Der rätselhafte Fall des Dschihadisten mit der Rot-Weiß-Rot Karte
Foto via ANF News

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Der rätselhafte Fall des Dschihadisten mit der Rot-Weiß-Rot Karte

Wie wurde aus einem Asylwerber, der sich offensichtlich in Österreich eine Zukunft aufbauen wollte, ein Kämpfer der Terrormiliz IS?

Ein Zahnarzt aus Vorarlberg bekam Anfang Dezember ungewollte Aufmerksamkeit. Auf kurdischen Nachrichtenseiten, in etlichen Tweets und schließlich auch auf der Titelseite der Vorarlberger Nachrichten war eine Visitenkarte aus seiner Bregenzer Ordination zu sehen.

Ein Foto zeigt sie, auf erdigem Boden liegend, neben anderen Plastikkarten von Western Union, einer türkischen Telekommunikationsfirma und der Visitenkarte eines Hotels in Istanbul. Außerdem sind auf dem Bild zwei Dokumente zu sehen, die von österreichischen Behörden ausgestellt wurden: eine E-Card, sowie eine Rot-Weiß-Rot Karte, die Zuwanderern Arbeit und Aufenthalt in Österreich ermöglicht. Die Papiere gehören einem gebürtigen Weißrussen namens Dzianis bzw. Denis V.

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Gefunden wurden die Sachen in der Jackentasche eines toten Kämpfers der Terrormiliz IS. Die kurdische YPG hatte Ende November in der Nähe des irakischen Sindschar einen Hügel erobert, dabei zahlreiche Waffen sichergestellt und insgesamt 49 Dschihadisten getötet. Denis V. soll einer von ihnen gewesen sein.

Nicht nur den Bregenzer Zahnarzt dürfte diese Nachricht überrascht haben, auch die österreichischen Behörden waren es. Sie hatten den Mann nie auf dem Radar gehabt, von einer Ausreise in den Irak ebenso wenig etwas bemerkt, wie von einer potenziellen Radikalisierung.

Denis V. hatte es schon einmal in die österreichischen Lokalmedien geschafft; damals in einem denkbar anderen Zusammenhang. Bei einer Flüchtlings-Veranstaltung der Caritas im Jahr 2010 nahm er an einer Art Rollenspiel teil. Fotos zeigen ihn als Grenzwächter verkleidet, mit Polizei-Kappe und Sonnenbrille. Dort erzählte er den Vorarlberger Nachrichten,er sei 2004 als Flüchtling nach Österreich gekommen und bemühe sich seither um Asyl.

Im Irak wurden noch zwei andere Papiere gefunden—ein Staplerschein, den V. im September 2010 ausgestellt bekam, sowie ein Kranfahrerausweis von November 2013—zwei weitere Hinweise, die V.s Verbleib in Österreich dokumentieren.

Wie konnte aus einem Asylwerber, der offensichtlich auch bemüht war, sich hier eine Zukunft aufzubauen, ein Kämpfer der Terrormiliz IS werden?

Das Wohnhaus in einem Bregenzer Vorort, in dem V. lebte. Foto vom Autor.

Bei einer Autozulieferer-Fabrik in einem Bregenzer Vorort bekam Denis V. ab dem Jahr 2010 eine Anstellung. Die Zweigstelle einer deutschen Firma genießt seit langem einen denkbar schlechten Ruf. Während die linke Zeitung Der Funke dem Betrieb schon „moderne Sklaverei" vorwarf, klagt auch eine unbefangenere, ehemalige Mitarbeiterin über die „unsanfte Firmenpolitik", deren Opfer sie 2014 im Rahmen einer großen Kündigungswelle wurde. Denis V. sei dort aber noch weiter beschäftigt gewesen.

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Sie erinnert sich an ihn als „netten und hilfsbereiten Menschen", der nie negativ aufgefallen ist. Religiös sei er natürlich gewesen, habe Frauen nicht die Hand gereicht, sei ansonsten aber ausgesprochen höflich gewesen. „Das einzige, was mich verunsicherte, war der Bart", erzählt die Frau.

Kurt B., ein anderer Ex-Mitarbeiter, geht mit dem Betrieb besonders hart ins Gericht: „Für Radikalisierung ist die Firma eigentlich wie gemacht", erzählt der Mann, der 2013 gekündigt wurde, nachdem er Anstalten gemacht hatte, die Arbeiter dort in irgendeiner Form organisieren zu wollen. „Die Arbeiter, die zum Großteil von ausländischen Leasing-Firmen angeworben werden, sind untereinander isoliert, beziehungsweise isolieren sich in den jeweiligen Volks- und Religionsgruppen. In meiner Abteilung konnte sich niemand miteinander verständigen", sagt er. „Ich weiß zumindest von zwei jungen Tschetschenen, die gekündigt wurden und in salafistische Kreise abdrifteten."

