Was ich als Sommercamp-Leiter über Kinder lernen musste
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Was ich als Sommercamp-Leiter über Kinder lernen musste

Viel Spass dabei, vor dem Zubettgehen den Fantasieflächenbrand zu löschen, bevor das ganze Heim in Angst aufflammt.

Es liegt idyllisch in den Alpen, gebettet zwischen zwei Flüssen am Waldrand, eine gute Länge entfernt vom nächsten Wohngebiet: Das Sommercamp, wo ich in diesem Jahr bereits zum achten Mal als Leiter gearbeitet habe. Nachdem ich einst schon als Kind am selben Camp teilgenommen hatte, zog es mich Jahre später auf die andere Seite. Es drängte in mir, das Treiben aus den Augen des Opponenten kennenzulernen. Und wo sich 50 bis 60 Kinder im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren für zehn Tage zusammenfinden, ergibt sich ein Spannungsfeld, das prädestiniert ist für grundlegende Erkenntnisse über kindliches Tun. Die wichtigsten Erkenntnisse:

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Macht ist da, um gebraucht zu werden

Du bist Leiter. Und die Kinder sind deine Feinde. Zu Beginn zumindest. Sprich nicht viel, höre gut hin, bis sich herauskristallisiert, welche Kinder bereits Umsturzpläne hegen. Es dauert keine fünf Minuten, bis du dir die Namen der—meist von den Eltern zur Camp-Teilnahme forcierten—älteren Alphatierchen gemerkt hast. Sie wären nämlich gerade lieber an einem LAN-Camp oder in der Nähe einer Pokémon-Go-Arena. Sie haben keinen Bock. Keinen Bock hier zu sein. Keinen Bock ihre Handys abzugeben. Etabliere dich immer eine Alphastufe höher, lass die Kleinmächtigen gar nicht erst an die Möglichkeit einer Camp-Revolution denken.

Verhindere ihre Pläne, indem du diese früh aufspürst und entkräftigst. Demonstriere deine biologisch-kognitive Überlegenheit. Wenn sich aber eine Revolte nicht mehr aufhalten lässt, wenn sich die Alpha-Minions aus den Betas, dem Rest der Kinder, eine Mitläuferarmee gezimmert haben: Blase das Lager rasch ab. Du wirst einen Kinderputsch und den anschliessenden Hausbrand vor der Polizei schwer rechtfertigen können.

Vertrauen ist da, um missbraucht zu werden

Du wirst es unter keinen Umständen hinbekommen, all deine Schäfchen stubenrein zu halten. Oder die Frische ihres Äusseren zu gewähren. Manche besitzen dasselbe T-Shirt in fünffacher Ausführung, andere sind gar selbst überzeugt, sie hätten ein Frisches angezogen, obwohl sich die Frühstücksmarmelade und der Walddreck augenscheinlich bereits in den Stoff gewoben haben. Einzelne wiederum führen nur ein einziges T-Shirt für die Dauer des gesamten Camps mit sich (liebe Eltern, warum?).

Traue also keinem Kind, was den Umgang mit Hygiene anbelangt. Das ist keine Bösartigkeit, im Gegenteil: Zeige jedem Kind all die Liebe, die du aufbringen kannst. Demonstriere vollstes Vertrauen. Aber checke hinter seinem Rücken immer wieder den Sauberkeitsstand der Kleidung. Halte auch Ausschau danach, wo die schmutzige Wäsche der Kinder ihren Platz findet. Einst erschnupperte meine sensibilisierte Nase eine Unterhose mit zünftigem Kackstrich in einem Necessaire.

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Die Kinder schlafen üblicherweise in Mehrbettzimmern. Unfassbar, in welcher Zeit sich die dortige Luft zu einem olfaktorisch bedenklichen Klumpen verdicken kann. Ich bewundere die stoische Ignoranz, mit welcher Kinder Übelgerüchen begegnen können. Einmal musste ich ausrücken, da sich aus einem Bubenzimmer ein Geruch in unsere Leiternasen geschlichen hatte, der sich unverkennbar zur Gattung der Fäkalien zählen liess. Wir fanden kurz darauf im Abfalleimer wiederum eine Unterhose mit zünftigem Kackstrich.

Als ich die Kleinen fragte, ob das niemand bemerkt habe, bekam ich die lapidare Antwort: "Doch, doch, die liegt schon lange da." Lerne also: Du fragst nicht nach dem Warum, fragst nicht: "Warum hat das niemand weitergeleitet?" Weil du mit der Antwort wohl nicht zufriedener sein würdest, als mit deiner eigenen: Kinder sind Kinder. Je früher du lernst, derartige Phänomene unreflektiert hinzunehmen, umso weniger Zeitverschwendung.

Neugier ist da, um Grenzen kennenzulernen

Du willst neben den Qualen auch etwas Spass haben. Es wäre reizvoll, ein Stanford-Experiment mit Unmündigen durchzuspielen. Aber widerstehe dem Reiz, du weisst, wie es ausgehen wird. Auch die Hunger Games würden ihre Opfer haben, in dem Moment, in dem du jedem Kind eine andere Waffe in die Hand drückst—noch bevor der Startschuss zu hören wäre. Widerstehe dem Reiz, soziale Experimente durchzuführen. Du hast weder die Kompetenz, noch die rechtliche Absicherung. Warte einfach ab. Deine unwissenschaftliche Neugier wird schon ihr Brot bekommen.

