G20: Aktivisten starten mit der Untersuchung von Polizeigewalt – schwere Vorwürfe gegen die Polizei
Polizeieinsatz auf der "Welcome to Hell"-Demo | Foto: imago | Lars Berg

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G20: Aktivisten starten mit der Untersuchung von Polizeigewalt – schwere Vorwürfe gegen die Polizei

Die Rede ist von Aktenmanipulation und Aussagekomplotten.

"Polizeigewalt hat es nicht gegeben", das hat Hamburgs Oberbürgermeister Olaf Scholz schon wenige Tage nach dem G20-Gipfel im Juli vergangenen Jahres festgestellt. Wer etwas anderes behauptet, betreibe "Denunziation" – dabei gab es bereits zu diesem Zeitpunkt 35 Untersuchungsverfahren gegen Polizeibeamte. Nach diesen Aussagen könne man der Landesregierung nicht trauen, befand eine Gruppe von Aktivisten und gründete im November den "Außerparlamentarischen Untersuchungsausschuss G20", kurz G20ApUA, der die juristische Aufarbeitung des G20-Gipfels begleitet.

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"Da sich jeden Tag erneut zeigt, dass von offizieller Seite keine Aufklärung zu erwarten ist – und schlimmer noch: dass diese aktiv behindert wird –, werden wir das nun selbst in die Hand nehmen", so beschreiben die Aktivisten in einer Presseerklärung vom 16. Januar ihre Arbeit. Sie kommen aus verschiedenen Initiativen, die sich sonst ganz anderen Problemen widmen: Sie helfen Geflüchteten, engagieren sich gegen Gentrifizierung oder haben beim "Alternativen Medienzentrum" zum G20-Gipfel die Öffentlichkeit aus der Sicht der Demonstranten informieren wollen, um der Polizei nicht die "Deutungshoheit" zu überlassen. Sie sammeln Informationen und besuchen die Verhandlungen: "Wir sitzen in den Prozessen und werden Zeugen von mehr als zweifelhaften Aussagen der beim G20 eingesetzten Beamt*innen", beschreiben sie ihre Arbeit selbst.

Angriffe auf Berliner Polizisten bei der "Welcome to Hell"-Demo | Foto: imago | xim.gms

Die linken Prozessbeobachter beziehen ihre Informationen derzeit nur aus öffentlichen Quellen. Ulrike Lemke ist Mitglied des Ausschusses und berichtet VICE vom Prozess gegen Christian R., den sie beobachtet hat. Für einen Flaschenwurf auf einen Polizisten bei der "Welcome to Hell"-Demo im Vorfeld des G20-Gipfels wurde er am 9. Januar zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Es ist das bisher härteste Urteil in den G20-Prozessen. Er habe bei einer Bierflasche den Boden abgeschlagen, diese dann geschleudert und damit einen Polizisten getroffen, R. bestreitet das nach wie vor. Dann wird es allerdings unübersichtlich. Ein Polizist, der als Zeuge aufgetreten war, behauptete in seinem Zeugenbericht und bei seiner Aussage vor Gericht unterschiedliche Dinge. Das berichtet der G20ApUA, Anwalt Wisbar bestätigt das. In der schriftlichen Aussage von vier Polizisten, die Zeugen des Angriffs waren, hieß es, der Treffer mit der Flasche habe zu einer leichten Rötung am Ellenbogen geführt, die nicht behandelt werden musste. Einer aber schrieb, dass es zu einer Verletzung an der Hand gekommen sei, die auch behandelt werden musste. Einige Zeit später schrieb der Polizist dann plötzlich in den Bericht, es sei durch den Angriff doch zu der Rötung am Ellenbogen gekommen, so wie das alle anderen auch behauptet hatten. Er erklärte das damit, dass der betroffene Kollege unterdessen aus dem Urlaub zurückgekommen sei und ihn auf den Fehler hingewiesen habe. Das könne aber auch nicht sein, so Wisbar: Zu dem Zeitpunkt, als der Bericht korrigiert worden war, war der verletzte Kollege noch im Ausland im Urlaub gewesen.

