Porträt der geflüchteten Aktivistin Fatemeh Khavari, Frau in Schwarz, gelber Hidschab
Fotos von Elisabeth Ubbe

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The Power and Privilege Issue

Diese Teenagerin führte Massenproteste gegen die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge an

Im Iran war sie Bürgerin zweiter Klasse. In Schweden mobilisierte sie aus Solidarität mit anderen Geflüchteten ein ganzes Land. Fatemeh Khavari erzählt in ihren eigenen Worten, wie es dazu kam.

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Der Anruf eines Freundes gab mir den Rest. An einem Sommerabend 2017 erzählte er mir, Schweden habe seinen Asylantrag zum dritten Mal abgelehnt. Er werde nach Afghanistan abgeschoben – dabei hatte er noch nie einen Fuß in das Land gesetzt. Er weinte. Er konnte nicht mehr. Und ich auch nicht. Ich war so wütend darüber, wie die schwedische Regierung afghanische Geflüchtete behandelte, dass ich etwas unternehmen musste. Ich rief alle Leute an, die ich kannte, und bat sie, mit mir eine Sitzblockade vor dem Parlament in Stockholm zu starten. Niemand von uns ahnte, dass unser Protest 56 Tage andauern würde.

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Vor vielen Jahren flohen meine Eltern aus Afghanistan in den Iran. Meine Geschwister und ich wurden dort geboren, doch für die Regierung waren wir illegale Einwanderer. Menschen zweiter Klasse, denen keinerlei Hilfe von den Behörden zustand. Zur Schule durfte ich nicht, lesen und schreiben lernte ich in einer Moschee.

Unser Leben war hart. Als ich acht oder neun Jahre alt war, schoben sie meinen Vater nach Afghanistan ab. Wir hörten nie wieder von ihm. Mit 14 ernährte ich meine Familie mit, indem ich Gedichte und Zeichnungen verkaufte. Ich wollte schon immer Künstlerin sein, unsere Geschichte in Bildern erzählen. Als Iranerin fühlte ich mich nie, obwohl ich dort geboren und mit Sprache und Kultur aufgewachsen war.


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Mein Bruder Mostafa reiste 2013 allein nach Schweden. Er bekam eine Aufenthaltserlaubnis mit dem Recht auf Familienzusammenführung. 2015 folgten meine Mutter, meine Geschwister und ich. Auch in Schweden fühlte ich mich fremd, aber eher aufgrund von Äußerlichkeiten wie meinem Hidschab. Aus der Gesellschaft ausgegrenzt fühlte ich mich nicht. Ich durfte zur Schule und musste mich nicht länger vor den Behörden verstecken.

Anders als im Iran hieß man uns in Schweden willkommen. Dennoch schiebt die Regierung hier Flüchtlinge in ein Land ab, in dem viele von ihnen noch nie waren. In Afghanistan herrschen die Taliban, herrscht Chaos, täglich kommt es zu Anschlägen – dort gibt es keine Zukunft für junge Menschen wie mich. Dass die Regierung Leute in meinem Alter dorthin schickte, machte mich fassungslos.

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Unser Protest begann am 6. August 2017. An dem Tag gründeten wir unsere Organisation für unbegleitete geflüchtete Minderjährige: Ungi Sverige, "Jung in Schweden". Wir wollten die Menschen neugierig machen. Auf ein Banner schrieben wir: "Wenn du meinst, dass ich ein Recht auf Leben habe, setz dich zu mir" – auf Englisch, damit die vielen Touristen in Stockholm es auch verstanden.

Anfangs waren wir zu zehnt. Wir kauften uns Essen von dem Geld, das wir dabeihatten. Fremde Menschen brachten uns Sandwiches, Obst, Regenjacken, warme Kleidung und Schlafsäcke. Am ersten Abend kampierten 60 Personen auf dem Platz.

Ich schrie, dass wir Asyl wollen. Dass wir kein Land haben. Dass es erniedrigend ist, dem Krieg zu entkommen, nur um wieder angegriffen zu werden.

