort aber auch einige Roma-Familien und jede Menge andere Leute, die nicht unbedingt zur politischen Refugee-Bewegung gehören—wie viele, kann keiner genau sagen, und das ist ein Problem. Ist das Camp eine politische Aktion, so ist die Schule mittlerweile kaum noch regierbar. Es gibt Geschichten über sexuelle Belästigungen, die Abfallbeseitigung ist ein Problem und fast täglich gibt es Prügeleien. Herrscht im Camp eine gewisse Disziplin, fühlt sich in der Schule niemand verantwortlich. Die Räume verwahrlosen, die Toiletten stinken zum Himmel und Dealer aus dem nahe gelegenen Görlitzer Park gehen ein und aus und machen zum Ärger der eigentlichen Hausbewohner jede Menge Stress. Auch wenn immer wieder Anläufe gemacht werden, die Situation zu verbessern, eskaliert die Lage zunehmend und es gibt Berichte von Messerstechereien und Polizeieinsätzen. Das ist alles nicht sonderlich gut für die Bewegung und deshalb halten deren politische Köpfe auch recht wenig von der Besetzung. Häuser zu besetzen, argumentieren sie, war ein Ding der europäischen Mittelschichtskinder in den 80er und 90er Jahren. Diese hätten mit ihrem Häuserkampf nach Ersatzfamilien gesucht und nach einer Art Gemeinschaftserlebnis. Die Flüchtlinge aber befänden sich in einer komplett anderen Situation. „Diese Menschen haben in Flüchtlingslagern gelebt, sie haben sich auf den Weg gemacht durch die Wüste. Sie haben das Mittelmeer überquert und man hat sie wieder in Lager gesperrt. Diese Menschen wollen keine Gemeinschaft mehr, sie suchen kein Gemeinschaftserlebnis“, erklärt mir Claudio, der seit Jahren in der Flüchtlingspolitik aktiv ist und die Schule für nicht besonders hilfreich hält. In der Aula der Schule sitzt mir ein sehr bekifftes weißes Mädchen gegenüber, das sehr langsam Englisch spricht und mit sehr langsamen Bewegungen an einer Hand voll Nüssen knabbert. Wir kommen kurz ins Gespräch und ich erfahre, dass sie eigentlich Deutsche ist und in Zehlendorf wohnt. Vielleicht hat Claudio recht. Tanja wiederum ist vollkommen anderer Meinung. Die blonde Italienerin, die schon in sämtlichen Krisengebieten dieser Welt war, vom Kosovo bis Syrien, wohnt ebenfalls in der Schule. Die Leute, sagt sie, die sich für eine Räumung der Schule aussprechen würden, hätten sowieso alle eigene Wohnungen und deshalb gut reden. Die anderen wären nach der Schließung aber obdachlos und deshalb müsse die Schule erhalten werden. In Tanjas Zimmer geht es hoch her. Alle fünf Minuten klopft jemand an und will etwas von ihr und manchmal verwechselt sie die Sprachen, wenn sie mit einem spricht. Tanja ist müde und sagt, wenn das hier alles vorbei sei, dann würde sie Urlaub machen und an einen Ort gehen, wo sie nicht mehr sprechen und nicht mehr zuhören müsse. Sie entschuldigt sich tausend mal dafür, dass sie leider nur sehr schlechten Kaffee anbieten könne—bei ihr zu Hause in Rom gäbe es sehr viel besseren. Trotzdem ist Tanjas Tür immer geöffnet und während ich zu Gast bin, befinden sich immer mindestens vier Menschen in ihrem acht Quadratmeter Zimmer. Ein Kanadier und ein Amerikaner kommen dazu und unterhalten sich über spirituelle Erfahrungen, die sie auf LSD gemacht haben. Ein Mann aus Niger berichtete von einem Zauber aus Burkina Faso, der deine Eier explodieren lässt, wenn du damit belegt bist und einen anderen Menschen auch nur berührst. Den Sinn dieser Magie habe ich nicht ganz verstanden, aber ich glaube es hing mit Empfängnisverhütung oder Schutz vor Vergewaltigungen zusammen. Den Einwand der kroatischen Freundin von Tanja, dass solche Zauber aber nur für Schwarze und nicht für Weiße gelten würden, lässt der Mann aus Niger nicht gelten. Er betont, dass diese Art von Voodoo für alle gleichermaßen gültig sei, zieht noch einmal an seiner Zigarette und verschwindet. Am Abend besuche ich die Legal Group, wo ich wieder auf Claudio treffe. Diese Gruppe leistet Rechtsberatung für Flüchtlinge, vermittelt Anwälte, die sich in Flüchtlingsfragen engagieren und klärt in ihren Veranstaltungen über die neuesten Flüchtlingsrichtlinien der EU auf. Sie gehört somit zum wichtigsten Instrument der gesamten Bewegung. Doch an diesem Abend ist die Stimmung gedrückt. Der lange Winter macht der gesamten Planung einen Strich durch die Rechnung. Vom letzten Geld mussten noch einmal Gaskartuschen gekauft werden, damit es in den Zelten wenigstens ein bisschen wärmer wird, doch das Küchenzelt, in dem wir uns treffen, ist eiskalt und Ratten streiten sich um den Abfall aus dem Mülleimer. Die Ratten sind unheimlich laut und hören sich fast an wie Menschen, wenn sie miteinander kämpfen. Ein Obdachloser, der einen Kinderwagen vor sich herschiebt, kommt herein und will aus einem Lexikon über Livingston vorlesen. Claudio zuckt mit den Schultern: „Wir sind hier auf der Straße. So etwas passiert. Was soll man machen?“

