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Die längste Wahl der Welt

Es gibt in Österreich immer noch eine Arbeiterklasse und sie hat Norbert Hofer gewählt

86 Prozent der Arbeiterschaft haben für Hofer gestimmt. Aber warum eigentlich?

Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt,
wir sind der Sämann, die Saat und das Feld.
Wir sind die Schnitter der kommenden Mahd,
wir sind die Zukunft und wir sind die Tat.

So beginnt das bereits 1927 im Zuge der Julirevolte in Wien entstandene Kampflied Die Arbeiter von Wien, das schließlich durch die Februarkämpfe der österreichischen Arbeiterbewegung gegen den Austrofaschismus internationale Bekanntheit erlangte. Noch heute gehört es zum musikalischen Repertoire von Antifa-Demos—zum Beispiel, wenn gegen Norbert Hofer demonstriert wird.

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Auch wenn Norbert Hofer schlussendlich doch nicht Bundespräsident wurde, lässt sich ein Trend klar erkennen: Österreichs Arbeiterinnen und Arbeiter haben sich spätestens 2016—vermutlich aber schon wesentlich früher—abgewandt von der Vorstellung einer sozialistischen Weltrepublik. Selbst die moderatere, realpolitisch in den letzten Jahrzehnten durchaus relevante Sozialdemokratie trifft den Zeitgeist der modernen Arbeiterschaft allem Anschein nach nicht.

Denn auch, wenn sich auf der Website der SPÖ immer noch eine Version der Arbeiter von Wien findet und der Refrain des sozialistischen Liedes die Herrschaft der roten Arbeiterklasse verspricht, ist spätestens seit Sonntagabend klar, dass anstatt der flammenden, roten Fahne momentan eher eine blaue der österreichischen Arbeiterschaft den Weg weist.

Laut orf.at haben immerhin 86 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter für Norbert Hofer gestimmt. Wobei auch hier ein Gendergap im Wahlverhalten zu beobachten ist und deutlich mehr männliche Arbeiter den freiheitlichen Präsidentschaftskandidaten gewählt haben. Die Wahlbeteiligung war mit 69 Prozent auch in der "Arbeiterklasse" relativ hoch.

Vor allem unter Arbeiterinnen und Arbeitern konnte Hofer viele Stimmen holen. Foto: Facebook/Norbert Hofer

Doch gibt es in Österreich überhaupt noch eine Arbeiterklasse? Wer sind diese Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich nicht mehr dem Internationalismus, sondern zunehmend in ganz Europa nationalistischen Bewegungen anschließen? Müssen wir den Begriff der Blauen Internationalen vielleicht ganz neu deuten?

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Tatsächlich lässt sich in Österreich kaum noch von einer Arbeiterklasse im marxistischen Sinne sprechen. Es gibt zwar immer wieder Initiativen wie die Partei der Arbeit oder die bereits bei Wahlen angetretene Sozialistische Linkspartei, die versuchen, das Klassenbewusstsein des emanzipativen (Rest-)Proletariats zu erhalten; Ereignisse wie der angedrohte Streik der Metaller 2013 sorgen dann kurzzeitig für ein revolutionäres linkes Hochgefühl. Aber tatsächlich bezeichnet "Arbeiter" heute mehr einen sozialen Stand als ein revolutionäres Subjekt.

Wenn also heute vom Wahlverhalten der "Arbeiter" die Rede ist, geht es allem um einen juristischen Begriff. Denn jede Person, die in Österreich im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses tätig wird, tut das entweder als Arbeiter oder Angestellter (zumindest, sofern man nicht selbstständig ist). Der Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten ergibt sich dabei aus der Berufssparte: Zu den Arbeitern zählen unter anderem Hilfskräfte, Lagerarbeiter und Bauarbeiter, aber auch Kellner, Chauffeure und hochqualifizierte Fachkräfte. Angestellte sind im Vergleich dazu Bürokräfte, Sachbearbeiter, Ordinationshilfen, Rezeptionisten und Kaufhausdetektive. Andererseits gibt es aber auch Unterschiede bei Kündigungsfristen und andere vertragliche Eigenarten.

