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Journalismus

Diese Frau riskiert im Nordirak für Kriegsreporter ihr Leben

"Ich erinnere mich, wie einer der Soldaten auf eine abgetrennte Hand auf der Straße zeigte und zu mir sagte: 'Das ist die Hand meines Bruders.'"
Stella Martany läuft durch das zerstörte Mossul
Stella Martany geht durch die Altstadt von Mossul, nahe der Großen Moschee des an-Nuri, 2018 | Foto: Rebecca Gibian || Social-Foto mit freundlicher Genehmigung von Stella Martany

Das erste Mal, als Stella Martany nach Mossul ging, war sie 22. Das war 2016 und der selbsternannte Islamische Staat hatte die Stadt im Nordirak seit zwei Jahren besetzt. Die Militäroffensive zur Befreiung war im vollen Gang und ein Journalist hatte Martany, selbst Irakerin aus dem nahegelegenen Erbil, beauftragt, ihn in die damalige IS-Hochburg zu bringen.

Es war Martanys erster Auftrag als Fixerin. Fixer sind Einheimische, oft Lokaljournalistinnen oder Mitarbeiter von Nonprofit-Organisationen, die von ausländischen Journalisten engagiert werden, um ihnen mit Übersetzungen, Transport und Ortskenntnis bei ihrer Arbeit zu helfen. Fixer sind das beste und wertvollste Werkzeug eines jeden Kriegsreports.

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Um nach Mossul zu kommen, mussten Martany, der von ihr angeheuerte Fahrer und der Journalist einen Checkpoint der irakischen Armee passieren. Gerade als sie dort ankamen, hatte sich ein Selbstmordattentäter des IS in die Luft gesprengt. Ein irakischer Soldat hatte den Mann noch kommen sehen, war auf ihn zugerannt, hatte ihn mit beiden Armen umklammert und sich selbst geopfert, um das Leben anderer zu retten.

"Die Soldaten weinten und überall waren Blut und Körperteile", erzählt mir Martany bei einem Teller Kebab. Es ist November 2018 und wir sitzen in einem Restaurant in Erbil. "Ich erinnere mich, wie einer der Soldaten auf eine abgetrennte Hand auf der Strasse zeigte und zu mir sagte, 'Das ist die Hand meines Bruders.'"


VICE-Video: Der Krieg der Anderen – Warum Deutsche gegen den IS in den Kampf ziehen


Kurz darauf stand das ganze Gebiet unter Beschuss. Mit Granaten bestückte IS-Drohnen tauchten am Checkpoint auf. Die irakischen Soldaten schossen zurück.

"Ich habe IS-Kämpfer gesehen, verwundete Soldaten und Zivilisten. Ich habe Menschen sterben sehen. An diesem Tag aber war ich selbst in grosser Gefahr, getötet zu werden", sagt sie.

Heute, zwei Jahre nach dem Vorfall, würdest du Martany auf den ersten Blick für einen ganz normalen Millennial halte. Sie ist ständig an ihrem Handy, etwas tollpatschig und sich nicht zu schade, sich für eine Runde Bier-Pong zu begeistern. Sie wuchs als Mitglied der christlichen Minderheit der sogenannten "Chaldo-Assyrer" in Ankawa, einem Vorort von Erbil auf. Als eine der wenigen Fixerinnen in der Region hat sie sich unter den notorisch abgebrühten und meistens männlichen Auslandskorrespondenten einen Ruf als besonders furchtlos erarbeitet.

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Martany stellt auch keine Fahrer mehr an. Stattdessen setzt sie sich selbst ans Steuer und fährt die Journalisten in einem kleinen roten Auto zu ihrem Ziel – gerne auch rauchend und mit offenem Fenster.

"Stella ist krass", schreibt mir Louise Callaghan über Facebook-Messenger. Callaghan ist Nahostkorrespondentin für die britische Sunday Times und hat mit Martany im Irak zusammengearbeitet. "Sie ist unglaublich gut in ihrem Job. Sie bleibt immer ruhig und objektiv – egal, was passiert. Sie muss sich eine Menge Scheisse anhören, weil sie als Frau in diesem Bereich arbeitet. Aber sie macht es trotzdem und hat schon viele Idioten eines Besseren belehrt."

"Wir Fixer lieben unseren Job." – Stella Martany

Als der Islamische Staat Mossul 2014 unter seine Gewalt brachte, arbeitete Martany bei einer Nonprofit-Organisation, die Nichtregierungsorganisationen Zugang zu Flüchtlingslagern verschaffte und psychosoziale Arbeit mit traumatisierten Frauen machte. Sie selbst hatte schon geahnt, dass sie eine gute Fixerin sein könnte. Über Freunde hatte sie von dem Beruf gehört. Ausserdem wollte sie nach Mossul, der zweitgrössten Stadt des Irak und die grösste, die je von den Islamisten kontrolliert worden war. Sie war vor dem Krieg noch nie dort gewesen und wollte "verstehen, was passiert".