Das Bild, das in Gesprächen mit ehemaligen Mitarbeitern der Firma in Kennelbach gezeichnet wird, kann bei einem Lokalaugenschein zumindest in Teilen bestätigt werden.

Angesprochen auf Denis V. zucken die meisten Personen, die sich vor der Tür zum Rauchen befinden, mit den Schultern. „Ich bin Schiit", bemerkt ein junger Lehrling, „das war einer von den Tschetschenen. Mit denen reden wir nicht. Für mich sind das sind keine Menschen." Abgesehen von der Aufforderung, das Firmengelände rasch zu verlassen, möchte sich der Dienstleiter nicht äußern. Zum „Werksschutz" meint der ehemalige Mitarbeiter Kurt B. nur, dass der früher besonders schroff war: „Gegen unliebsame Flyer-Verteiler ging man da auch schon mal mit Hunden vor."

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Die Pressestelle der Firma distanziert sich von den Vorwürfen, verteidigt Werksschutz und Sicherheitsdienste als berechtigtes Mittel und kann den Eindruck, dass das Arbeitsklima Radikalisierung begünstige, „nicht nachvollziehen."

„Die Bedingungen in dieser Firma sind wie gemacht für eine Radikalisierung"

Das Wohnhaus, in dem Dzianis V. gelebt hat, liegt keine 500 Meter Luftlinie von der Firma entfernt. In der ehemaligen Wohnung ist seit fünf Monaten ein junges Paar untergebracht. V. ist im Jahr 2012 dort eingezogen. Die Hausmeisterin, die bereits vom Verfassungsschutz in der Sache Besuch erhielt, will sich zum ehemaligen Bewohner aus dem Erdgeschoß nicht äußern. Eine andere Nachbarin erzählt, dass er allein gelebt habe, unauffällig gewesen sei und im Haus zu niemandem näher Kontakt gehabt hatte.

Weißrussische Medien haben inzwischen versucht, die Vergangenheit von Dzianis V. genauer zu durchleuchten. Geboren wurde der Mann am 9. August 1982 als einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter in der weißrussischen Stadt Grodno. Mit fünf Jahren zogen die beiden in die östliche Kleinstadt Chechersk, wo er die örtliche Schule besuchte. Mitschüler erinnern sich an ihn als einen netten, schüchternen Jungen, von dem niemand angenommen habe, dass er überhaupt Muslim sei.

Ein Journalist aus Minsk, der gemeinsam mit VICE in der Sache recherchiert, hat auch Kontakt zur Mutter von Denis V. aufgenommen: „Mit 19 Jahren ging er ins Ausland, um Arbeit zu finden, zuerst nach Tschechien", erzählt Larysa V. und betont auch, dass sie ihren Sohn ohne Bekenntnis aufgezogen habe. Religiöse Identität sei in der Sowjetunion ohnehin unerwünscht gewesen.

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Nach drei Jahren in Tschechien konvertierte Denis dann zum Islam, Flüchtlinge aus dem Kaukasus hätten ihn davon überzeugt. „Ich hatte ihm früher einmal über den Großvater aus Aserbajdschan erzählt, der Muslim war", meint die Mutter. „Er glaubte wohl, dass es ihn stolz gemacht hätte. Ab da beschäftigte er sich intensiv mit dem Koran, sagte immer, dass er ja nur bete." Nach ein paar Jahren zog Denis V. weiter nach Vorarlberg.

Foto mit Genehmigung von Euroradio.fm

Als er 2012 dann schließlich die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung bekam, meldete er den weißrussischen Behörden, dass er nun endgültig vorhätte, in Österreich zu leben. Danach sei er aber noch öfters in die Heimat gereist, zuletzt noch 2014.

Im selben Jahr begann Dzianis V. auch, allmählich seine Spuren im Netz zu verwischen. Er löschte laut Bekannten sein Facebook-Profil, sowie seine Seite beim russischen Pendant vk.com. Übrig blieb nur der Account bei einem anderen russischen Netzwerk, das hauptsächlich für Web-Games genutzt wird.

Über die Jahre hinweg hatte V. dort auch Bilder gepostet und Statusmeldungen verfasst. Es finden sich Zitate von Alexander Pushkin und auch von Ibn Taimīya, einem islamischen Gelehrten, der oft als Wegbereiter des modernen Islamismus beziehungsweise Salafismus genannt wird. Einige Fotos dokumentieren zudem das Leben in Vorarlberg—Bilder der bergigen Landschaft, eine Schifffahrt am Bodensee, oder der Besuch eines Käselagers, von dem der Mann fasziniert den Bekannten in der Heimat berichtete.

