Screenshot aus Sea of Solitude
Die Hauptfigur von 'Sea of Solitude' | Screenshot: Electronic Arts | IGDB Press Kit
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Fünf Games gegen Ängste und Depressionen, die dir ein besseres Gefühl geben

In 'Bound' tanzt du die Vergangenheit weg und in 'SelfCare' erledigst du entspannte Aufgaben in einem kuscheligen Schlafzimmer. Wir haben mit den Entwicklerinnen und einer Therapeutin gesprochen.

Auf offener See kämpft ein Mädchen um ihr Leben. Wütend schlagen die Wellen gegen ihr Boot, als plötzlich ein Seeungeheuer auftaucht und das Kind beschimpft: "Du Versagerin, du bist zu nichts zu gebrauchen! Du bist eine Enttäuschung!" Das Videospiel Sea of Solitude handelt von Selbstzweifeln, Hoffnungslosigkeit und Depression. Aber es zieht die Spielenden nicht runter, im Gegenteil.

Die Szene mit dem schimpfenden Ungeheuer ist der Auftakt für eine rund fünfstündige Aufarbeitung von Leidensgeschichten, entworfen von den Berliner Entwicklerinnen der Firma Jo-Mei. Sea of Solitude hält dabei immer auch eine Lektion bereit. Es konfrontiert Spielende nicht nur mit schmerzvollen Geschichten, sondern hilft ihnen, neue Perspektiven zu finden.

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Es ist nur eines von vielen neuen Spielen über Mental Health, die Geschichten von den schwersten zwischenmenschlichen Konflikten erzählen. Die Spiele können eine emotionale Stütze sein, aber sie sind kein Ersatz für eine Therapie. Sie können das Wohlbefinden vorübergehend steigern, aber nicht Probleme dauerhaft lösen.

Wir haben mit Entwicklerinnen und einer Therapeutin über Spiele gesprochen, die Gamern ein besseres Gefühl geben sollen – und in welchem Rahmen das überhaupt funktioniert. Dabei haben wir darauf geachtet, dass jeder Titel auch von Menschen gespielt werden kann, die nur selten das Gamepad in die Hand nehmen.

'SelfCare': Entspannte Aufgaben in einem kuscheligen Schlafzimmer

Mit #SelfCare haben Brie Code und Eve Thomas eine App entwickelt, die eine Vielzahl von Minispielen vereint: Spielende können ein virtuelles Bücherregal einräumen, Atemübungen trainieren, im Raum verteilte Kerzen anzünden oder meditieren. Das Hauptmenü ist ein gemütliches Schlafzimmer, von wo aus sich die Minispiele mit dem Finger starten lassen. Die Minispiele sind simpel und kurz. Sie lassen sich auch an der Bushaltestelle oder auf dem Klo durchspielen.

Hunderttausende Spielende haben der App seit ihrer Veröffentlichung die Höchstbewertung gegeben. In den Kommentaren berichten viele davon, wie ihnen #SelfCare helfen konnte. "Die App hat mir durch die harten Wochen nach meiner letzten Trennung geholfen, ich fühlte mich nicht mehr so allein", schreibt ein Spieler, eine andere schreibt: "Ich liebe diese App einfach. Es macht Spaß, jeden Tag ein neues Feature freizuschalten und seinen eigenen kleinen Raum zu haben."

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Auch die Psychotherapeutin Sonia Kessler-Scheil sieht in der App einen therapeutischen Nutzen. Die Minispiele könnten nachhaltig die Symptome psychischer Beschwerden wie Angststörungen oder Depressionen lindern, erklärt sie im Gespräch mit VICE. Anders als Sea of Solitude spricht #SelfCare dabei nicht konkrete Probleme an, sondern hilft Spielenden, sich von schwierigen Situationen abzulenken. Aber ist Ablenkung wirklich eine gute Idee? Die Expertin sagt Ja: "Es ist ein gesundes menschliches Verhalten, schlechten Gedanken und Sorgen vorübergehend zu entfliehen. Verdrängung oder auch Ablenkung sind Abwehrmechanismen der Psyche, die eine Schutzfunktion erfüllen."

