Ein antinationalistisches Graffiti an der Grenze zwischen Süd- und Nord-Nikosia auf Zypern
Ein antinationalistisches Graffiti an der Grenze zwischen Süd- und Nord-Nikosia | Alle Fotos: Marcos Andronicou
Menschen

Unterwegs in der letzten Hauptstadt, die von einer Grenze geteilt wird

Seit Jahrzehnten trennt ein Grenzstreifen die Insel Zypern in einen griechischen und einen türkischen Teil. Wir haben Leute auf beiden Seiten gefragt, wie es ihnen damit geht.

Es war eine grüne Linie, die britische Friedenstruppen 1964 auf eine Stadtkarte zeichneten und damit die heute letzte offiziell zweigeteilte Hauptstadt der Welt auf lange Zeit definierten. Nikosia, die Hauptstadt der Mittelmeerinsel Zypern, ist seitdem vor allem von militärischen Wachposten geprägt. Die geschäftigen Straßen der Stadt enden teilweise einfach in Wänden aus Fässern und Sandsäcken.

Nach bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen griechischen und türkischen Zyprern – die beiden größten ethnischen Gruppen der Insel – wurde Nikosia 1964 in zwei Teile geteilt. Dabei war die Republik Zypern durch die Unabhängigkeit von der britischen Herrschaft erst vier Jahre zuvor geboren worden. Im Sommer 1974 wurde die Nord-Süd-Teilung von Nikosia nochmals gefestigt, als türkische Truppen im nördlichen Teil Zyperns einfielen – als Reaktion auf einen griechischen Staatsstreich, mit dem der damalige Präsident Erzbischof Makarios III. gestürzt und die Insel mit Griechenland vereint werden sollte.

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Nicosia, the divided capital of Cyprus

Die von der UN kontrollierte Pufferzone – oft als "Todeszone" bezeichnet – von einem griechisch-zyprischen Wachposten aus

Mit seiner inzwischen berüchtigten grünen Linie ist Nikosia der Mittelpunkt eines von Europas hartnäckigsten Konflikten und der Schauplatz einer der längsten Friedensmissionen der Vereinten Nationen.

Der Süden der Insel ist als Republik Zypern ein EU-Mitglied, dessen Eigenständigkeit von den Vereinten Nationen und von jeder Regierung der Welt – ausgenommen der türkischen – anerkannt wird. Der De-Facto-Staat Türkische Republik Nordzypern nimmt das nördliche Drittel der Insel ein, wurde 1983 gegründet und ist nur von der Türkei offiziell anerkannt. Beide Seiten nennen Nikosia als ihre Hauptstadt.

Der Grenzstreifen erstreckt sich inzwischen 180 Kilometer lang über die Insel. Getrennt werden die beiden Seiten von einer von der UN kontrollierten Pufferzone, die an ihrem schmalsten Punkt in der Innenstadt Nikosias nur wenige Meter breit ist.


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2003 wurde ein Grenzübergang im historischen Zentrum von Nikosia geöffnet. Tausende griechische und türkische Zyprer und Zyprerinnen konnten zum ersten Mal seit fast 30 Jahren wieder auf die andere Seite der Grenze. Trotzdem sind alle bisherigen Anstrengungen zur Wiedervereinigung fehlgeschlagen.

Der in Nikosia lebende Fotograf Marcos Andronicou hat sich im Frühling auf beiden Seiten der Grenze umgesehen und dabei die Bewohner und Bewohnerinnen der Insel gefragt, wie sie über die Teilung denken.

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Die 26-jährige Sarah steht vor dem Café in Nord-Nikosia, in dem sie arbeitet – nur wenige Meter von einem der wichtigsten Grenzübergänge nach Süd-Nikosia entfernt. Ihr Großvater ist Zyprer, sie mit sieben Jahren mit ihren Eltern von Deutschland nach Nord-Nikosia gezogen.

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Wie Sarah erzählt, war sie damals noch zu jung, um sich an ihre erste Grenzüberquerung in den Süden der Stadt im Jahr 2003 zu erinnern. Heute leben dort einige ihrer Freunde, und sie selbst hat dort sogar schon mal gewohnt. "Ich bin in den letzten Jahren so häufig auf die andere Seite gegangen, dass ich die Grenze schon gar nicht mehr wahrnehme", sagt sie. "Ich kann mir die Stadt auch gut ohne sie vorstellen, alles wäre dann einfacher und schöner."

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Die Lichterflagge der Türkischen Republik Nordzypern kann man auch von den Vororten Süd-Nikosias aus sehen. Die Flagge leuchtet jede Nacht, hat die Maße von ungefähr vier Fußballstadien und besteht aus Tausenden Glühbirnen.

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In diesem Park in Süd-Nikosia macht der 27 Jahre alte Projektmanager Dionysis oft Pause. Aus "ethischen Gründen" hat er noch nie die Grenze nach Nord-Nikosia überquert und ist auch noch nie in den Norden Zyperns gereist. "Seit der türkischen Invasion haben sich viele Dinge geändert, inzwischen kommen viele Menschen von beiden Seiten miteinander klar. Deswegen denke ich, dass wir friedlich miteinander leben könnten. Wegen des wirtschaftlichen und politischen Einflusses der Türkei auf das besetzte Gebiet geht es bei den Interaktionen aber nicht um Menschlichkeit. Wir würden nur zu Geiseln der türkischen Staatsspitze werden", sagt er.