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Alnour ist seit sechs Monaten fast täglich im Einsatz. Er organisiert die Küche und bekocht nicht nur Flüchtlinge. Auch Obdachlose schleichen sich hin und wieder ein.

Claudio ist nicht begeistert, dass ich gerade jetzt einen Artikel über die Bewegung schreiben will. Die Leute sind müde und frustriert. Der Kampf läuft ins Leere und es gab schon zuversichtlichere Zeiten. Alle erhoffen sich von der großen Demonstration Ende des Monats einen Motivationsschub, aber die Planung hinkt hinterher und ob sie ein Erfolg wird ist nicht sicher. Ich erzähle davon, dass sie in der Schule viertausend Flaggen drucken wollen für die Demo. „Da werden wohl ein paar übrig bleiben“ entgegnet daraufhin eine der Anwältinnen mit einem kleinen Lächeln. Seit einem Jahr befinden sie sich nun im Kampf gegen das System. Sie sind durch die gesamte Republik gelaufen, um mit den Politikern zu sprechen. Sie haben am Brandenburger Tor gehungert. Die Polizei hat ihnen die Schlafsäcke und die Zelte weggenommen und sie haben trotzdem durchgehalten. Sie haben ihre Camps aufgeschlagen und haben erklärt, dass sie nicht weg gehen würden, bevor ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Gebracht hat es aber fast nichts, außer ein wenig Aufmerksamkeit. Im Bundestag gab es eine aktuelle Fragestunde zum Thema und die Spitzen des Innenausschusses haben sich mit Vertretern der Flüchtlinge getroffen, doch Zusagen gab es keine, Zugeständnisse schon gar nicht. Die Bundesrepublik Deutschland hat das Problem einfach ausgesessen und nun droht der Protest in sich zusammen zu fallen. Alle sind ausgebrannt. Alnour, der Küchenchef, der jeden Tag bis zu hundertfünfzig Menschen bekocht, hat seit einem halben Jahr jeden Tag gearbeitet und erst in der letzten Zeit konnte er ab und zu mal frei machen—weil nichts mehr da war, was er hätte kochen können. Die Bewegung hat kein Geld mehr, es gibt nichts mehr zu essen und viele Leute wollen aufgeben nach der Demo, sagt die Anwältin. „Und dann“, fragt Claudio, „zurück in die Lager?“ Die Anwältin zuckt die Schultern. Am nächsten Tag besuche ich ein Lager. Ich will sehen, wie die Flüchtlinge normalerweise untergebracht sind und außerdem soll dort eine Protestaktion von Aktivisten des Refugeecamps stattfinden, die sich im letzten Monat auf einer sogenannten Bustour befanden und nun wieder nach Berlin zurück kehren. Innerhalb von drei Wochen besuchten sie mehrere Flüchtlings- und Abschiebelager um andere Flüchtlinge über ihre Aktion zu informieren und zu mobilisieren. Als ich eintreffe ist die Aktion in