Zwischen Straßenprostitution und "grünen Bobos": Das Wiener Stuwerviertel

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Zwischen Straßenprostitution und "grünen Bobos": Das Wiener Stuwerviertel

Wir haben mit den Grätzlbewohnern über verdeckte Drogendeals, die Lage der Sexarbeiterinnen und steigende Mieten geredet.

Alle Fotos von Julius Holländer

Als ich nach Wien zog, lag das Stuwerviertel gleich bei mir ums Eck. Zu dieser Zeit gab es noch eine Menge Sexarbeiterinnen, die dort ihrer Tätigkeit auf der Straße nachgingen. Für jemanden, der frisch aus der Kleinstadt kam, verkörperte das Viertel vieles, was ich mir unter dem Großstadtleben vorgestellt hatte. Das schmuddelige Ambiente des Rotlichtmilieus mischte sich mit der Jahrmarktatmosphäre des angrenzenden Praters und einem bunten Mix aus Menschen auf der Straße. Arabische Ladenbesitzer, Sexarbeiterinnen, Studenten, Sandler und Pensionisten—im Stuwerviertel schienen sie alle in Harmonie nebeneinander zu leben. Die vielen Gemeindebauten, die breiten Straßen und die grünen Altbaualleen verliehen dem Bild einen urbanen, aber auch gemütlichen Charakter.

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Nach einiger Zeit zog ich in ein anderes Grätzl—weit weg vom Stuwerviertel. Hin und wieder las ich Geschichten über Rotlicht, Kriminalität und Drogenproblemen. Mit dem 2011 eingeführten Verbot der Straßenprostitution und dem Bau der benachbarten Wirtschaftsuniversität veränderte sich ein wenig die Berichterstattung. Nun wurde vom Stuwerviertel als neues aufstrebendes Studentengrätzl berichtet, das wohl bald der Gentrifizierung zum Opfer fallen würde.

Der Mythos des Stuwerviertels, mit seinen verrauchten Bars und seinem lasterhaften Ruf, blieb in meinen Hinterkopf jedenfalls lange Zeit bestehen. Irgendwann entschied ich, ein paar Freunde einzupacken und das neue alte Viertel bei Nacht zu erkunden. Der Abend ist nur noch lückenhaft in meiner Erinnerung vorhanden, aber ich weiß noch, dass er meine Faszination für das Stuwerviertel und dessen Bewohner ungemein steigerte.

Dabei hatte das Viertel seinen berühmt-berüchtigten Ruf nicht erst seit kurzem, sondern schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Wurstelprater war zu dieser Zeit bereits als riesiger Vergnügungspark etabliert, in den die Leute kamen, um sich zu amüsieren und ihre Alltagssorgen zu vergessen. Die neu entstandenen Nachtclubs und Bordelle im benachbarten Stuwerviertel wurden schnell beliebt und das Grätzl wuchs mit zahlreichen Laufhäusern, Sexshops und der Straßenprostitution zu einem der größten Rotlichtbezirke Wiens.

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Für mich war es auch ein Jahrhundert später noch ein Abenteuerspielplatz mit dunklen Beisln und interessanten Menschen. Aber wie immer, wenn man etwas nur zoologisch gut kennt, stellt sich irgendwann die Frage, wie die Bewohner eigentlich selbst ihr Viertel empfinden, das in den Medien wahlweise als Problembezirk oder Szeneviertel dargestellt wird. Deshalb habe ich versucht, herauszufinden, was es mit der Prostitution, der Kriminalität und der Gentrifizierung wirklich auf sich hat.

Mein erster Spaziergang durch das Stuwerviertel fiel auf einen verregneten Sonntag. Als erstes steuerte ich die Prater-Lounge an. Mohamed leitet die Shisha-Bar seit vier Jahren und ist in der direkten Umgebung des Viertels aufgewachsen. Das Publikum in seinem Lokal ist vielfältig: Jugendliche und Arbeiter mit Migrationshintergrund, dazwischen ältere Stammkunden und sogar ein vermeintlicher Graf, der Lokalbesucher zu Wetten animiert und diese dann auch großzügig bezahlt. "Es ist ruhiger geworden im Stuwerviertel", sagt Mohamed. "Vor 20 Jahren gab es noch regelmäßig Schießereien im Milieu. Waffen, Drogen oder gefälschte Pässe bekommst du hier zwar immer noch, dafür musst du dich aber auskennen und Kontakte haben."

