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Hurra, Hurra, die Schule trinkt

Was es mit dem Trink-Experiment in einer Brandenburger Schule auf sich hat

Neuntklässer sollen bis zu 1,3 Liter Bier im Unterricht trinken, schreibt die 'Bild'-Zeitung und wittert einen Skandal. Wir haben mit dem Leiter des Projekts gesprochen.
Eine Schülerin schaut in eine Phiole
Foto: imago | Westend61 || Montage: VICE

In der Klokabine. Hinter der Turnhalle. Vielleicht auch bei den Chemieräumen oder auf dem Parkplatz, wo die älteren Mitschüler und Mitschülerinnen mit ihren Mopeds abhängen. An jeder Schule gibt es Orte, an denen heimlich geraucht, gedealt oder getrunken wird. Bloß weit weg von den Lehrern. Doch was ist, wenn dich die Lehrer plötzlich zu einem Drink ermutigen würden?

Seit Anfang dieser Woche kursiert dieses Szenario durch die Medien und die Angstzentren elterlicher Gehirne. "SCHÜLER SOLLEN SAUFEN IN DER SCHULE LERNEN", titelt die Bild, "Eltern entsetzt über Trinkexperiment", schreibt der Nordkurier aus Mecklenburg-Vorpommern. Gemeint ist das Präventionsprojekt "Lieber schlau statt blau – für Jugendliche", das von der Suchtprävention Brandenburg durchgeführt wird. Dabei können Schülerinnen und Schüler unter Aufsicht geringe Mengen Alkohol trinken.

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Carsten Schroeder von der Suchtpräventionsfachstelle leitet das Projekt, das es seit 2008 gibt und seitdem regelmäßig für Diskussionen sorgt. Im Gespräch mit VICE erklärt er den Ablauf: "Erst gibt es Vorbereitungsstunden, in denen allgemein über die Gefahren von Sucht und Alkohol gesprochen wird. Danach findet außerhalb der Schule das Trinkexperiment statt, in Jugendclubs, Vereinsräumen oder Kirchenräumen." Die Schüler dürften dort eine von den Eltern vorab erlaubte Menge Alkohol trinken. Mit dabei seien Schroeder selbst, der Klassenlehrer und ein Sozialarbeiter der Schule, falls vorhanden. "Die Kinder sollen verstehen, was Alkohol mit ihnen macht. Wieso sie unterschiedlich konzentriert sind, wenn sie getrunken haben. Weshalb Jungs mehr als Mädchen vertragen", sagt Schroeder


Auch bei VICE: Auf ein Bier mit Schwester Doris


Trotz der klar abgesteckten Regeln halten manche Eltern die Aktion für eine echte Schnapsidee. Am Dienstag schrieb der Nordkurier über die fassungslose Mutter eines Neuntklässlers einer Schule in Templin. Ihr Sohn hatte eine Einverständniserklärung mit nach Hause gebracht. "Sie sollte ankreuzen, ob der Junge unter Aufsicht Hochprozentiges trinken darf", heißt es im Artikel. Ein Bericht der Bild suggeriert, dass es Neuntklässlern erlaubt werde "bis zu 0,8 Liter Wein oder 1,3 Liter Bier" zu trinken.

Das stimmt aber nicht. Weder wird "Hochprozentiges" gesoffen, noch dürfen die Schüler wirklich 1,3 Liter Bier in sich reinkippen. In der Einverständniserklärung, die VICE vorliegt, können Eltern ankreuzen, ob und wie viel das Kind bei diesem Experiment trinken darf. Darunter steht der Hinweis, dass Minderjährige gar keine harten Alkoholika oder Alkopops trinken dürfen. Jugendliche unter 16, also etwa Schülerinnen der neunten Klasse, sollten nur zwei Trinkeinheiten konsumieren. Zum Verständnis: Eine Trinkeinheit entspricht etwa einem kleinen Bier (0,33 Liter), einem kleinen Glas Wein (0,125 Liter) oder einem großen Radler (0,5 Liter). Schroeder verweist außerdem auf die "Elterntipps", die zusammen mit der Erklärung geschickt werden. Eltern sollen demnach ihre Kinder nicht zu Alkohol drängen, sie aber kleine Mengen probieren lassen, wenn sie es möchten.

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Aber reichen nicht schon kleine Mengen, um einen Minderjährigen betrunken zu machen? Die meisten Schüler hätten nach dem ersten Getränk nur 0,1 Promille im Blut, nach dem zweiten höchstens 0,3 Promille. "Das sind sehr geringe Werte, die aber vollkommen ausreichen, dass die Schüler etwas lernen", sagt Schroeder. "Die Schüler sollen merken, dass bereits kleine Mengen Alkohol zu messbaren und spürbaren Veränderungen führen können. Das ist der Lerneffekt." Sich übergeben oder randaliert habe noch niemand, sagt er. "Das Programm ist sicher."

Es gibt jedoch noch eine andere Kritik an dem Experiment. Die CDU-Landtagsabgeordnete Roswitha Schier sagte im Gespräch mit Bild: "Kinder aus alkoholfreien Haushalten werden durch den Gruppenzwang zum Trinken verführt. Man lädt ja auch nicht alle Schüler zum Rauchen ein, um vor den Gefahren des Tabaks zu warnen." Projektleiter Carsten Schroeder sieht das anders: "Klar finden die Schüler es toll, wenn das Experiment stattfindet", sagt er. "Aber in der Regel gibt es keinen Gruppenzwang." Wenn Schroeder fragt, wie die Klasse angetrunkene Mitschüler findet, sei meistens die Antwort: Mädchen finden betrunkene Jungs bedrohlich, Jungs finden betrunkene Mädchen eher unattraktiv. "Mit einem Besäufnis kann man sich nicht schmücken. Vielmehr werden die Schüler, die nicht mittrinken wollen, als stark wahrgenommen."

Trotzdem bleibt die Frage, ob das Trinken unter Aufsicht wirklich bei der Aufklärung hilft. Die meisten Teenager trinken mit 14 zum ersten Mal Alkohol, an Silvester, zur Konfirmation oder der Familienfeier. Der erste Schluck zum Erwachsenenleben. Berichte über "Binge-Drinking" und die Erzählungen von älteren Freunden und Bekannten über kolossale Besäufnisse könnten den Eindruck vermitteln, dass Alkohol einfach dazugehört. In diesem Sinne könnte auch das Experiment in Brandenburg eher zum Alkoholkonsum verführen statt davor abzuschrecken. "Wir bauen ein realistisches, aber kontrolliertes Setting auf", argumentiert Schroeder. Er wolle vermeiden, dass Jugendliche ohne Aufsicht selbst irgendwann feststellen, welche Menge für sie OK sei. Möglicherweise in einer gefährliche Situation. Ob es die beste Lösung ist? "Man kann von Präventionsprogrammen keine Wunder erwarten", so Schroeder.

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