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Im Jahr 2014 begann Dzianis V. allmählich, seine Spuren im Internet zu verwischen.

Als eine weißrussische Nachrichtenseite das Profil vor kurzem erwähnte, veränderte sich auch diese Seite—die Fotos aus Österreich wurden gelöscht, der Name geändert und der Wohnort von „Bregenz" zu „Moskau" getauscht. Nach Kontaktaufnahme mit diesem Profil meldet der Inhaber, dass er die Seite vor gut einem Jahr von Denis V. übernommen habe.

Ein anderer Internet-Freund, ein 25-Jähriger Polizist aus der Ukraine, erzählt, er habe zum letzten Mal am 5. Juli diesen Jahres mit Dzianis V. über Skype kommuniziert. „Er hatte es eilig, wollte offensichtlich umziehen", erklärt der Mann im Gespräch mit VICE. Über Religion hätten die beiden seit dem ersten Kontakt 2012 nie ein Wort verloren. Man tauschte sich hauptsächlich über Online-Gaming aus: „Er war ein guter, positiver Kerl."

Seiner Mutter hatte Denis V. über die Jahre monatlich Geld gesendet, meist ein paar 100 Euro. Anfang Juli sollte dann auch sie ihn zum letzten Mal über die Webcam des Nachbars sehen: „Er war gerade dabei, seine Arbeitskleidung zu waschen und meinte, dass er mir diesmal eine größere Summe schicken möchte." Insgesamt handelte es sich um 7.000 Dollar, die Denis V. seit 15 Jahren gespart hatte. „Ich fragte ihn, warum. Er sagte nur, er wolle, dass ich davon zwei Jahre lebe. Er selbst hatte vor nach Wien zu gehen, um sich eine neue Arbeit zu suchen." Noch einmal meldete sich der Sohn dann Mitte Juli von einem österreichischen Handy, um sich zu erkundigen, ob das Geld denn auch angekommen sei. Danach verliert sich die Spur.

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Das Istanbuler Hotel, dessen Visitenkarte bei V.s vermeintlicher Leiche gefunden wurde, verneint auf Anfrage und nach Durchsicht der Daten von 2015, dass ein Mann mit dem Namen dort übernachtet hätte.

Foto mit Genehmigung von ANF News

Nachdem die Meldung des toten Dschihadisten samt Fotos durchs Netz ging, gab es auch Stimmen, die die Echtheit der Geschichte anzweifelten. Es kam die Frage auf, warum der Mann gleich mit so vielen, detaillierten Dokumenten gefunden wurde. Auch wurde argumentiert, dass die Leiche ja viel kräftiger wirke, als der hagere Denis V. Das Gesicht auf der Aufnahme war außerdem unkenntlich gemacht worden. Bei der kurdischen Nachrichtenagentur ANF bestätigt man auf Nachfrage jedoch die Herkunft und Echtheit der Bilder, die von Reportern vor Ort am Mount Kolik im Nordwesten des Iraks gemacht wurden. Auch das unzensierte Foto stellt man VICE zur Verfügung.

Schließlich ist es die Mutter Larysa V., die anhand des unverpixelten Bildes ihren Sohn eindeutig erkennen kann: „Es ist er—die Augenbrauen, die Nase, die Haare." Denis V. hatte im sogenannten Islamischen Staat keine fünf Monate überlebt. Die Mutter ist sich auch sicher, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er mit einer Waffe umgehen sollte. Beim Militär wäre er nie gewesen. „Ich weiß nicht, ob es Opium oder Hypnose war, dass er dort hingegangen ist. Ich kann es mir einfach nicht erklären", beklagt sie den Tod ihres Sohnes.

Im österreichischen Innenministerium schweigt man zu dem Fall seit Beginn. Dass man Denis V. nie als eine der insgesamt 250 Personen gehandelt hatte, die bisher von Österreich aus nach Syrien oder in den Irak gegangen sind, sieht sicher unglücklich aus. Gleichzeitig zeigt der Fall auch, dass Überwachung alleine nicht das geeignetste Mittel ist. Die Radikalisierung von V. erfolgte subtil, der Entschluss, letztlich nach Syrien oder in den Irak zu gehen schlummerte wohl schon länger in den Gedanken des Mannes. Vielleicht war es die Endstation einer abstrusen Suche nach Identität.

Es war der erste Dezember 2015, als die Meldung von Denis V.s Tod über die kurdische Nachrichtenagentur gemeldet wurde—übrigens exakt jenes Datum, an dem auch die Gültigkeit seiner Rot-Weiß-Rot Karte erloschen ist.

Thomas auf Twitter: @t_moonshine