Der Kampf um Mossuls Befreiung begann im Oktober 2016. Und Martany, die bereits vier Sprachen sprach – Arabisch, Englisch, Kurdisch und Assyrisch –, trotzte allen Gefahren und begann, als Fixerin für ausländische Journalisten zu arbeiten. Der Job gefiel ihr sofort.

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"Meine Fixer-Freunde und ich haben etwas gemein. Wir lieben unseren Job", sagt sie. "Wir lieben, was wir tun, und wir wissen, dass niemand anderes es tun könnte."

In den zwei Jahren als Fixerin begegnete ihr als Frau immer wieder Skepsis – selbst, als sie sich einen gewissen Respekt und zahlreiche Kontakte in Mossul, Erbil und der Umgebung erarbeitet hatte. Eine Journalistin, die Martany angeheuert hatte, fühlte sich plötzlich nicht sicher genug mit einer Fixerin und suchte sich einen Mann, der sie stattdessen nach Mossul brachte. Als die Journalistin später Martany in der Altstadt von Mossul in der Nähe der Grossen Moschee erblickte, war sie sichtlich schockiert.

"Es ist fast lächerlich. Immer wieder höre ich von Leuten: 'Wie kommt man nach Mossul? Ich traue mich nicht, dorthin zu gehen. Nach einer Minute bringen die mich doch um", sagt Martany.

Aber natürlich hinterfragt nicht jeder ihre Fähigkeiten. Der Autor, Journalist und Filmemacher Christian Stephen, über den ich Martany kennengelernt habe, sagt: "Eine der besten Sachen an Stella ist, dass sie sich in der kleinen Welt der irakischen Fixer mehr als behauptet – und das unter einem Haufen Männer. Das Geschlecht spielt bei ihrer Kompetenz eigentlich keine Rolle, aber sie bringt eine gewisse Intuition und ein Mitgefühl mit, die für uns einfach unbezahlbar sind."

"Sie wird in der Fixer-Community respektiert wie jeder Mann, und das aus gutem Grund", sagt Stephen weiter.

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"Wenn meine Mutter mich fragt, wann ich heirate, sage ich zu ihr: 'Finde mir jemanden, der so stark ist wie ich, und ich heirate ihn. Versprochen.'" – Stella Martany

Claire Thomas, eine in Erbil lebende Fotojournalistin, sagt mir per Facbeook-Messenger: "Ich habe vollstes Vertrauen in ihre Fähigkeit, nicht nur den Journalisten dabei zu helfen, ihre Story zu kriegen, sondern das auf eine sichere, entspannte und gut organisierte Art zu tun."

Martany wohnt mit ihrer Schwester bei ihren Eltern in Erbil. Sie hat noch einen Bruder, der mit seiner Frau in Australien lebt. Ihr Vater war elf Jahre in der Armee, heute arbeiten er und seine Frau in Kurdistan. Ihre Familie unterstützt Martany bei ihrer Arbeit.

"Mein Vater wollte immer, dass wir stark sind, nicht schwach. Er hat extrem harte Zeiten durchgemacht und war immer besorgt, dass wir so etwas nicht durchhalten könnten, wenn uns das widerfahren würde", sagt sie. "Mein Vater ist extrem stolz, dass ich diese Arbeit mache. Und meine Mutter … wenn sie mich fragt, wann ich heirate, sage ich zu ihr: 'Finde mir jemanden, der so stark ist wie ich, und ich heirate ihn. Versprochen.'"

Martany hat ihre Gewohnheiten etwas verändert, seit Tara Fares, Model und Fashionbloggerin, im September am helllichten Tag in Bagdad auf der Strasse in ihrem Auto erschossen wurde. Seitdem fühle sie sich nicht länger sicher, selbst an Tagen, an denen sie nicht arbeite. Sie fährt abends oder nachts nicht mehr alleine nach Hause.

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Als ich sie frage, ob sie die gefährliche Arbeit und die traumatischen Erfahrungen nicht belasten, denkt sie einen Moment nach. Schliesslich sagt sie, dass die Geschichten der Menschen, die sie durch ihre Arbeit mitbekommt, ihrem eigenen Leben eine neue Perspektive geben.

"Ich bin sehr dankbar für alles, was ich habe. Ich bin sehr dankbar für jedes Mal, das ich nach Mossul komme", sagt sie. "Dieses Gefühl hatte ich beim ersten Mal und ich fühle es immer noch jedes Mal, wenn ich dort bin. Ich stelle mir vor, was dort passiert ist, und die Menschen tun mir leid. Ich fühle mich sehr schlecht, weil ich nicht allen helfen oder etwas für alle tun kann. Aber sobald ich Erbil betrete, denke ich mir: 'Danke, mein Gott! Danke, dass du mir so ein gutes Leben geschenkt hast.'"

Martany schaut mich kurz an, während sie ihren Gedanken zu Ende führt. "Es hat mich beeinflusst, klar. Aber ich denke, es hat mich stärker gemacht, nicht schwächer."

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