Wie ich zweimal von türkischen Antiterror-Cops zerlegt wurde
Alle Illustrationen von Nicola Napoli

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Wie ich zweimal von türkischen Antiterror-Cops zerlegt wurde

Ein Polizist zog seine Waffe, hielt sie mir an den Kopf und brüllte: "Ich bring' dich um, wenn du nicht die Wahrheit sagst!"

Halte dich nicht so lange im Jugendhaus auf, haben mir Informanten geraten. Eine Razzia stehe kurz bevor, haben sie mir gesagt. Hinterlasse keine Spuren. Verbrenne deine Notizen. Rede nicht mit Fremden über deine Recherchen. Spione gibt es überall. Wenn sie erfahren, dass du Journalist bist, stecken sie dich für Jahre in Untersuchungshaft, haben sie mir gesagt – und sie wussten offensichtlich, wovon sie redeten.

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Ende August 2014 bin ich als Journalist in die kurdischen Gebiete in Syrien, im Irak und der Türkei gereist. In der Region haben Kurden die Selbstverwaltung ausgerufen. Sie kämpfen gegen den sogenannten Islamischen Staat. Darüber wollte ich berichten. Vier Monate lang recherchierte ich, interviewte Guerillas in den Ausbildungscamps der PKK im Kandil-Gebirge, sah die Massengräber der Jesiden im Irak und wie Tausende Geflüchtete den Grenzzaun zwischen Syrien und der Türkei niederrissen. Während der gesamten Zeit funktionierten mein Körper und mein Instinkt: Ich wurde nicht krank, obwohl ich ständig unter Druck stand. Jeder Fehler konnte bedeuten, dass ich für lange Zeit im Gefängnis lande, im schlimmsten Fall sogar erschossen werde. Und ich? Ich machte gleich zwei der Fehler, vor denen man mich gewarnt hatte.


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Seit mehr als 30 Jahren kämpft die verbotene PKK gegen die türkische Regierung einen Guerillakrieg, anfangs für einen kurdischen Nationalstaat, nun für die Selbstverwaltung und mehr Rechte. In den 1990er-Jahren eskalierte der Krieg. Tausende Kurden wurden getötet, Hunderttausende vertrieben. Als Vergeltung begingen PKK-Splittergruppen Anschläge auf Touristenzentren in der Türkei. Die erste ernstzunehmende Friedensverhandlung begann 2012 – doch die türkische Regierung kündigte den Frieden im Juli 2013 einseitig auf.

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In dieser politisch komplett vertrackten Situation reiste ich also Ende 2014 in die Gegend, um für verschiedene deutsche Medien zu berichten. Irgendwann landete ich in der anatolischen Großstadt Diyarbakır. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Situation dort, im Osten der Türkei, wo besonders viele Kurden leben, immer angespannter. Die Kämpfe zwischen der türkischen Polizei und kurdischen Milizen wurden immer brutaler.

Was im Herbst 2014 als "Terrorismusbekämpfung" begonnen hatte, artete ein Jahr später in einen Vergeltungskrieg der türkischen Sicherheitskräfte gegen die kurdische Zivilbevölkerung aus. Amnesty International sprach in einem Bericht damals von "kollektiver Bestrafung". Die türkische Armee zerstörte ganze Kleinstädte und Stadtteile. Familien konnten wegen des verhängten Ausnahmezustandes tagelang ihre getöteten Angehörigen nicht beerdigen.

Ich wache mit der Maschinenpistole im Gesicht auf

In dieser Nacht im Jugendhaus in Diyarbakır, im Herbst 2014, bin ich einfach nur noch erschöpft und müde. Die Monate im Krisengebiet zehren schon lange an meinen Kraftreserven. Jetzt warte ich auf einen wichtigen Interviewpartner, aber er kommt nicht und ich schlafe ein.

Als ich aufwache, schaue ich in den Lauf einer Maschinenpistole. Um mich herum stehen sechs Polizisten der türkischen Anti-Terroreinheit, einer filmt mit einem Camcorder. Sie tragen schusssichere Westen. Wie viele sich im Haus befinden, weiß ich nicht. Bevor ich mir den Schlaf aus dem Gesicht wischen kann, zerren mich zwei Beamte in ein Nebenzimmer. Nach der ersten Ohrfeige bin ich wach.

