Gartenpartys, Neonaziaufmärsche und blutige Nasen – Exzess im Großbritannien der 80er
London, Julianas Sommer-Party, 1989 | Alle Fotos: Chris Steele-Perkin

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Foto

Gartenpartys, Neonaziaufmärsche und blutige Nasen – Exzess im Großbritannien der 80er

Die Fotos von Chris Steele-Perkins zeigen Eskapaden, Lust und Gemeinschaftsgeist.

Nicht nur an Wahlergebnissen, Modetrends oder dem Konsumverhalten lässt sich der Zeitgeist einer bestimmten Ära festmachen. Auch die Ausgehgewohnheiten von Menschen verraten uns mehr, als wir glauben. Sie zeigen nicht nur, wer wir sind, sondern auch, wer wir sein wollen – woher wir kommen und wohin wir gehen. Die Partys, die wir feiern, sind ein Spiegel unserer Zeit. Es sind die Momente, in denen Hemmungen fallen und Menschen abseits von Alltagskonventionen aufeinandertreffen.

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Nachdem er jahrelang humanitäre Krisen in Entwicklungsländern dokumentiert hatte, kehrte Chris Steele-Perkins Mitte der 1980er Jahre nach England zurück und begann dort, seine Landsleute bei ihren Freizeitunternehmungen zu fotografieren. Das daraus entstandene Buch, The Pleasure Principle, ist das fotografische Porträt eines Landes durch seine Clubs, Galas und Gartenpartys.


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Die Fotosammlung zeigt ein anderes Großbritannien, als das von der Premierministerin Margaret Thatcher propagierte. Statt radikalem Individualismus sehen wir ein Land, das von Gemeinschaftlichkeit und Ritualen zusammengehalten wird. Das heißt jedoch nicht, dass es in den Bildern konfliktfrei zugeht – es gibt Schlägereien, Neonazis und blutige Nasen. Das von Steele-Perkins porträtierte England ist ein sonderbarer, mythologischer Ort voller Leben und voller Gewalt.

Gerade hat das Londoner Tate Museum seine Werke erstanden. Wir haben die Gelegenheit ergriffen, um mit Chris über seine Fotos, ihre Entstehung und die Freizeitgestaltung in England zu sprechen.

Cambridge University Frühlingsball, 1989

VICE: Würdest du sagen, dass die Lebendigkeit dieser Bilder die damalige Zeit widerspiegelt? Oder entstand sie eher durch deine Herangehensweise als Fotograf?
Chris Steele-Perkins: Vielleicht hatte es mit dem Alter zu tun, in dem ich damals war. Und tatsächlich änderte sich die britische Gesellschaft unter Thatcher – sie wurde dreister und vulgärer. Eine Sache, die ich über England im Besonderen und Großbritannien im Allgemeinen bemerkenswert finde, ist: Es ist immer noch ein ziemlich sonderbarer Ort. Es gibt hier eine Menge sonderbarer Menschen, die sonderbare Dinge tun.

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Blackpool. 1989. Bed and Breakfast Hotels

Die Fotos zeigen auch ein gewisses Staunen. Die Küstenstadt Blackpool ist nicht gerade ein Ort, den man als magisch bezeichnen würde. Die Bilder vermitteln dennoch eine gewisse Aufregung.
Ich bin mir bewusst, dass manche Menschen nur dorthin gehen, um sich anschließend darüber lustig zu machen. Daran bin ich nicht interessiert. Es gibt auch eine andere Art der Farbfotografie, die sehr grafisch ist, der fehlt es aber an Emotionen. Ich weiß, wie man diese grafischen Dinge macht, aber will das nicht zum Selbstzweck tun. Wenn ich mir Menschen anschaue, möchte ich auch eine gewisse emotionale Verbindung zu ihnen haben.

Wie gewinnst du das Vertrauen der Menschen, die du fotografierst?
Das ist eine gute Frage. Ich weiß nicht, ob es eine einfache Antwort darauf gibt. Menschen gewöhnen sich sehr schnell an dich, wenn du relativ still bist. Dann kehren sie zurück in ihre kleine Welt. Wenn du genug Zeit mit ihnen verbringst, fällst du nicht mehr wirklich auf. Sie gewöhnen sich daran, dass du als Fotograf einfach dabei bist und deinen Job machst. Es ist, wie wenn jemand einen weißen Kittel und ein Stethoskop um den Hals trägt. Du behandelst diese Person dann anders, weil du davon ausgehst, dass sie ein Doktor ist und eine gewisse Rolle erfüllt. Das trifft auch auf Fotografen zu – damals hat man ihnen aber vielleicht mehr vertraut als heute.

Oxford-Studenten unter Hypnose auf dem Frühlingsball, 1989

Es gibt dieses tolle Foto mit den hypnotisierten Oxford-Studenten. War das eine Performance oder befanden die sich wirklich in Trance?
Das ist die Frage. Ich denke nicht, dass Hypnose ein wissenschaftlich begründeter Zustand ist. Es ist eher eine Art Aufhebung der Rationalität, an der du teilnimmst. Du lachst vielleicht auch über einen Comedian, den du nicht lustig findest, weil alle anderen lachen. Ich glaube, die Studenten spielen hier bei der Illusion mit, damit die Party weitergeht.