"Für viele Bewohner sind die Menschen aus dem Rotlichtgewerbe einfach nur Nachbarn, mit denen man sich auf der Straße unterhält."

Ein paar Meter weiter liegt das Café Happy Day—eine Bar, die einem Bukowski-Roman entsprungen sein könnte. Es riecht nach billigem Schnaps und jahrelangem Nikotinkonsum. Ich höre viel über die schillernden Zeiten des Viertels, über einflussreiche Zuhälter und blühende Geschäfte im Untergrund, aber auch über gescheiterte Existenzen, Drogenprobleme und persönliche Tragödien.

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Ich komme mit Franz ins Gespräch. Ihm gefällt das Lokal eigentlich nicht, aber da es sonntags woanders keinen vernünftigen Wein zu dieser Uhrzeit gibt, ist er trotzdem hier. Er wohnt bereits seit 35 Jahren im Stuwerviertel. Mittlerweile hasst er es. Für ihn sind die Probleme im Viertel vielfältig: Illegale Sexarbeiterinnen aus Osteuropa, die sich auf der Straße ausbreiten, steigende Mieten—verursacht durch die "grünen Bobos"—und die Verdrängung österreichischer Lokale durch ausländische Gewerbetreiber. Dazu kämen noch neue Jugendbanden, Salafistengruppen und drohende Konflikte im Rotlichtmilieu—Franz stellt eine dunkle Zukunftsprognose für sein Viertel.

Im Max-Winter-Park liegt das Büro der Gebietsbetreuung 2/20. Hier schätzt man die Stimmung im Stuwerviertel etwas anders ein. Michael Pepescu sieht die Entwicklungen sehr positiv. Durch die neue WU und den Bauprojekten am Nordbahnhof sei das Viertel für viele attraktiver geworden, vor allem für Studenten. "Viele Menschen glauben, dass im Stuwerviertel immer noch Zustände wie vor 100 Jahren herrschen. Dabei gibt es eine konstante positive Entwicklung", so Pepescu.

Das Rotlichtmilieu sieht er nicht mehr als Problem—seit der Festlegung der strengeren Gesetze sei Straßenprostitution nicht mehr wahrnehmbar und auch die Beschwerden der Anrainer seien über die Jahre zurückgegangen. Patrick Maierhofer, Pressesprecher der Polizei Wien, bestätigt in Bezug auf die Straßenprostitution diese Entwicklung: Nur noch vereinzelt würde man Sexarbeiterinnen aufgreifen, die ihre Dienste auf der Straße anbieten; damit dies so bleibe, wurden allein im Vormonat 18 Kontrollgänge durchgeführt.

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Durch verschiedene Veranstaltungen, wie Wochenendmärkte oder das jährliche Stuwerviertelfest, versucht die Gebietsbetreuung den alten Ruf des Viertels zu bekämpfen. Die steigende Attraktivität zeichnet sich schon am Wohnungsmarkt ab. "Wohnraum ist teurer und knapper geworden im Stuwerviertel, allerdings ist Wohnungsknappheit und die damit verbundene Preissteigerung ein generelles Problem in Wien", erklärt Pepescu.

Zwei Straßenecken weiter liegt das Café Pam-Pam. Eröffnet wurde es vor 46 Jahren; seither hält es sich als feste Größe im Rotlichtmilieu des Stuwerviertels. Den Betreiber kennt jeder im Grätzl. Ihm gehören wohl mehrere einschlägige Lokale in der Umgebung, erzählen mir einige Anrainer. Als ich ihn vor Ort nach seiner Sicht der Dinge frage, bekomme ich allerdings nur einsilbige Antworten. Die Geschäftslage würde sich, aufgrund mangelnder Kundschaft, laufend verschlechtern. Die Schuld sieht er beim Magistrat und den "grünen Politikern", die sich für schärfere Regulierungen im Rotlichtbereich stark gemacht hätten. Birgit Hebein, Landtagsabgeordnete der Grünen, erklärt diesbezüglich: "Die Wiener Grünen haben sich nicht für ein Verbot stark gemacht, sondern für Erlaubniszonen, legale Wohnungsprostitution und legale Anbahnung vor Lokalen." Die Schaffung von sicheren und selbstbestimmten Rahmenbedingungen für Sexarbeiterinnen, sieht sie als gesellschaftspolitischen Auftrag.