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In der Nacht stürmen Polizisten das Gebäude

Ich hebe meine Brille vom Boden auf, versuche zu verarbeiten, was ich wahrnehme: Ich höre einen Hubschrauber über dem Dach kreisen, mehrere Menschen rennen durchs Haus, schmeißen Möbel um. Jedes Mal, wenn es kracht, zucke ich zusammen. Gebrüll, Schreie – alles ist wirr und passiert in Sekunden. Für mich fühlen sie sich an wie Stunden. Draußen sehe ich Scheinwerfer, sie sind auf das Gebäude gerichtet. Wer hier versuchen würde zu entkommen, wäre der Polizei ausgeliefert wie eine Ameise auf einem weißen Handtuch – ein Klatscher: weg.

Nach der zweiten Ohrfeige fällt mir endlich wieder ein, wo ich bin. Die Polizei stürmt gerade ein von außen unscheinbares Jugendzentrum in Diyarbakır. Dort gibt es einen Fußballplatz und eine Tischtennisplatte, tagsüber hängen die Jugendlichen des Viertels Bağlar ab, in einem zweitstöckigen Gebäude sind von Kindern gemalte Bilder und Skulpturen ausgestellt. Schaut man sie sich die Motive näher an, erahnt man, dass selbst die Kleinsten traumatische Erlebnisse durchgemacht haben müssen: Kalaschnikows und Panzer, aus denen Blumen wachsen, weiße Taube, Olivenzweige, Regenbögen oder Soldaten und PKK-Kämpfer, die einander umarmen.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass kurdische Jugendkader hier Jugendliche politisieren, radikalisieren und zu Protesten gegen die türkische Zentralregierung anstiften. Weil es eine städtische Einrichtung ist, versucht die Polizei alles zu finden, was das Zentrum mit der PKK in Verbindung bringen könnte, seien es T-Shirts der militanten kurdischen Jugendorganisation YDG-H oder Steinschleudern, Molotowcocktails, Masken.

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Ich atme tief ein und presse die verbrauchte Luft ganz langsam raus. In gefährlichen Situationen hilft mir das, mich zu beruhigen. Einer der Polizisten, eher schmächtig, kurdischer Akzent, packt mich am Kragen und schreit mich an: "Was ist das – wasss ist dassss?" Er öffnet ein Notizheft, darin Zeichnungen, Texte, Zahlen. Es sind meine Aufzeichnungen. Mehrere Seiten sind ausgerissen; ich habe sie zur Sicherheit versteckt oder verbrannt. Eine Seite findet der Polizist besonders verdächtig. "Festnahme, Verhör, Untersuchungshaft, Gerichtsverhandlung, Untersuchungshaft", steht dort auf Türkisch. Juristische Begriffe, die ich für mich klären wollte. Ich antworte ihm: "Ich studiere Jura." Ich lüge, weil ich weiß, was sie ansonsten mit mir machen.

Sie dürfen meinen Willen nicht brechen

Ich hatte sonst immer das Gefühl, mir könnte nie etwas passieren, obwohl es in Syrien Mörsergranaten regnete und die türkische Luftwaffe die Ausbildungscamps der kurdischen Guerilla mit F-16-Jets bombardierte, während ich dort meiner Arbeit als Journalist nachging. Ich kam bisher aus allen gefährlichen Situation heil heraus. Grundsätzlich empfand ich mögliche Gefahren als etwas sehr Abstraktes, von mir weit Entferntes. Nichts, womit ich mich unmittelbar beschäftigte. Außer dass ich mir eine Exit-Strategie überlegte – die jeder Journalist in einem Krisengebiet hat.

Erst, wenn Kugeln flogen, änderte sich meine Wahrnehmung und ich spürte unmittelbare Gefahr: Es fühlte sich an, als ob ich in eine Paralleldimension gesogen würde, in der die Zeit langsamer abläuft und manchmal sogar fast stillzustehen scheint.

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In einer ähnlichen Situation befinde ich mich gerade. Zu dem ersten schmächtigen Polizisten kommt noch einer hinzu. Gleich zwei Beamte brüllen mich nun gleichzeitig an. Von da an nehme ich nicht mehr alles genau wahr. Ich versuche, aufmerksam zu bleiben. Ich klammere mich an jeden Anhaltspunkt, der mich aus dieser Lage bringen könnte. Sie beleidigen meine Eltern. Sie sagen, ich müsste stolz darauf sein, Türke zu sein. Dass es genügend Menschen und Mächte gebe, die diese große Nation zerstören wollten. Sie stellen mir zahlreiche Fragen. Jede, die ich unbeantwortet lasse, quittieren sie mit einer Ohrfeige.

