Seefahrende Hippies

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Seefahrende Hippies

Tod Seelies beneidenswerte Abenteuer auf selbstgebauten Booten.

Hast du nicht auch ab und zu das Bedürfnis, von deinem Schreibtisch aufzuspringen, „Scheiß drauf" zu rufen, aus Holzresten und Schrott ein Boot zu bauen und mit einer Gruppe von Guerilla-Künstlern ein Auto in die Luft zu jagen? Ich bin mir sicher, diesen Traum hatte jeder irgendwann schonmal. Wenn wir an verdreckten Crust-Punks vorbeigehen, die auf dem Bürgersteig sitzen und Dosenbier trinken, überkommt uns ein Anflug von Neid. Denn diese Leute l-e-b-e-n tatsächlich, während der Rest von uns nur am Schreibtisch hockt und am Monatsersten die Miete bezahlt.

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Der New Yorker Fotograf Tod Seelie verbrachte die letzten 15 Jahre mit einer Gruppe Nomaden, die rennen und spielen, feiern, Sachen anzünden und kranke Wasserfahrzeuge bauen (ziemlich genau so, wie ihr das übrigens auch in Paul Poets feschem Film Empire Me sehen könnt). Diese Mischung aus Street Art und Hochseepiraterie ist nun in seinem neuen Buch Bright Nights: Photographs of Another New York dokumentiert. Ich habe mich mit ihm zusammengesetzt, um mir von dieser Lebensweise und der Entstehung der Bilder erzählen zu lassen.

VICE: Dein Buch ist voll von Bildern, die einen auf Anhieb mitreißen. Wie bist du zu den Motiven gekommen?
Tod Seelie: Es war so, dass ich in den letzten 15 Jahren Teil einer Künstlergemeinschaft war, als Beobachter und auch als Mitwirkender. Das Buch konzentriert sich vor allem auf New York City, aber wir sind auch eine Menge gereist. Als Mitwirkender habe ich viel erlebt und dabei geholfen, Dinge umzusetzen, die für uns selbst, aber hoffentlich auch für andere, toll und inspirierend sind. Als Beobachter konnte ich die einzigartigen Geschichten dieser großartigen Leute dokumentieren, die von ihrem Instinkt dazu getrieben werden, etwas zu schaffen. Es sind Leute, die sagen: „Hey, lass uns diese verrückte Sache machen." Und dann tun sie es auch.

Es ist eine dionysische Welt.
Das liegt an dem starken Impuls, deinem kreativen Drang zu folgen. Sei es, um gigantische Flöße aus gefundenen Objekten zu bauen und damit auf einem Fluss entlang zu segeln, in verlassenen Theatern wilde Partys zu veranstalten, Starkbier-Anzeigen durch Kinderzeichnungen auszutauschen oder Schrottwagen in die Luft zu jagen. Es sind Leute, die zu verfallenden und verlassenen Plätzen der Stadt strömen, wo sie ihr Ding machen und ihre Ideen umsetzen können.

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Das klingt toll. Meinst du, dass diese Bewegung eine Gegenreaktion zur Erfahrung der Digital Natives ist, deren Leben zum Großteil virtuell abläuft? Also eine Art Sehnsucht, sich wieder radikal mit dem eigenen Körper und anderen Menschen auseinanderzusetzen?
Virtuell gibt es nichts, was mit dem Gefühl vergleichbar wäre, das du hast, wenn du mit ein paar Leuten eine riesige Brücke hochkletterst, der Wind dir an den Klamotten reißt und die Möglichkeit besteht, dass du stirbst.

Ist das das Verrückteste, was du je gemacht hast?
Das ist eine schwere Frage. Ich stand schonmal ein bisschen zu nah an einem explodierenden Auto, ich bin an Brücken hochgestiegen und in Tunnel geklettert. Als wir die Südspitze von Manhattan umrundet haben, habe ich ein sinkendes Boot gesteuert und Fotos gemacht, während ich Fähren und aggressivem Wasserverkehr ausweichen musste.

Aber eine meiner unvergesslichsten Erfahrungen war, als ein paar von uns in Venedig waren und auf Schrottflößen den Canal Grande langgefahren sind. Sechsmal wurden wir nicht durchgelassen, also fuhren wir nachts im Schutz der Dunkelheit auf den Kanal und riskierten eine Gefängnisstrafe. Das war eine Floßflotte, die Swoon entworfen hatte und die wir aus gefundenen Materialien hergestellt hatten. Auf den Flößen waren Möbelstücke, die wir von innen angezündet haben, sodass sie glühten. Auf einem der Flöße spielte die Band Dark Dark Dark, dadurch hatten wir einen gespenstischen Soundtrack für unsere Reise auf diesem uralten Stück Geschichte. Es war ein bisschen, als würden wir aus uns heraustreten und plötzlich verstehen: Wow, magischen Realismus gibt es ja wirklich.

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Hat diese Kunst auch was mit Survival zu tun?
Patti Smith meinte letztens, dass Künstler aus New York wegziehen sollten, weil durch erdrückende Mieten und Gentrifizierung eine Umgebung entsteht, die dem künstlerischen Schaffen entgegensteht. Obwohl an dieser Aussage etwas dran ist, sind viele meiner Bekannten noch nicht bereit aufzugeben. Wir gründen und gestalten weiterhin alle möglichen Projektgemeinschaften, die das Leben in New York für uns, und hoffentlich auch für andere, lohnenswert machen. Vor ein paar Jahren haben einige von uns Grub gestartet, dabei handelt es sich um ein Festessen, das aus weggeschmissenen Nahrungsmitteln zubereitet wird und für alle gratis ist. Zweimal im Monat sammeln wir bei den besseren Supermärkten das weggeworfene Essen ein, nehmen es mit nach Hause, waschen es und kochen aus den verwertbaren Sachen ein Gericht, von dem alle, die vorbeikommen, etwas abbekommen können. Es ist ein großartiger Weg, eine Gemeinschaft zu bilden, aber auch, als hungriger Künstler satt zu werden. Eines unserer letzten Projekte war ein Drive-in-Kino in Flushing Meadows, das wir Empire Drive-In genannt haben. Es besteht aus Materialien und Autowracks vom Schrottplatz, die wir aufgereiht haben, sodass Leute auf sie raufklettern und Filme schauen können. Dazu gibt es oft eine Live-Band. Es ist wirklich super.

Außerdem haben wir uns auch in Haiti eingesetzt, zusammen mit einem anderen Kollektiv namens Konbit Shelter. Wir sammeln Geld, um beim Aufbau von Häusern und der Schaffung von Arbeitsplätzen zu helfen. Wir haben die „Erdhügel"-Bauweise eingeführt, weil sie gut zu dem Gebiet passt, zum einen wegen der Baumaterialien und zum anderen, weil die Häuser dadurch stabiler sind. Wir arbeiten daran, Leute mit einzubinden, die Sachen wie Komposttoiletten und Raketenofen beisteuern können. Wir arbeiten auch daran, eine solarbetriebene Internetstation aufzubauen, damit das Dorf Zugang zu Informationen und Bildung hat, selbst im Vorgebirge und auf den Mangoplantagen.

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Das ist super.
Weil wir eben keine Ärzte sind, wollten wir einen Weg finden, als Künstler nachhaltige Hilfe zu leisten.

Tod Seelies Buch Bright Nights ist im Oktober bei Prestel erschienen. Mehr erfährst du über ihn auf seinem Blog.

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