vollem Gange. Lautsprecher werden aufgestellt und ein Mann am Mikrofon empört sich über die unhaltbaren Zustände in den Lagern und über die rassistischen Ordnungskräfte. Manche der Refugees haben Pflaster im Gesicht. Spuren von Polizeigewalt, die sie in Neumünster, Köln und Karlsruhe erfahren mussten. Nachdem sie in die dortigen Lager eingedrungen waren, erwarteten sie davor jeweils Polizisten mit Schlagstöcken und Tränengas. Das Vorgehen der Einsatzkräfte war kurz und heftig und blieb bis auf die Blessuren folgenlos. Es gab zwar Festnahmen, aber keiner der Aktivisten wurde für längere Zeit festgehalten, was darauf schließen lässt, dass die Einsätze lediglich der Einschüchterung dienen sollten. Die Protestierer aber lassen sich nicht einschüchtern. Auch an diesem Tag sind Polizisten vor Ort, doch die Stimmung bleibt friedlich. Das Lager selbst liegt weit draußen, in einem Industriegebiet fast am Stadtrand, direkt neben einem Heizkraftwerk. Eigentlich hatte das Land Berlin schon vor Jahren zugesichert, das Lager wegen der dort herrschenden unzumutbaren Zustände zu schließen, doch getan hat sich nichts. Die im Heim wohnenden Flüchtlinge allerdings zeigen sich unbeeindruckt vom Protest. Die meisten befinden sich erst seit wenigen Wochen in Deutschland und wissen noch nicht, was ihnen bevorsteht oder bevorstehen könnte. Dieses Lager dient sowieso nur der Erstunterbringung von Flüchtlingen mit einer maximalen Unterbringungszeit von drei Monaten, danach werden die Menschen auf andere Lager umverteilt, in denen sie dauerhaft leben sollen. Herr Nowak von der Arbeiterwohlfahrt ist zuständig für die Leitung der Einrichtung und besteht darauf, dass es sich hier nicht um ein Lager handelt. Er bevorzugt den Begriff „Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge“ sieht aber ebenfalls, dass die Verhältnisse nicht angemessen sind. Herr Nowak betont, dass sich die AWO um weit bessere Heime in zentralerer Lage bemühe, sich dies aber schwierig gestalte, da immer wieder Anwohner gegen die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften protestieren würden, aus Angst ihre Wohngebiete könnten durch die Anwesenheit von Asylanten und Asylbewerbern im Wert sinken. Was Herr Nowak allerdings nicht erzählt, ist, dass man Menschen, die man weit außerhalb der Städte und Gemeinden unterbringt einfach sehr viel besser kontrollieren kann, weil sie da auch nicht wegkommen.

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Die besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin Kreuzberg, das Winterquartier für protestierende Flüchtlingsfamilien.