Einmal senke ich meinen Kopf, bis ich erkenne: Sie dürfen mich nicht brechen. Ich muss meine Würde bewahren. Also schaue ich ihnen von da an in die Augen. Und ich denke an meine Familie, an Feste und gemeinsame Abendessen. Einer der Polizisten sagt, sie würden mich im Gefängnis verschwinden lassen. Sie hätten mich beobachtet und ich sei auffällig gewesen.

Irgendwann reißt ein Polizist die Türe auf und sagt, ich solle mich "verpissen". Die Antiterror-Einheit zieht ab, sie hat im Jugendzentrum nichts gefunden. Die Jugendkader der PKK waren auf die Razzia vorbereitet. Später erzählt mir ein Informant, er habe gehört, dass dieser Polizist mit der Staatsanwaltschaft über mich geredet habe. Zu meinem Glück habe er entschieden, mich gehen zu lassen, weil keine Beweise gegen mich vorlagen.

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Mein Körper zittert nun vor Kälte, weil er sich nach dem Adrenalinschub abgekühlt hat. Um mich zu beruhigen, gehe ich durch das Gebäude. Die Zimmer sehen aus, als sei ein Orkan durchgefegt: Tische und Regale liegen zerstört auf dem Boden, zerrissene Bücher, zertrampelte Musikanlagen, Scherben, Dreck. Mehrere Jugendliche heben die zerstörten Sachen auf und stellen sie – so gut es geht – an ihren Platz zurück. Ich habe erwartet, dass sie wütend sind, aber als ich sie darauf anspreche, sagen sie: "Freund, wir haben uns daran gewöhnt. Das Einzige, was wir machen können, ist alles wieder neu aufzubauen. Immer wieder."

Hat mich die Polizei beschattet?

Nach diesem Erlebnis stand mein Entschluss fest: Ich muss etwas ändern. Aber vorher beschäftigten mich zahlreiche Fragen: Wie kam es dazu? Was für Informationen hat die Polizei über mich? Wurde ich beschattet? Ich erinnerte mich zurück an die erste Razzia, in die ich ein paar Tagen vor meinem Aufenthalt im Jugendhaus geraten war.

Ich war wieder in Diyarbakır auf Recherche, im Stadtteil Sur. Dort hatte die YDG-H, eine militante kurdische Jugendorganisation, die der PKK nahesteht, ein Viertel besetzt und den "Kurdischen Kanton Sur" ausgerufen. Ich wusste, dass Jugendliche dort bewaffnet waren, sich verbarrikadiert und sogar Gräben ausgehoben hatten. Polizisten und Soldaten war jeder Zutritt verwehrt. Ich wollte die etwa 30 Besetzer von Sur treffen und sie für ein Magazin porträtieren.

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Der Stadtteil gehört zu den ärmsten Gegenden der Stadt. Normalerweise fixen an der historischen Mauer oder in den Gassen Drogenabhängige am helllichten Tag. Gerüchten zufolge haben ihnen die militanten kurdischen Aktivisten aber verboten, ihren Drogenhandel auf offener Straße zu betreiben. Sie sehen Drogen als Unterdrückungsmittel der türkischen Regierung an. Polizisten hätten Drogen an Jugendliche weitergegeben, damit sie unfähig für den Widerstand würden, so ihre Erzählung. Ob das der Wahrheit entspricht, kann ich nicht überprüfen.

In der Nacht sehe ich keine Menschen in den Gassen von Sur. Laternenlicht beleuchtet spärlich die Pflastersteine, manche Gassen liegen komplett in undurchsichtiger Finsternis. Es riecht nach Abfall und Kloake. Gerade weil das Viertel so elend und heruntergekommen ist, kam es hier in der Vergangenheit häufig zu Protesten gegen die Regierung oder zu Straßenkämpfen militanter Kurden gegen die Polizei. Neben dem Bezirk Bağlar galt Sur als Hochburg des Widerstandes in Diyarbakır.

Als ich ankomme, ist von Siegestaumel nichts mehr zu spüren. Jetzt überfliegen Hubschrauber die Häuser. Einsatzkräfte haben sich an verschiedenen Ecken positioniert. Ich ignoriere sie und durchquere die engen Gassen. Mit dicker roter Farbe ist an den Hauswänden zu lesen: "Das ist Sur, ein befreiter Kanton." Plötzlich läuft mir eine Frau geduckt entgegen und ruft mir zu: "Mein Junge, da sind Polizisten! Hau schnell ab." Zögernd kehre ich um und denke mir gleichzeitig, dass ich nicht kneifen darf, weil ich sonst eine Chance verpasse. Also laufe ich weiter durchs Viertel. Ich komme nicht weit. Acht bis zehn Polizisten rennen in kugelsicheren Westen und mit gezückten Maschinenpistolen auf mich zu. Sie leuchten mir ins Gesicht: "Stehenbleiben!"