So oft du auch versucht hast, die Hausregeln eindeutig zu proklamieren, das Chaos wartet mit schelmischem Lächeln hinter einer Ecke. Entweder in Form von Zahnpastakunstwerken auf Badezimmerspiegeln. Oder wenn irgendwelche Alphas den Betas beim Abendessen vorgaukeln, der Pappbecher des Speiseeis sei essbar, und du kurz darauf Kotze mit Pappestückchen aufputzen musst. Jetzt kommst du zum Zug, füge dich deiner Rolle. Schick die Verdächtigen ins Leiterzimmer, dimme das Licht, ziehe zwei Sessel herbei und starte das FBI-Verhör. Das Schauen von zahlreichen Crime-Serien zahlt sich endlich aus.

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Du wirst gelegentlich selbst Zeuge kindlicher Neugier. Ich hörte an einem Abend, längst nach Nachtruhe, Flüstergeräusche, sah Licht unter einer Zimmertüre durchdringen, öffnete die Tür und blickte einem blanken Kinderhintern entgegen. Einige Kinder sassen im Lagerfeuerkreisstil um den Hintern und starrten auf seine Mitte. Niemand bemerkte mich. Ich, völlig perplex: "Was ist hier los?" Schock. Alle verkrochen sich in die Schlafsäcke, stellten sich schlafend. Irgendwann brach ich in Lachen aus. Sie krochen mit ihren Nasen unter den Schlafsäcken hervor. Ich konnte ein eigentlich unnötiges "Warum?" nicht zurückhalten und bekam tatsächlich eine logische Antwort: Weil sie wissen wollten, "wie das ausschaut, wenn es sich hinten öffnet und schliesst." Und nun ist es an dem Leiter das Urteil zu fassen, den Begriff "Normalität" vor den Kleinen festzulegen. Ich sage: Normalität ist relativ, Neugier ist normal.

Fantasie ist da, um schlafende Monster zu wecken

Hüte dich davor, deiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Unbedachte Bemerkungen wie "der Baumstumpf da hinten im Wald schaut aus wie ein untersetzte Frau" kann Konsequenzen haben, deren Folgen kolossal sein können. Denn in einem Camp-Heim im Alpengebiet, weit weg vom nächsten Wohngebiet, ist Grusel besonders den kleinen Kindern ein grosses Leid. Aber sie werden von den Abgründen ihrer Psyche selbst übertrumpft: Ihr Fantasievermögen spinnt unbewusst in radikaler Schnelligkeit neue Geschichten. Das Rad ist losgetreten. In Kürze wird aus dem Baumstumpf eine hühnenhafte Waldhexe, die Kinder frisst. Die Geschichte breitet sich aus wie stille Post.

Nach einer halben Stunde kommt bereits die Jüngste der Kinderhorde zu dir, mit Tränen in ihren grossen, süssen Augen blickt sie zu dir hoch: "Ich habe Angst vor den Zombies mit den Motorsägen." Viel Spass dabei, vor dem Zubettgehen den Fantasieflächenbrand zu löschen, bevor das ganze Heim in Angst aufflammt.

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Erlösung ist da, um den Schmerz zu vermissen

Am letzten Tag des Camps werden deine autonomen Reserven komplett aufgebraucht sein. Der stetige Lärmpegel hat sich als Tinnitus eingenistet, die fehlenden Schlafstunden als trockenrote Augen in dein Gesicht gelegt. Der letzte Camp-Kraftakt endet darin, die Kinder zum Packen zu bewegen. Du schleichst durch das Heim: Kleiderhäufchen haben ihre Besitzer verloren, Rucksäcke und Jacken liegen in den Garderoben, auf dem Klo, in den Duschen—auch wenn wir Leiter minütlich fragen: "Hast du alles?" Und wenn wir die Kleinen zur Auktion rufen, die Kleidungsstücke hochhalten, blickst du in das Gesicht des Kindes, von welchem du weisst: Dieses Kleidungsstück ist deins. "Cindy, ist das nicht deins?" Cindy reagiert nicht. "Warum steht hier Cindy?" Ich zeige auf die Innenseite der Jacke, Cindy kommt nach vorne, sagt nichts, ich reiche ihr das Stück. Warum hast du nichts gesagt? Du fragst nicht.

Ist alles verteilt, dann wird es Zeit, dass du die Kinder durchzählst. Es darf vom ersten bis zum zweitletzten Tag Verlustmeldungen geben, aber am letzten Tag muss die Bilanz wieder stimmen. Wenn niemand fehlt, geh nach Hause, streck die Beine auf einem Liegestuhl aus. Du merkst: Etwas fehlt. Die tobende Horde, der Lärmpegel. Da ist diese Stille hinter deinem Tinnitus. Es kommt vor, dass du auf YouTube den "Tell your children I ate all your Halloween"-Video anklickst. Die Kinderschreie wärmen dein Herz. Du fragst nicht nach dem Warum.

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Foto von Leslie Science & Nature Center | Flickr | CC BY-SA 2.0