Die SPÖ weigert sich, die Lebensrealität der heutigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anzuerkennen.

2014 hatte ein Arbeiter in Österreich ein durchschnittliches Nettoeinkommen von 1616 Euro pro Monat zur Verfügung. Allerdings lag bereits 2010 die Monatsausgaben eines durchschnittlichen Haushalts bei 1060 Euro. Finanzielle Schwierigkeiten für Teile der österreichischen Arbeiterschicht und daraus entstehender Unmut sind also durchaus real.

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Während die SPÖ aus ihrem eigenen linken Flügel und noch stärker von Arbeiterverbänden und Parteien, die sich in der Tradition der Arbeiterkämpfe des 20. Jahrhunderts sehen, für ihren bürgerlichen Kurs und die großkoalitionäre Haltung kritisiert wird, erklärt Gerhard Scherz von den Freiheitlichen Arbeitnehmern den Zulauf für die FPÖ aus der österreichischen Arbeiterschaft mit den "gestrigen Fantasien" der SPÖ von den "Arbeiterbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts".

"Die Arbeitnehmer haben sich laut aktuellen Statistiken überwiegend von der Sozialdemokratie emanzipiert", so Scherz gegenüber VICE. "Der Hauptgrund dafür liegt unseres Erachtens in der nachhaltigen Weigerung der SPÖ, wie auch der Gewerkschaften, die Lebensrealität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heutiger Prägung anzuerkennen."

Sozialbudgets werden ausgehungert, Kollektivvertragsflucht ist alltäglich. Klassische Druckmittel funktionieren nicht mehr.

Während man bei den Freiheitlichen Arbeitnehmern ein "sozialpolitisches Scheitern der sogenannten Sozialdemokratie" ortet, wird der in der SPÖ organisierten Arbeiterbewegung auch von linker Seite ein Totalversagen bescheinigt. "Sozialbudgets werden ausgehungert, Kollektivvertragsflucht ist alltäglich", schrieb etwa der Funke in einer Analyse zu den steirischen Landtagswahlen vor knapp einem Jahr. "Klassische Druckmittel funktionieren nicht mehr: als KollegInnen einer Straßenmeisterei dem Landeshauptmann drohten, ihre Parteibücher abzugeben, antwortete dieser: 'Es könnts mas scheibtruhenweis bringen'."

Aus linker Perspektive wird dabei vor allem die seit der Nachkriegszeit gültige Sozialpartnerschaft als verlängerter Arm der großen Koalition kritisiert. Sie stelle die Arbeiter ruhig, die gleichzeitig aber mit immer mehr Problemen konfrontiert seien.

Tatsächlich war die Sozialpartnerschaft bereits während des schwarz-blauen Desasters ab 2000 zum Auslaufmodell geworden, da das kooperative Verhältnis eindeutig ein Modell von SPÖ und ÖVP ist, die ihre gesamte Lebenswelt in rot oder schwarz gefärbten Vereinen und Verbänden organisierten. Daher ist die Sozialpartnerschaft auch von der jeweiligen Regierungskonstellation abhängig.

Die Bundespräsidentschaftswahl wird mittelfristig sicher Auswirkung auf die Sozialpartnerschaft haben. Mit der Schwächung der einstigen Großparteien werden auch die jeweiligen Verbände geschwächt. Ob das zu Gunsten einer linksrevolutionäre Arbeiterbewegung passiert, ist fraglich. Momentan profitiert daraus vor allem die FPÖ. Es scheint, als würde eine neue, politische Arbeiterklasse in Österreich heranwachsen—nur ist sie nicht mehr rot und marxistisch, sondern blau und nationalistisch.

Paul auf Twitter: @gewitterland