Am dritten Tag griffen uns etwa 15 Mitglieder der Neonazi-Gruppe Nordisk Ungdom ("Nordische Jugend") an. Sie beschimpften uns und warfen Rauchbomben. Fünf von uns mussten mit Verletzungen ins Krankenhaus. Die Polizei vertrieb die Neonazis, verhaftete aber niemanden.

Einige hatten den Angriff gefilmt und live gestreamt, bald erschienen Medienvertreter. Ich stand auf dem Platz und schrie. Ich war erschöpft vom Schlafen im Freien. Ich schrie, dass wir Asyl wollen. Dass wir kein Land haben. Dass es erniedrigend ist, dem Krieg zu entkommen, nur um wieder angegriffen zu werden. Bald kamen sehr viele Menschen, um uns zu unterstützen. Sie hatten die Videos gesehen.

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Die Polizei schickte uns zu unserem eigenen Schutz an einen neuen Ort: Medborgarplatsen, ein großer Platz im Bezirk Södermalm. Der Platz vor dem Parlament sei zu offen, dort könne man uns nicht schützen. Jemand könne etwa ein Fahrzeug in die Menge lenken, hieß es. Am Medborgarplatsen konnten wir auf einer großen Treppe sitzen. Mehr als 1.000 Menschen marschierten zusammen dorthin. Ich hatte Angst, aber die viele Unterstützung machte mich unfassbar glücklich.

Jeden Tag sendeten wir live auf Facebook aus unserem neuen Protest-Camp. Menschen aus ganz Schweden reisten an, um bei uns zu sein. Eine Familie verbrachte sieben Tage mit uns im Freien, statt wie geplant Urlaub in Brasilien zu machen.

Wir hatten eine kleine Freiluftküche. In der nahegelegenen Bibliothek liehen wir Bücher für die Jugendlichen und verteilten Stifte und Papier an alle, die zeichnen wollten. Abends, wenn viele Leute heim gingen, erzählten wir Übrigen uns Geschichten übers Leben und Leiden.

Am 19. August veranstaltete eine rechtsextreme Facebook-Gruppe eine Gegendemo in unserer Nähe. Die rechte Partei "Die Schwedendemokraten" unterstützte sie.

Als Antwort versammelten wir mehr als 1.000 Asylsuchende, Schwedinnen und Schweden auf dem Medborgarplatsen. Wir hielten weiße Schilder mit roten Herzen drauf. Diese Solidarität machte uns so froh. Die paar Hundert Rassisten bekamen kaum Aufmerksamkeit.

Nach fast zwei Monaten endete unser Protest. Die Abschiebungen gehen weiter, aber wir haben uns in ganz Schweden Gehör verschafft. Im Sommer 2018 verhinderte die schwedische Studentin Elin Ersson eine Abschiebung, indem sie sich im Flugzeug weigerte, sich hinzusetzen – einer ihrer Mitpassagiere sollte nach Afghanistan geschickt werden. Sie ist eine von vielen, die sich für Menschen wie mich stark machen.

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Im Juni verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das 9.000 jungen Geflüchteten den Aufenthalt in Schweden ermöglichen sollte. Die Gerichte erkannten das Gesetz aber nicht an. Die Idee dahinter war gut, doch das hat nicht gereicht.

Viele junge Menschen müssen weiterhin die Abschiebung fürchten: nie wieder Abhängen mit den anderen aus der Schule, nie wieder Fußball mit den Freunden. Womöglich schließen sich einige von ihnen in Afghanistan den Taliban an, das ist tragischerweise nun einmal ihre beste Chance zu überleben. So schüren diese Abschiebungen nur weitere Gewalt und lösen die nächste große Fluchtwelle aus.

Wenn wir der Welt Frieden bringen wollen, müssen wir hier und jetzt damit anfangen. Indem wir all jenen, die im Hass aufgewachsen sind, Liebe schenken, schaffen wir die Zukunft, die uns zusteht.

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