Nachdem die Aktivisten der Refugee Kampagne abgezogen sind, komme ich mit Omar aus Syrien, Aziz aus Afghanistan und Youssef aus Palästina ins Gespräch. Sie halten nichts von den Protesten und haben kein Verständnis dafür. Die drei Flüchtlinge sind zum jetzigen Zeitpunkt noch große Fans der Bundesrepublik Deutschland und brennen darauf, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Aziz zum Beispiel versteht überhaupt nicht, was die Protestierer gegen die Polizei haben. Am liebsten würde er selbst gerne Polizist werden—oder Arzt. Irgendwas womit er den Menschen helfen kann. Die anderen Jungs sehen das ähnlich. Studieren wollen sie, eine Ausbildung anfangen und es gebe lediglich drei Sachen, die sie an diesem Auffanglager stören würden und die sich im Grunde wenig von den Forderungen der Aktivisten unterscheiden. Erstens, dass sie hier draußen keine Deutschen treffen könnten, weil das Lager mitten im Nirgendwo liege, zweitens dass sie keine Möglichkeit haben, richtig Deutsch zu lernen, da die angebotenen Kurse vollkommen unzureichend seien und drittens, dass das angebotene Großküchenessen wirklich sehr schlecht sei. Aber noch wollen sie sich darüber nicht beschweren. Noch haben sie Hoffnung, auch wenn Youssef erzählt, dass die Aussichten auf Asyl in Deutschland eher schlecht stünden. Deutschland kann aus politischen Gründen keine Palästinenser aufnehmen, da man ansonsten zugeben müsste, dass Israel das Völkerrecht verletzt. Ein junger Mann mit seinem Leben zwischen den Mühlsteinen der großen Weltpolitik. Bald wird er in ein anderes Lager verlegt. Welches, weiß er noch nicht. Das sei vollkommen willkürlich, erklärt er. Aber er habe Vertrauen in die deutschen Behörden. Noch, denke ich mir, noch.

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Am Tag der großen Demonstration herrscht strahlender Sonnenschein und ausgelassen Stimmung. Die Aktivisten der Bustour werden stürmisch begrüßt und wie Helden gefeiert und auf dem Oranienplatz versammeln sich an die dreitausend Menschen. Schon zu Beginn wird getanzt und gelacht und obwohl es bitterkalt ist, sieht man überall nur fröhliche Gesichter. „No more fear“ tönt es von den Lautsprecherwagen. Statt der anvisierten viertausend Flaggen wurden am Schluss nur vierhundert gedruckt, da für mehr das Geld einfach nicht reichte, aber das stört niemanden. Der Protestzug setzt sich in Bewegung und führt quer durch die Stadt, hinein ins politische Zentrum am Reichstag und Bundeskanzleramt. Von der politischen Elite ist niemand zu sehen und obwohl tatsächlich so Viele gekommen sind, frage ich mich, wen außer mir und ein paar anderen „Zecken“ berührt das Thema eigentlich? Während die Flüchtlinge selbst in dieses Land kommen, weil sie Teil unserer Gesellschaft werden wollen und sich hier ein sicheres Leben und materiellen Wohlstand erhoffen, handelt es sich bei vielen Unterstützern um erklärte Systemfeinde. Nicht ganz zu Unrecht, denn Kapitalismus und Neo-Kolonialismus haben durchaus ihren Anteil an Flucht, Vertreibung und Tod. Aber dennoch könnte der Gegensatz nicht größer sein. Hier Leute, die am liebsten morgen eine Pizzeria eröffnen würden, wenn man sie ließe, dort soziale Dropouts. Mash besteigt den Lautsprecherwagen und greift nach dem Mikrofon. Er brüllt sich die Seele aus dem Leib. „Wir haben das Recht zu lernen! Wir haben das Recht zu arbeiten!“, schreit er in Richtung Bundeskanzleramt und eigentlich sollte die Kanzlerin am Fenster stehen und gut zuhören. Denn aufhalten lassen werden sich diese Menschen nicht. Weder durch meterhohe Zäune noch durch verschärfte Grenzkontrollen. Sie werden kommen und es werden immer mehr sein und vor diesem Hintergrund gewinnen die Worte von Mash fast prophetische Kraft. Zum Abschluss seiner Ansprache brüllt er in den eisblauen Himmel: „This is our Land—Wir werden bleiben!“ Protest vor einem Lager. Die Refugee-Aktivisten versuchen andere Flüchtlinge zu mobilisieren. Die Polizei passt auf, dass das nicht zu gut gelingt.

Die Zustände in der Schule geraten außer Kontrolle. Nur wenige fühlen sich verantwortlich.

3.000 Menschen marschieren durch die Berliner Friedrichstraße, auf dem Weg zum Kanzleramt. Die politische Elite bleibt lieber zu Hause.