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"Ich werde deine ganze versiffte Familie töten"

Der bulligste von den Polizisten fragt, was ich in Sur zu suchen hätte. Wieder lüge ich, behaupte, ich wüsste von nichts und wolle nur einen Studienkollegen zu Hause treffen. "Du lügst!", brüllt er mich an und packt mich am Arm. Er zieht mich um die nächste Ecke. Dahinter halten die Einsatzkräfte vier Jugendliche fest. Einer davon dreht sich um und schaut mich an. Wir erkennen uns. Während meiner bisherigen Recherchen habe ich ihn als einen Kämpfer der kurdischen Militanten kennengelernt. Ich beiße mir auf die Lippe, um ihm zu signalisieren: Das wird nicht gut enden. Minuten später sehe ich, dass sie gehen dürfen. Harmlose Jungs aus dem Viertel, glauben die Polizisten.

Ich konnte das kalte Metall der Waffe auf meiner schwitzenden Stirn spüren.

Mich hingegen stößt der Polizist in einen gepanzerten Wagen und schlägt mir als Willkommensgruß auf die Brust. Der Hieb drückt meine Lungen zusammen, ich hechle nach Luft und versuche, mich zu beruhigen. Er schlägt erneut zu. "Du lügst, du warst im Irak und in Syrien. Du bist ein Terrorist, du dreckiger Kurde! Sag, wohin du willst, sonst werde ich deine ganze versiffte Familie töten." Er wedelt mit einem zerknülltem 250-Pfund-Schein vor meiner Nase herum. 250 syrische Pfund, die sie in meinem Rucksack gefunden haben, sowie mein Pass mit irakischen Einreise- und Ausreisestempel machen mich verdächtig.

Der Polizist zieht seine Waffe. Er hält sie mir an den Kopf. "Wenn du nicht die Wahrheit sagst, bring ich dich um!", schreit mich der Polizist auf Türkisch an. Ich spüre seine Pistole auf meiner schwitzenden Stirn. Er entsichert die Waffe. Ich höre, wie der Abzug klickt und einspannt. Der Polizist starrt mich wütend an. Er meint es ernst.

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Unvermittelt sage ich ihm: "Ich bin deutscher Staatsbürger – schießen Sie!" Ein Kopfschuss käme einer Exekution gleich. Der Polizist würde damit nicht nur mein Leben beenden, sondern auch seine Karriere. Ein Kopfschuss aus nächster Nähe wäre selbst durch die absurdeste Geschichte nicht zu erklären. Es würde zu viele Fragen aufwerfen. Wie kam ein deutscher Journalist in den gepanzerten Wagen, und warum schoss ihm ein türkischer Polizist dort in den Kopf? Warum war kein zweiter Beamter im Wagen?

Ich balle die Fäuste und atme tief durch. Mein Herz schlägt schneller, lauter. Ich denke an nichts. Er beginnt zu zählen: "Eins … zwei …" Ich schließe meine Augen. "Drei." Er holt weit aus und schlägt mir ins Gesicht. Ich höre nur noch ein Rauschen im Ohr.

Das Verhör beginnt

In einem Streifenwagen fahren sie mich aufs Revier. Im Auto beginnt ein zweiter Beamter sofort das Verhör. "Versaue dir nicht dein Leben wegen diesen Terroristen. Wir stecken dich sechs Jahre ins Gefängnis, wenn wir wollen – was machst du dann?", sagt er mit ruhiger Stimme. Zwischendurch höre ich Satzfetzen im Polizeifunk, den sein bulliger Kollege abhört. In großen Teilen von Diyarbakır führt die Antiterror-Einheit eine "Operation" durch. "Weißt du denn nicht, dass vor knapp drei Wochen fünf deutsche Journalisten festgenommen wurden?" Ich weiß es genau, ich kenne sie persönlich. Genau deswegen beteuere ich aufs Neue: "Ich bin auf Durchreise." Die Stimme des Verhörers wird härter: "Dann versauere im Knast, du Hund."

In der Zelle verliere ich jedes Zeitgefühl. Meine Gedanken kreisen nur noch um die Fragen: Habe ich die Speicherkarten meiner Kamera sauber gelöscht? Wochen zuvor habe ich Kämpfer der PKK in den Kandil-Bergen fotografiert. Sollten meine Bewacher nur ein einziges Bild finden, werde ich in Untersuchungshaft bleiben müssen.

