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Vice Blog

Warum wir uns sagen lassen, was uns gefällt

Schon in der Schule gab es diese eine Person, die entschied, wer in der Klasse beliebt war und wer nicht.

Screenshot via Youtube

Schon in der Schule gab es diese eine Person, die entschied, wer in der Klasse beliebt war und wer nicht. Und das nicht irgendwie, sondern durch ein Ranking ihrer BFFs. Das machte sie in Form einer Liste, die sie immer wieder aktualisierte. Da sie zirka so drauf war, wie Queen Bee Regina George in Girls Club, waren ihre Top-Freunde natürlich automatisch auch die beliebtesten Menschen in der ganzen Klasse, wenn nicht in der ganzen Schule.

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Das System war relativ einfach: Was sie trug, hörte und sagte, war „in"—alles andere nicht. Und mochte sie jemanden in der Klasse nicht, war man automatisch und für immer unten durch. Dann gab es nur zwei Möglichkeiten: Sie vor den Bus schubsen und ihre Rolle einnehmen (wie in Girls Club) oder sich damit abfinden, uncool zu sein und zu bleiben.

Aus heutiger Sicht wirkt diese Teenager-Diktatur ziemlich grausam und unnötig sadistisch—zumindest, bis man sich anschaut, wie moderne Apps funktionieren und man verstellt, dass sich im Grunde nicht viel verändert hat. Obwohl wir die Schulzeit längst hinter uns haben und uns unsere Meinung selbst bilden könnten, geben wir sie heute erst recht wieder ab. Der einzige Unterschied ist, dass wir sie heute nicht mehr an einen Regina George-Verschnitt der Klasse delegieren, sondern eben an Bots und Maschinen.

Eines der neuesten Beispiele dafür ist die Plattform howhot.io. Sie wurde von Schweizer Forschern entwickelt und funktioniert so: Man lädt ein Bild hoch und die Software schätzt sowohl das Alter der Person, als auch deren Hotness. Auf einer Abstufung von Hmm… bis Godlike bewertet diese dann das Aussehen der Person. Darum ist howhot.io in Wahrheit auch nichts anderes als eine kleine Regina George, die uns die Entscheidungen abnimmt, wer schön ist und wer nicht.

Screenshot via Spotify

Auch Plattformen wie Spotify überlassen wir heute Tätigkeiten, die wir früher sehr gerne selbst gemacht haben. Dank einem Mix der Woche und Tipps wie: „Finde alle deine Hits in einer Playlist—die MEGA Playlist, jetzt anhören" müssen wir selbst weder denken, noch suchen und sind damit leidige Aufgaben los, die früher irgendwie essentielle Teile unserer Auseinandersetzung mit Musik waren.

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Dadurch kann einem einiges entgehen: Auf der Suche nach neuer Musik sind die Zufallstreffer gerade das Gute und auch schlechte oder lustige Musik wird einem durch das individuelle Anpassen an unsere User-Profile eher vorenthalten. Überlassen wir alles dem Algorithmus von Spotify, kriegen wir auch nur mehr vorgefertigten Scheiß, auf den sich irgendwie jeder einigen kann.

Auch das Ansammeln von Playlists hat indirekt damit zu tun. Warum hören wir Musik nach Genres und Themen sortiert und häufen uns Massen an fremden Playlists an, die wir sowieso nie hören, anstatt uns einfach selbst aktiv Musik zu suchen, die wir wirklich gerne mögen und auch hören?

Ähnliches läuft auch auf sämtlichen Shopping-Seiten ab: Zalando wirbt mit: „Das könnte dir auch gefallen", Netflix mit „Neuheiten für dich" und Amazon erklärt dir schlichtweg, was sich andere Kunden zusätzlich zu einem Artikel auch gekauft haben—was für mich der unnötigste Algorithmus von allen ist, weil er vielleicht datenschutztechnisch Sinn ergibt, aber abgesehen davon immer nur den letzten Einkauf heranzieht und man deshalb entweder nur Reclam-Hefte oder Bücher vom selben Autor sieht.

Screenshot via Amazon.de

Semantisches Targeting nennt man diese Strategie im Marketing. Dabei wird Werbung in einem möglichst passenden Umfeld geschalten und gleichzeitig versucht, den Geschmack des Umworbenen möglichst genau zu treffen—das machen heute so gut wie alle Online-Anbieter.

