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In Lettland ist gestern die Waffen-SS marschiert

Die jährliche Demonstration wird von der Regierung nicht nur geduldet, der Protest dagegen wird sogar unterdrückt.
Foto vom „Tag der Legionäre“ 2012: imago | ITAR-TASS

Gestern zogen die letzten Überlebenden der lettischen Waffen-SS am sogenannten „Tag der Legionäre" durch die Hauptstadt Riga. Mit einem Gottesdienst, einem Umzug und einer Kundgebung inklusive Fahnen am Freiheitsdenkmal erinnerten die ehemaligen SS-Mitglieder an eine Schlacht im Jahr 1944 gegen die Rote Armee (die den Siegeszug der Sowjettruppen jedoch nicht aufhalten konnte).

Die Mitglieder der lettischen Waffen-SS wurden lange Zeit ganz offiziell gefeiert. Von 1991 bis 1998 war der „Tag der Legionäre" sogar Nationalfeiertag. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatte die Sowjetunion Lettland 1939 besetzt und rund 15.000 Bürger nach Sibirien deportiert. Nachdem die Wehrmacht 1941 das Land eroberte, sahen einige Letten die Deutschen als Befreier an. Viele Letten traten der „Lettischen Legion" der Waffen-SS freiwillig bei. Mitglieder lettischer Strafkommandos des Sicherheitsdienstes (SD) wurden ebenfalls in die Legion eingegliedert. Vorher ermordeten sie Tausende Juden, Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer. Die ehemaligen „Legionäre" sehen sich bis heute als Verteidiger der Heimat gegen die Sowjetunion.

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Diese Demonstration wird von der lettischen Regierung nicht nur geduldet, sondern dem Protest dagegen auch immer wieder Steine in den Weg gelegt. So wollte auch die deutsche Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) am Mittwoch demonstrieren. Doch wie die Organisation am Dienstag auf Facebook meldete, wurden der Geschäftsführer der Bundesvereinigung, Thomas Willms, sowie weitere Mitglieder am Flughafen von Riga verhaftet. „Man sagte mir, aus ‚immigration reasons' und aufgrund einer ‚black list' aus Riga dürfe ich nicht einreisen", erklärte Cornelia Kerth, die Bundesvorsitzende des Vereins, die noch in Deutschland am Besteigen des Fliegers nach Riga gehindert wurde, gegenüber VICE. „Kollegen aus Berlin, die nicht mit Air Baltic geflogen sind, wurden am Flughafen in Riga verhaftet und mit einem Gefangenentransporter an die litauische Grenze gebracht."

Lettische Antifaschisten haben als Bündnis „Lettland ohne Nazismus" trotzdem versucht, gegen den Tag zu demonstrieren. „Wir waren etwa 200 Gegendemonstranten, am ‚Tag der Legionäre' nahmen vielleicht 1.000 bis 1.500 Menschen teil", erzählt Joseph Koren von „Lettland ohne Nazismus". „Die Stadt hat uns strikte Auflagen erteilt. Wir haben die Namen von Schoah-Opfern vorgelesen. Als die Legionäre in Hörweite waren, mussten wir damit aufhören, „um die Demonstration nicht zu stören."

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Wieso wird diese Demonstration von SS-Veteranen überhaupt geduldet? Um das zu verstehen, haben wir mit Tatjana Ždanoka über den „Tag der Legionäre" gesprochen. Die 65-Jährige ist Teil von „Lettland ohne Nazismus" und Europaparlamentsabgeordnete (Europäische Grüne). Sie gilt als pro-russisch.

Tatjana Ždanoka. Foto: imago | ITAR-TASS

VICE: In Riga marschieren heute ehemalige Waffen-SS-Mitglieder. Was feiern diese Leute?
Tatjana Ždanoka: Sie sagen, es geht um die Verteidigung Lettlands gegen die Sowjetunion. Am 16. März fand eine Schlacht der lettischen Waffen-SS-Verbände gegen die Rote Armee statt. Es ist jedoch etwas komplizierter. Im Laufe des Kriegs wurden die berüchtigten lettische Verbände des Sicherheitsdienstes der SS in diese Legion eingegliedert. Diese Menschen haben fast alle lettischen und auch polnische und litauische Juden umgebracht. Mein Vater war Jude und fast seine ganze Familie wurde ermordet.

Wie steht die Bevölkerung dazu?
Als es für die Deutschen im Krieg schlechter aussah, wurden viele Letten in die Waffen-SS zwangsrekrutiert. In fast jeder lettischen Familie gibt es jemanden, der „Legionär" war. Deswegen sagen sie, es geht nicht um Nazikult. Zu behaupten, sie waren nicht in Kriegsverbrechen verwickelt, ist jedoch nicht wahr.

Von diesen Menschen leben nur noch sehr wenige, vielleicht zehn nehmen an dem Marsch teil. Viele sind nach dem Krieg in die USA und nach Australien emigriert. Gleichzeitig haben im Zweiten Weltkrieg Letten auf Seiten der Roten Armee gekämpft. Gefährlich sind heute jedoch die jungen Unterstützer, Neonazis aus dem Baltikum, Russland und der Ukraine.

Wie geht der Staat mit diesem Tag um?
Der „Tag der Legionäre", der seit der Unabhängigkeit Lettlands 1991 gefeiert wird, war 1998 und 1999 sogar Nationalfeiertag. Dank unserer Proteste und internationalem Druck wurde er wieder abgeschafft. Laut einer offiziellen Erklärung sind die Legionäre „Kämpfer für die Lettische Republik". Heute ist mit der Nationalen Allianz eine extrem rechte Partei an der Regierung beteiligt. Der Stadtrat von Riga privilegiert außerdem die Demonstration der Legionäre und ihrer Unterstützer.

Während wir letztes Jahr noch in unmittelbarer Nähe protestieren konnten, darf unsere Kundgebung nur 200 Meter entfernt in einem Park ohne Soundanlage stattfinden. Wir sind eine kleine Gruppe, vielleicht 50 Leute, die gegen Hunderte Rechte demonstriert.