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Dann steht der Polizist von der ersten Vernehmung wieder vor mir. Er schnauft wie ein Pitbull auf Koks, flucht und deutet mit seiner zuckenden Faust an, er werde mich wieder schlagen. Sein rauchender Kollege zeigt mit dem Finger nach oben: "Du weißt, die Überwachungskamera läuft. Sei vorsichtig."

Im Verhör läuft alles wie in einem absurden Traum ab. An der Wand hängen Poster, darauf ist eine Explosion zu sehen, Kinder weinen, der Titel lautet: "Kindermörder – PKK". Irgendwann kommt ein weiterer Beamter mit einem Buch von Abdullah Öcalan im Arm. Öcalan sitzt seit mehr als zehn Jahren alleine auf einer Gefängnisinsel. Ich habe das Gefühl, die Beamten wollen wissen, ob ich auf das Buch reagiere. Ich kenne das Buch, ich habe es zur Vorbereitung gelesen, aber bleibe regungslos.

Dann fragen sie mich, aus welcher Provinz meine Familie stammt. Malatya, sage ich. Mit einem sarkastischen Unterton sagt der Beamte: "Dann bist du Türke!" Ich sage: "Nein, ich bin Kurde." Wütend antwortet er: "Du bist Türke. Sag, dass du Türke bist." Nach Stunden des Verhörs bieten sie mir an, mir einen Lammspieß und einen Schwarztee zu bestellen. Ich müsse nur alles offenlegen. Ich sage nichts.

Mein Instinkt übernimmt die Kontrolle

Ich weiß nicht, ob es Nacht ist oder der Tag schon angebrochen ist. Mein Körper hat auf Überleben geschalten. Alles, was ich tue und sage, spielt sich irgendwie automatisch ab, als hätte mein Instinkt die Kontrolle über meinen Körper übernommen.

Von draußen höre ich jemanden wüten, ich höre ihn "Deutscher" sagen, mein Name fällt. Dann klopft es hart an die Tür. Der Beamte hat ein Dokument dabei, dass ich unterschreiben soll. Es sagt aus, dass ich meinen Besitz vollständig zurückbekommen hätte und keinen Arzt brauche, der mich untersucht. Danach lassen sie mich gehen.

Ein junger Polizist, nicht älter als Mitte 20, begleitet mich nach draußen. Auf der Straße vor der Polizeiwache sagt er: "Du wirkst naiv, aber du bist nicht naiv. Das spüre ich. Sollte ich Recht haben, werde ich dich finden."

Doch dazu kommt es nicht. Es ist immer noch dunkel, zwei Stunden, bis die Sonne aufgeht. Seit einer halben Stunde entferne ich mich vom Polizeirevier, spüre aber jemanden hinter mir. Mehrmals kommen mir Jugendliche entgegen, die mir mit den Augen signalisieren, dass ich einen Verfolger habe. Ich will sehen, wie er aussieht, und biege mehrmals ab, bleibe ruckartig stehen, drehe mich um und schaue ihm direkt ins Gesicht: Sein buschiger schwarzer Schnauzer brennt sich in mein Gedächtnis ein. Mir ist klar, dass ich mich hier an niemanden wenden kann. Die Gefahr ist zu groß für jeden, der in meine Nähe kommt.

Also setze ich mich in ein Nachtlokal, esse einen Adanaspieß, bestelle mir Desserts und lese stundenlang Magazine, oder laufe durch die Straßen und tue so, als wäre ich ein Tourist, der sich Sehenswürdigkeiten anschaut. Irgendwann lässt mein Schnauzer-Verfolger von mir ab. Mehr als 24 Stunden bin ich nun unterwegs. Ich denke mir, ich habe eine falsche Entscheidung getroffen, aber mir wird weiterhin nichts passieren. Ich muss nur wieder vorsichtiger werden.

Doch als später im Jugendzentrum in die zweite Razzia gerate, steht mein Entschluss fest: Ich muss abhauen. Die türkische Antiterror-Einheit hat mich auf dem Schirm und wird wahrscheinlich nicht mehr von mir ablassen.

Mein Sicherheitskontakt bucht mir einen Flug nach Istanbul und von dort nach Hause. Ein Jahr lang reise ich nicht in die Türkei – bis mein Drang nach Geschichten zu groß wird und ich wieder losziehe.

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