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Auch Partnervermittlungs-Seiten machen nichts anderes, als uns eine Auswahl an Menschen zu zeigen, bei denen sie aufgrund gewisser Parameter denken, dass sie uns gefallen könnten. Im Vergleich dazu ist Tinder geradezu der Olymp der Selbstbestimmung—hier wischt man zumindest selbst nach links oder rechts.

Aber auch Tinder folgte dem Bewertungstrend und erfand dafür einen Superlike. Seitdem kann man sich die Bestätigung, wie viele Menschen einen jetzt konkret supergeil finden, auch über Tinder holen.

Foto: Flickr | theglobalpanorama | Tinder

Geht man einen Schritt weiter im Marketing, dann spricht man vom sogenannten Retargeting. Dabei verfolgen einen Gegenstände oder Flüge, die man sich einmal angeschaut hat dann im Netz. Plötzlich sind auf Google und Facebook überall Ads für die süßen Schuhe, die aber einfach zu teuer waren um sie zu kaufen oder der Flug nach Sydney, den man sich nur zum Spaß angesehen hat. Durch Retargeting versuchen Dienstleister ihre verloren gegangenen Kunden wieder über andere Kanäle einzufangen. Oft genug wurde schon thematisiert, dass wir in einer Bewertungsgesellschaft leben. Vom Doktorbesuch über den Pizzaboten bis hin zum Sexpartner wollen wir alles und jeden bewerten. Was ich persönlich aber noch problematischer als das Bewertungsbedürfnis finde, ist der Drang nach Passivität—danach möglichst viel an andere weiter- oder abgeben. In der Kulturforschung und Psychoanalyse hat das einen Namen: Interpassivität.

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Der österreichische Philosoph Robert Pfaller erklärt uns seine Theorie so:

„Dass Fernsehkomödien an unserer Stelle lachen, der Chor in der griechischen Tragödie an Stelle des Publikums wehklagt oder die Turnschuhe an unserer Stelle sportlich sind, ist keine neue Kulturerscheinung. Sie kommt uns lediglich paradoxer vor, als sie es für frühere Epochen war. Mildere Formen von solcher symbolisch ausgelagerter Lust rühren meist daher, dass wir selbst nicht genug Zeit für sie haben."

Wir haben also zu wenig Zeit zum Genießen, oder nehmen uns diese zumindest nicht ausreichend. Das kann daher kommen, dass wir zu faul sind, für unseren eigenen Genuss etwas zu tun—und wir deshalb Dinge abgeben. Die Theorie trifft vor allem bei sogenannten Lustempfindungen zu. Es geht dabei also nicht darum lästige Arbeiten loszuwerden, sondern eher um Dinge, die wir eigentlich gerne tun.

Warum wir uns die eigene Chance auf Genuss verbauen— auch darauf hat Pfaller eine Antwort: „An jeder Lust gibt es etwas Ungutes: Alkohol macht Kopfweh, Feiern kostet Schlaf, Sport kostet Anstrengung und Zeit et cetera. Dieses Ungute können wir meist nur dann überwinden, wenn wir von unserer Umgebung dazu animiert werden—etwa in Form einer Aufforderung wie "Sei kein Spielverderber, stoß mit uns an!""

Wir brauchen also eine Umgebung die uns animiert, aber auch wir selbst sollten uns motivieren. Im Grunde ist es doch so—zumindest war es es bei mir so—, dass man sein ganzes Teenager-Alter lang immer dafür kämpft, unabhängig zu sein. Endlich das machen zu können, worauf man Lust hat. Endlich so zu leben, wie man will. Die Musik und das Fernsehprogramm im Wohnzimmer selbst zu bestimmen und endlich ein halbwegs autonomer Mensch zu sein.

Ist man dann alt genug und hätte endlich die Möglichkeit autonome Entscheidungen zu treffen, lassen wir uns erst recht delegieren. Nicht von Regina George oder Mama, sondern vom Internet. Dazu stellt Pfaller aber auch klar: „In jedem Geschmack steckt Fremdgeschmack—anders gibt es gar keinen eigenen. Lustfähig werden wir wohl erst dann, wenn wir von der allzu strengen Forderung nach dem Eigenen ablassen."

Klar, unser Geschmack wird immer von anderen beeinflusst werden, das war schon immer so und wird auch immer so bleiben, aber um Lust zu empfinden und den eigenen Geschmack zu definieren, muss man dafür auch etwas tun und sei es sich Musik selbst zu suchen, dem Typen auf Tinder zu schreiben oder ein Buch bewusst auszusuchen.

Eva, (k)ein Mean Girl, auf Twitter