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Das dürfte ein Phänomen sein, das in einer Menge deiner Fotos auftaucht. Das Streben nach Vergnügen führt dazu, dass Leute kollektiv die Hemmungen verlieren – das erkennt man in allen diesen Bildern.
Das trifft auch auf die rechten Jugendlichen zu. In einer Gruppe wie dieser können sie stolz ihr Ding raushängen lassen, aber alleine in einem multiethnischen Stadtteil wie Brixton dürften sie etwas vorsichtiger sein.

Auf einer Demonstration des National Front Movement, 1989

Die 80er gelten in Großbritannien als das Jahrzehnt, in dem soziale Bindungen aufgebrochen wurden. In deinen Fotos sieht man jedoch viel Gemeinschaft und Leute, die kollektiv feiern.
Das stimmt und es gibt ja auch das berühmte Thatcher-Zitat: "So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht." Ich weiß nicht, wie sie jemals auf die Idee gekommen ist, so ein banal-bescheuertes Statement abzugeben. Aber offensichtlich hat sie es getan.

Premierministerin Margaret Thatcher während der Conservative Party Conference, 1985

Thatcher sieht auf dem Foto etwas überrascht aus – als wäre sie inmitten einer Party. Erinnerst du dich noch daran, wie du das Bild gemacht hast?
Es war bei der Conservative Party Conference in Blackpool, ich habe es da geschafft, zwei Fotos zu machen. Hinter mir war eine riesige Traube aus Presseleuten, die mit Ellbogeneinsatz versuchte, an sie ranzukommen. Um sie herum sind ihre Gefolgsleute und dann noch Sicherheitsleute, die man aber in dem Bild nicht sieht. Die schieben die Menschen aus dem Weg. Nach zwei Fotos war sie weg.

London, ein Hochzeitsempfang. Der Bräutigam ist Contergan-Opfer, 1989

Ein anderes Foto zeigt die Hochzeitsfeier eines Contergan-Opfers. Was kannst du zu dem Bild erzählen?
Das ist aus einer Story heraus entstanden, die ich für das Sunday Times Magazine gemacht habe. Die hatte in Großbritannien damals den Contergan-Skandal öffentlich gemacht. Ich wollte zeigen, was aus diesen Menschen 20 Jahre später geworden ist. Das ist Richard, der als Archivkraft in einer Bank gearbeitet hat. Er konnte Akten mit seinen Füßen aufheben und sie in der dritthöchsten Schublade des Aktenschranks ablegen. Die Frau, die er geheiratet hat, war eine Krankenschwester, die ihn einige Zeit lang gepflegt hatte.

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Es gibt auch ein Foto von einer Schlägerei in einem Club in Camden. Warum hast du das Bild in eine Serie über Lust und Vergnügen gepackt?
Schlägereien sind eine beliebte Freizeitaktivität der Briten. Du gehst aus, trinkst ein paar Bier und prügelst dich. Das war nichts Typisches für die 80er, man hat sich nur in anderen Klamotten geprügelt. Ich finde, es herrscht immer ein gewisser gewalttätiger Unterton – vor allem nach ein paar Bier. Das siehst du auch auf den Neonazifotos und einem anderen Bild in dem Buch. Darauf ist ein Typ mit blutender Nase, der aggressiv auf mich zeigt. Die Gewalt ist also da, aber ich überzeichne sie nicht.

London, eine Schlägerei in einem Club in Camden, 1989

Mir gefällt, dass die Oberschicht auf deinen Bildern beim Feiern nicht weniger erschreckend und vulgär aussieht als der Rest. Wolltest du die schichtspezifischen Unterschiede bewusst verschwinden lassen?
Ich hatte es nicht darauf angelegt. Ich sehe die Dinge halt so. Tatsächlich will ich nicht verächtlicher auf die Oberschicht als auf die Unterschicht blicken. Befremdlich finde ich wahrscheinlich beide, aber ich ergreife keine Partei. Es ist allerdings schwieriger, Zugang zur Oberschicht zu bekommen. Für diese Tür brauchst du den passenden Schlüssel.

Hattest du den Eindruck, dass die Menschen der Oberschicht zurückhaltender waren vor der Kamera?
Nein, sobald du einmal drin bist, hast du keine Probleme mehr. Ich hatte die Vogue dazu gebracht, mir einen Brief zu schreiben, dass ich über die großen, gesellschaftlichen Anlässe der Saison berichte. Ich kaufte mir dazu noch einen Secondhand-Abendanzug und schon war ich drin.

Überlegst du, dich heute noch einmal mit den Vergnügungsarten der Engländer auseinanderzusetzen?
Ich bin nicht wirklich scharf darauf, mich wieder mit etwas zu beschäftigen, mit dem ich mich bereits so ausführlich befasst habe. In gewisser Weise versuche ich ein Mosaik aus verschiedenen englischen Erfahrungen auszufüllen. Feiern war eine davon.

Mehr Fotos von Chris Steele-Perkins kannst du hier sehen.

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