Widerstand gegen die neuen Verordnungen gibt es auch von Seiten der Anrainer. Hinter der Initiative "Rotlicht statt Blaulicht" steht eine Gruppe von Viertelbewohnern, die die strengen Gesetze vor allem als Maßnahme sehen, das Viertel als "aufgewertete Wohngegend zu präsentieren". Durch das Verbot der Straßenprostitution würden viele Sexarbeiterinnen gezwungen, ihre Unabhängigkeit aufzugeben und in "Studios" zu arbeiten, in denen Arbeitsbedingungen und Bezahlung schwer zu kontrollieren seien.

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"Weißt du, warum es so teuer geworden ist? Weil die Kriminalität stark abgenommen hat. Jetzt ziehen alle wieder her. Vielleicht sollte mal wieder was passieren."

Nach dem Gesetzesbeschluss hatte es außerdem strenge Polizeikontrollen im Viertel gegeben, von denen sowohl Sexarbeiterinnen als auch Anrainer betroffen waren. Die Mitglieder der Initiative stellen sich gegen die Gentrifizierung im Viertel und die Verdrängung der Sexarbeiterinnen. Neben der Bewahrung des Rotlichtmilieus als Teil der Viertelgeschichte zählt für sie auch der persönliche Aspekt: "Für viele Bewohner sind die Menschen aus dem Gewerbe einfach nur Nachbarn, mit denen man sich auf der Straße unterhält."

Wie in jedem sozial durchmischten Viertel gehören zu diesen Nachbarn auch hier nicht nur Alteingesessene. Im Café Dezentral am Ilgenplatz treffen sich eher Studenten, Intellektuelle und Akademiker. Das Ambiente ist alternativ bis hip und als ich vorbeikomme, sitzt vor dem Lokal eine Gruppe Anrainer. Es ist eine angenehme Atmosphäre, man grüßt die vorbeigehenden Nachbarn. Immer wieder kommen neue Leute dazu und bleiben für einen kurzen Plausch stehen. Auf Zusammenhalt und Austausch in der Nachbarschaft scheint hier viel Wert gelegt zu werden.

In der Gruppe sieht man die Stimmung im Stuwerviertel sehr ruhig. Mit Sexarbeiterinnen habe man keine Probleme, aufdringliche Situationen hatte es auch in der Vergangenheit kaum gegeben. Den Zuzug der Bobos hat man auch hier bemerkt: teure Kinderwägen auf den Straßen und protzige Dachausbauten. "Weißt du, warum es so teuer geworden ist?", fragt mich einer der Anrainer. "Weil die Kriminalität stark abgenommen hat. Jetzt ziehen alle wieder her." Im Spaß fügt er noch hinzu: "Vielleicht sollte mal wieder was passieren".

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Die mangelnde Infrastruktur sei mittlerweile ein größeres Problem als die Kriminalität im Grätzl. Bis auf ein paar Überbleibsel und viele Legenden sei vom alten, berüchtigten Stuwerviertel heutzutage kaum noch etwas übrig, ist man sich hier sicher. Auch aus Sicht der Polizei Wien gab es übrigens nie ein größeres Kriminalitätsproblem im Stuwerviertel, erklärt Patrick Maierhofer: Mit seinen vielen Beisln und Lokalen sei das Grätzl zu belebt, um ein ideales Umfeld für kriminelle Aktivitäten zu bieten.

Wie ein Künstlerverein im Brunnenviertel gegen Gentrifizierung kämpft

Die Kriminalität ist gesunken und die Straßenprostitution trotz geteilter Ansichten staatlich reguliert. Die Lage im Stuwerviertel hat sich beruhigt. Gentrifizierung und steigende Mieten scheinen inzwischen das größte Problem zu sein. Trotzdem haben das Grätzl und seine Bewohner aktuell immer noch Ecken und Kanten. Sich diese Unangepasstheit zu bewahren, ohne ins Reaktionäre abzudriften, wird—genau wie in anderen Vierteln auch—die große Herausforderung des Stuwerviertels sein.

"Das Besondere am Grätzl? Es ist wurscht, wer du bist—egal ob Beamter oder Sandler, jeder kommt mit dem anderen klar", erklärt mir Mohamed am Ende unseres Gespräches. "In zehn Jahren wird sich im Stuwerviertel aber einiges verändert haben. Durch die derzeitige Aufwertung zieht es eine Menge Studenten und Unternehmer ins Viertel. Die Stadt Wien wird sich ihre Bauprojekte nicht versauen lassen", fügt er hinzu und lacht.

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