"Wenn ich in den Norden gehen und an der Grenze meinen Pass vorzeigen würde, dann wäre das so, als würde ich einen falschen Staat und eine illegale Besetzung anerkennen. Diesen Gefallen will ich Erdoğan nicht tun. An sich würde ich aber schon gerne mal in den Norden. Ich finde es jedoch nicht gut, das Haus meines Vaters und ein Drittel meines Landes nur als Tourist zu besuchen."

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Kinder spielen in der Nähe der alten Stadtmauern Nord-Nikosias Fußball. Die heute fast noch komplett intakten Stadtmauern wurden von den Venezianern gebaut, als Zypern 1489 Teil der Republik Venedig wurde.

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Die 20-jährige Melodi studiert im Norden Nikosias Musik. 2004 ging sie zum ersten Mal über die Grenze, um im Süden Zyperns das Dorf zu besuchen, in dem ihre Mutter aufgewachsen war. "Ich weiß noch, wie die Leute reagiert haben. Sie waren alle nervös, aber glücklich", sagt sie. Heute passiert Melodi zusammen mit ihrer Familie häufig den Grenzübergang, um shoppen zu gehen oder um im Troodos-Gebirge zu wandern. "Die Grenze hat für mich keine Bedeutung, weil es sie gar nicht geben müsste. Wir können einfach rüber, sie können einfach her, wir leben alle zusammen."

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Im Graben vor den Stadtmauern im Süden Nikosias wurde ein Hundepark angelegt

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Christen nehmen in Süd-Nikosia an einem Karfreitags-Gottesdienst teil. Während im Norden Zyperns vor allem Muslime leben, besteht die Bevölkerung des Südens neben einer katholischen Minderheit zum Großteil aus orthodoxen Christen.

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Muslime beten in der Selimiye-Moschee im Norden von Nikosia

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Andreas, 30, sitzt vor seinem Arbeitsplatz, einer Bar genau an der grünen Linie von Süd-Nikosia. Als dieses Foto entstand, war es gerade mal einen Monat her, dass er zum ersten Mal in den Norden der Stadt gegangen war. Andreas sagt, dass es keine bewusste Entscheidung gewesen sei, die Grenze zu meiden. Er glaubt, dass er unterbewusst einfach an den Annehmlichkeiten und an der Vertrautheit von Süd-Nikosia gehangen war.

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Andreas findet es schade, dass seine Eltern sich weigern, den Norden zu besuchen, wenn sie dabei ihre Pässe vorzeigen müssen. Er beneidet die Katzen und Vögel der Insel, die könnten ja einfach so über die Grenze und haben keine Ahnung von der politischen Situation auf Zypern. "Was bedeutet es überhaupt, einen Pass an der Grenze vorzuzeigen? Das ist nur ein erfundenes Papier an einer erfundenen Linie, um ein echtes Land zu sehen", sagt er. "Ich glaube an die Menschen und denke, dass wir uns langsam aus dieser Situation befreien können. Wir müssen nur vorsichtig sein, weil immer irgendein 'Feindbild' existieren muss. Aber wie viel Hass kann es überhaupt noch geben, wenn man zusammen isst, trinkt und Musik hört?"

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Tanzende Derwische treten täglich in einer ehemaligen katholischen Kathedrale in Nord-Nikosia auf. Die Mevlevi-Kultur mit ihren Derwischen kam nach Zypern, als die Osmanen die Insel 1571 eroberten.

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Die 27 Jahre alte Yagmur arbeitet als freiberufliche Illustratorin im Norden Nikosias. Hinter ihr ist die von der UN kontrollierte Pufferzone zu sehen. Einige ihrer besten Freunde sind griechische Zyprer, deshalb passiert sie regelmäßig die Grenze. Dennoch findet sie es frustrierend, dass es manchmal Probleme geben kann, wenn man sich am Grenzübergang den Behörden zeigen muss.

Yagmur findet, dass man die Realität und die Absurdität der Teilung Zyperns jeden Tag in Nikosia spürt. "Weil ich damit aufgewachsen bin, fühlt es sich für mich leider normal an. Ich hatte nie die Chance, eine Alternative zu erleben. Als die Grenze 2003 geöffnet wurde, war ich zu jung, um alles richtig zu verstehen. Irgendwann fing ich aber an, das Ganze zu hinterfragen. Ich finde es komisch, dass das für unsere Generation so normal ist", sagt sie. Aber selbst wenn die Politik und die Behörden in Zypern keinen Frieden herstellen, lebe Yagmur laut eigener Aussage im Frieden mit sich selbst, weil sie die Grenze passieren könne: "Ich treffe meine Freunde, lerne neue Leute kennen und mache mit allen zusammen Kunst. Noch besser könnte es für mich kaum sein."