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Auf den veränderten Bericht hatte der Polizist aus Berlin vermerkt: "Jetzt sollte es passen." Matthias Wisbar bekam den Vermerk im Prozess zu sehen, erzählt er VICE. So sandte der Polizist den Bericht an die Sonderkommission "Schwarzer Block" in Hamburg, wo er es allerdings nicht in die Akte schaffte. Der Beamte, an den der Bericht adressiert war, war unterdessen aus der Soko abgezogen worden. Und so stellte der Berliner Kollege im Gerichtssaal seinen neuen Bericht vor, während in der Akte noch der alte lag, den die Verteidigung und das Gericht vorliegen hatten – gemerkt hat er das erst, als ihn Verteidiger Wisbar darauf hinwies. Wisbar warf ihm daraufhin vor, die Prozessakten manipuliert zu haben. Auch hätten sich alle fünf Zeugen vor Beginn der Hauptverhandlung noch einmal getroffen, wie sie selbst im Gerichtssaal berichteten, drei von ihnen sagten auch aus, dass sie sich über das Geschehene "ausgetauscht" hätten. Zwei der Beamten hingegen sagten im Prozess über das Treffen, das erst wenige Tage zurückgelegen hatte, sie hätten lediglich über Organisatorisches gesprochen: wie sie zum Prozess aus Berlin nach Hamburg anreisen würden, ob sie die Bahn nehmen sollten, und wenn nicht, wo sie am besten parken könnten.


Auch auf VICE: Das G20-Video-Tagebuch


Matthias Wisbar, R.s Anwalt, sprach während des Prozesses daher von einem "Aussagekomplott". Die Polizisten hätten vorher gegenseitig ihre schriftlichen Aussagen gelesen, die in den Akten liegen, und abgestimmt, um sich auf den Prozess vorzubereiten.

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Im Prozess gegen R. wurde außerdem ein E-Mail-Verkehr der Polizei verlesen, den Wisbar angefordert hatte, nachdem es zu den verschiedenen Aussagen gekommen war. Darin tauschen sich der Ermittler in dem Fall und die fünf Zeugen der Polizei über den Vorfall aus. Unter anderem heißt es in der Mail des Ermittlers am 19. Juli 2017 aus der Sonderkommission an die fünf Zeugen der Polizei vielsagend: "Ich bitte euch wie besprochen mir einen Bericht zu schreiben, in dem ihr nochmal schriftlich darlegt, was ihr mir gestern alle telefonisch erzählt habt. … Ich habe meinen Bericht, den ich geschrieben habe, nicht beigelegt. Solltet ihr 'Fragen' haben meldet euch gerne und wir werden alles im Sinne der Sache regeln können."

Eine Gewahrsamnahme auf der "Welcome to Hell"-Demo durch Berliner Polizisten | Foto: imago | ZUMA Press

Die Prozessbeobachterin Lemke betont gegenüber VICE, dass der G20ApUA so lange arbeiten wolle wie nötig. 100 Prozesse stehen in diesem Jahr noch an, schätzen sie. Die Soko "Schwarzer Block" sagt sogar, sie hätten noch 3.000 offene Untersuchungsverfahren. Bisher wurden mehr als ein Dutzend Urteile gegen G20-Demonstranten gefällt, alle fielen sehr hart aus. Das Urteil liegt "weit außerhalb meiner Vorstellung", sagte Anwalt Wisbar. All die Einwände der Verteidigung haben nichts genützt. "Das Urteil stand schon vorher fest", ist sich Wisbar im Gespräch mit VICE sicher. Oberbürgermeister Scholz hatte bereits ein paar Tage nach dem Gipfel öffentlich Druck auf die Justiz ausgeübt: "Meine Hoffnung ist, dass eine der Konsequenzen sein wird, dass die Gewalttäter, die wir gefasst haben […] mit sehr hohen Strafen rechnen müssen."

Eigentlich hätte es einen Freispruch geben müssen, hätte man die "Aussagekomplotte" und Aktenmanipulation ernst genommen, sagen die Aktivisten und der Anwalt von R. Stattdessen gab es eine Strafe, die selbst weit über dem lag, was die Staatsanwälte gefordert hatten.

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Korrektur: In einer früheren Version waren die Zeugenaussagen der Polizei nicht korrekt wiedergegeben. Wir haben das behoben.