Die Therapeutin warnt aber davor, sich in einer schwierigen Lebenslage allein mit Spielen abzulenken. "Wenn mein Wohlbefinden komplett abhängig von einem Mobile Game ist, dann wird es problematisch, weil das sogenannte Selbstwirksamkeitserleben eingeschränkt wird." Selbstwirksamkeit ist das Gefühl, Einfluss auf das eigene Leben zu haben, und auch im Angesicht schwieriger Situationen auf die eigenen Kompetenzen vertrauen zu können. Ohne Selbstwirksamkeit fühlen wir uns Kessler-Scheil zufolge hilflos. "Vorübergehende Ablenkung ist völlig OK, solange daneben weitere Bewältigungsstrategien existieren, die einem bei der Überwindung von Problemen helfen."

'Florence': Das Lieben der anderen

Im Mobile Game Florence geht es nicht um Ablenkung, sondern um Drama. Die Spielenden erleben die Geschichte von zwei Menschen, die sich verlieben, zusammenziehen und sich schließlich trennen, sie fühlen die Sorgen und Ängste, aber auch die schönen Momenten der Beziehung mit.

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Gemeinsam mit dem Paar putzen die Spielenden mit Wischbewegungen abends gemeinsam vor dem virtuellen Spiegel die Zähne, helfen beim Formulieren liebevoller Chat-Nachrichten. Die Konfrontation mit Liebe und Kummer kann gerade für Menschen mit Herzschmerz eine Stütze sein.

Therapeutin Sonia Kessler-Scheil erklärt das mit dem sogenannten Big-Brother-Effekt: "Wir bilden pausenlos Hypothesen über die inneren Vorgänge anderer. Das ist urmenschlich. Deshalb schauen wir gerne anderen Leben zu – Big Brother ist nur ein Beispiel." Wie Kessler-Scheil erklärt, versetzen wir uns dabei instinktiv in die Situationen anderer Menschen und vergleichen deren Verhalten mit unseren Erfahrungen. Deswegen könne das Miterleben von Konflikten von Figuren wie in Florence entlastend wirken. "Wir haben dann das Gefühl, mit unseren Problemen nicht alleine zu sein."

Doch auch hier sieht die Therapeutin Grenzen: Selbst wenn Spiele mit ihren Geschichten spürbar das eigene Wohlbefinden steigern, dürfe die virtuelle Welt nicht der einzige Ort sein, an dem Menschen nach Austausch suchen: "Der Kontakt mit echten Menschen ist unschlagbar in seinem Heilungspotential und in seiner Komplexität. Die Kommunikation mit einer virtuellen Figur ist einfach deutlich weniger nuanciert."

Games wie diese können helfen und stützen, aber sie können nie eine Therapie ersetzen – und den ganzen Alltag sollten sie auch nicht vereinnahmen. "Es gibt durchaus Warnsignale, die man ernst nehmen sollte. Wenn ein Spiel zu einer Obsession, zu einer Fixierung wird, dann sollte man innehalten", sagt Psychotherapeutin Sonio Kessler-Scheil. Die Expertin empfiehlt in diesem Fall, das eigene Spielverhalten mit den typischen Symptomen für Abhängigkeit abzugleichen.

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Warnsignale sind zum Beispiel, wenn Spielende Hobbys, Beruf, Freunde und Familie vernachlässigen und nicht mehr kontrollieren können, wann und wie lange sie spielen. Wenn all das klappt, können Videospiele aber Trost und Hoffnung spenden und schwierige Lebenslagen zumindest ein wenig erträglicher gestalten.