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Ein Mann sitzt in einem Café, das sich direkt an der Grenze zu Nord-Nikosia befindet

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Ein Café in Nord-Nikosia

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Eine Kreuzung, die sich nur wenige Meter von der Grenze zu Süd-Nikosia entfernt befindet

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Gokhan ist 33 Jahre alt und arbeitet als Barista. Seinen Kaffeestand stellt er in einer Lagerhalle in Nord-Nikosia unter. Zusammen mit seiner Freundin Christina, einer griechischen Zyprerin, lebt er in Süd-Nikosia. Dort hat er auch viele Freunde, er passiert den Grenzübergang mindestens zweimal täglich. Über die Teilung von Nikosia sagt Gokhan: "Schrecklich! Das ist meine Stadt, die da von Menschen geteilt wurde, die weder in diesem Land auf die Welt gekommen sind, noch hier gelebt haben. Ich glaube nicht, dass Zyprer die Insel von selbst geteilt hätten."

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In diesem kleinen Café kann man nur wenige Hundert Meter vom Grenzübergang nach Nord-Nikosia entfernt entspannen

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Auf einem Kreisverkehr in Süd-Nikosia befindet sich eine Statue von Markos Drakos, einem griechisch-zyprischen Guerillakämpfer der EOKA. Dabei handelte es sich um eine griechisch-zyprische paramilitärische Gruppierung, die zwischen 1955 und 1959 gegen die britische Herrschaft auf Zypern kämpfte. Ihr Ziel war die Wiedervereinigung mit Griechenland.

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In Nord-Nikosia wird mit einer Statue der türkische Einfluss in Zypern gefeiert – von der osmanischen Eroberung im Jahr 1571 bis hin zur Gründung des De-Facto-Staats Türkische Republik Nordzypern im Jahr 1983.

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Die 29-jährige Lenia arbeitet in Süd-Nikosia als Kunsttherapeutin. Bis vor wenigen Jahren hatte sie noch nichts mit Nord-Nikosia oder türkischen Zyprern zu tun. Erst als sie nach ihrem Auslandsstudium nach Zypern zurückkehrte, wollte sie wissen, was sich auf der anderen Seite der Grenze befindet. Sie würde gerne mehr mit türkischen Zyprern interagieren und ist der Ansicht, dass die Menschen aus beiden Teilen der Insel zusammenkommen könnten.

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Zu ihrer ersten Grenzüberquerung im Jahr 2003 sagt Lenia: "Durch das, was ich in meinem Umfeld und in der Schule gehört hatte, bin ich mit einer sehr negativen Einstellung über die Grenze gegangen. Ich wollte wissen, was sie uns genommen hatten. Mit den Jahren hat sich meine Einstellung aber geändert." Es sei schlimm, dass man sich an den Status Quo gewöhnt hat, dass die Grenze nichts Besonderes mehr ist. Leider könne man aber auch nichts dagegen tun.

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Ein Mann führt seine Hunde im historischen Zentrum von Süd-Nikosia spazieren

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Sergen ist 21, studiert Journalismus und arbeitet als Kellner in einem Café in Nord-Nikosia, das nur wenige Meter von einem der Hauptgrenzübergänge entfernt ist. Er erinnert sich an das erste Mal, als er die Grenze passierte, um mit seiner Mutter das Dorf im Süden Zyperns zu besuchen, in dem sie aufgewachsen war: "Ich hatte ein bisschen Angst, aber das war normal. Ich kannte den Ort ja nicht und hatte so viele Dinge gehört – zum Beispiel, dass die Griechen uns nicht mögen. Durch den Besuch wurde mir aber klar, dass das auch nur Menschen sind. Wir sind alle gleich." Heute geht Sergen regelmäßig über die Grenze, um sich mit griechisch-zyprischen Freunden zu treffen und um auf Konzerte zu gehen.

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Marilena, 29, ist freiberufliche Schauspielerin, Theaterlehrerin und Aktivistin. Sie steht vor dem Hauptsitz von Home for Cooperation, einer interkommunalen NGO, die von Nikosias Pufferzone aus den Dialog zwischen griechischen und türkischen Zyprern anregen will. Sie ist in Süd-Nikosia aufgewachsen und hatte vor 2013 nichts mit dem Norden der Stadt zu tun. Dann engagierte sich allerdings in verschiedenen Aktivitäten für beide Communitys. Heute passiert sie die Grenze regelmäßig und hat auf beiden Seiten viele Freunde und Kolleginnen.

"Ich verstehe, warum viele Menschen nicht ihre Pässe vorzeigen wollen, um die Grenze passieren zu dürfen. Das ist ja eine Art Anerkennung der Teilung", sagt Marilena. Wenn man sich aber mit den Leuten von der anderen Seite treffen und unterhalten wolle, dann finde sich immer ein Lösung. Sie findet es komisch und frustrierend, dass sich nichts ändert: "Selbst wenn sich die Politiker morgen einigen würden, wäre das wertlos, wenn die Leute hier nicht aufeinander zugehen wollen. So wird sich nie etwas zum Besseren entwickeln."

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