'Gris': Die ewige Suche nach dem Ausweg

Gris ist der Name eines Mädchens, das in einer Traumwelt gefangen ist: der Welt ihres eigenen Kummers. Sprung um Sprung erkunden Spielende in diesem Plattformer neue Auswege aus dem Kummer. Während die Spielenden von Level zu Level gelangen, führen sie Gris zu neuen Erkenntnissen, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgehen kann. Mit der Zeit werden immer mehr Pfade sichtbar, die zuvor versperrt waren: Über riesige, steinerne Hände wandelt Gris in den nächsten Level, balanciert auf der Stirn einer Riesin und hangelt sich durch einen Urwald überlebensgroßer Fantasiepflanzen.

Die Botschaft von Gris ist klar: Es lohnt sich, Mut zu sammeln und sich durch schwierige Momente zu beißen. Der Weg macht einen stärker und eröffnet neue Perspektiven.

Auf Steam gibt es dafür über 8.000 positive Bewertungen, obwohl der Schwierigkeitsgrad des Spiels vergleichsweise hoch ist. Spielende müssen Rätsel lösen, geschickt Abgründe überwinden und auf Luftströmungen durch die Level gleiten. Auch darin liegt eine Botschaft: Der Weg von Gris ist nicht leicht. Aber ist ein Spiel mit hohem Schwierigkeitsgrad überhaupt eine gute Idee, wenn es den Spielenden gerade nicht gut geht?

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Die Entwicklerin Leonie Wolf erforscht am Cologne Game Lab das therapeutische Potential von Videospielen. Ihrer Recherche zufolge hat das sogenannte "meaningful task-fulfillment" eine wichtige Rolle in Therapiespielen. "Das heißt, dass Spielern eine Reihe von Aufgaben gegeben wird, die sie beschäftigen und deren Lösung ihnen ein Gefühl von Erfolg vermitteln", sagt sie im Gespräch mit VICE. "Die Aufgaben sollten im Spielkontext sinnvoll und vom Schwierigkeitsgrad angepasst sein."

'Bound': Die Vergangenheit wegtanzen

Bound geht noch abstrakter mit Trauer und Depressionen um und appelliert an unsere Fantasie. Spielende steuern eine Balletttänzerin durch eine surreale Traumwelt, die ständig ihr Aussehen verändert. Der Entwickler sieht die bunten, geometrischen Landschaften als eine Hommage an die moderne Kunst des frühen 20. Jahrhunderts. Begleitet wird die Tänzerin mal von klassischen Streichern, mal von temporeichen elektronischen Klängen.

Wer will, kann seinen Weg durch die Welt von Bound einfach als Traumreise begreifen. Mit etwas Fantasie lassen sich in den Monstern der Spielwelt aber die Verkörperungen von Traumata, Ängsten und schlimmen Kindheitserinnerungen erkennen. Gegen die Monster können die Spielenden nicht kämpfen, aber sie können sie leichtfüßig umtanzen.


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Sowohl Bound als auch Gris sind Plattformer, die Spielende vor allem mit Geschicklichkeitsübungen herausfordern. Die Entwicklerin Mel Taylor arbeitet gerade selbst an einem Spiel über Traumata und Depressionen – und hält Plattformer für ein besonders geeignetes Genre, um persönliche Geschichten zu erzählen. "Die meisten Spielenden wissen hier instinktiv, was zu tun ist, und müssen keine Spielmechaniken lernen. Das lässt Raum für mehr Story." In den Herausforderungen von Plattformern sieht Taylor die Dramaturgie einer emotionalen Selbstfindung: Berge erklimmen, Abgründe überspringen, hier passen Spielwelt und Gefühlswelt zusammen.

Du leidest an Depressionen oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist 0800 111 0 111. In dieser Liste sind bundesweite Anlaufstellen für Menschen mit Depressionen aufgeführt. Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist 143. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Den Notfallpsychologischen Dienst erreichst du hier unter 0699 18 85 54 00.

Update, 16. August 2019, 17.45 Uhr: Wir haben das Zitat von Leonie Wolf angepasst, um klar zu machen, dass sie sich auf ihre Forschung bezieht und nicht auf einzelne Spiele.

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