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Sportschießen

Wir waren in Tirol bei einem Schießwettbewerb für Blinde

Beim 2. Internationalen Alpine Cup in Innsbruck hat die Kombination aus geladenen Gewehren und blinden Menschen erstaunlich gut funktioniert.
Der Autor mit Kurt Martinschitz, dreifacher Weltmeister mit einem Sehrest von ungefähr 10 Prozent des Normalwerts.

Alle Fotos von Thomas Girardelli

Wenn man an blinde Menschen denkt, kommen einem wohl am ehesten Blindenstöcke und -hunde oder Sonnenbrillen in den Kopf. Eine Assoziation mit geladenen Luftdruckgewehren ist da auf den ersten Blick zirka so naheliegend wie der Wasserhahn vom Bett aus gesehen an einem Sonntagmorgen. Der 2. Alpine Cup in Innsbruck versucht, uns das Gegenteil zu beweisen und auch blinde und sehbehinderte Schützen in der Gesellschaft ankommen zu lassen.

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Als ich das erste Mal davon hörte, konnte ich mir nicht viel unter dem Begriff "Blindenschießen" vorstellen. Immerhin fehlt den Schützen damit der essentiellste Sinn von jemandem, der mit einer geladenen Waffe hantiert: das Sehvermögen. Blind umfasst in dem Fall übrigens Menschen, die weniger als zehn Prozent Sehkraft des Normalwerts haben. Es ist aber keineswegs so, dass die Athleten aus den verschiedenen Nationen ziellos in der Gegend herumballern und hoffen, zufällig etwas zu treffen.

Ein Schütze aus Finnland mit seiner Frau, kurz bevor er den Blindenstock gegen sein Gewehr tauscht.

Die Teilnehmer zielen nämlich mit ihrem Gehör. Im Grunde funktioniert das so: Auf dem Gewehr befindet sich eine Zieleinrichtung, die hauptsächlich aus einer gewöhnlichen Hochgeschwindigkeitskamera besteht. Diese Kamera erkennt eine Lampe, die unterhalb der Zielscheibe angebracht ist und wandelt die Position des Gewehres in einen Ton um.

Je näher die Schützen in das Zentrum der Zielscheibe zielen, desto höher wird dieser Ton. Wenn sie dann exakt in der Mitte sind, springt der Ton auf eine vorher definierte Tonhöhe (die meist tiefer ist als die vorherigen Frequenzen). Im Idealfall wird genau in dem Moment abgedrückt, um eine hohe Punktezahl zu erreichen.

Um mir anzusehen, wie das Ganze in der Praxis funktioniert, spaziere ich in das Landesschießzentrum in Innsbruck und stelle mich bei ein paar der Schützen vor. Teilweise gestaltet sich das schwierig, weil mich die Schützen eben hören, aber nicht sehen können. Es folgen einige sehr, sehr komplizierte Handshakes, bis ich ihnen einfach auf die Schulter klopfe.

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"Bisher wurde das Blindenschießen eher ignoriert als gefördert und subventioniert", erklärt mir der Organisator des Alpine Cups, Patrick Moor.

Als nächstes treffe ich den dreifachen Weltmeister Kurt Martinschitz aus Kärnten und frage ihn bei der Gelegenheit, ob er mich auch mal schießen lässt. Er grinst mich an und drückt mir sofort sein Gewehr in die Hand – und ich schließe meine Augen.

Bis ich überhaupt auf die richtige Scheibe ziele, vergeht eine Ewigkeit – ganz abgesehen davon, dass ich mit dem Gewehr in der Hand zittere wie Peter Doherty. Während ich dastehe, wird die Traube rund um mich immer größer, bevor ich peinlich berührt resigniere und auf mehreren Sprachen gefragt werde, ob ich es mir etwa leichter vorgestellt habe.

Ja, ich habe es mir leichter vorgestellt. Als ich den Schützen das erzähle, strahlen sie über beide Ohren. Das ist immerhin genau, was sie erreichen wollen: den Leuten zeigen, dass auch sie selbstständig und frei leben und dieselben Hobbys ausüben können wie sehende Menschen. Und dass sie in vielen Dingen mit dem richtigen Training nicht nur besser als der sehende Durchschnitt, sondern richtige Profis sein können.


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Viele der Athleten wirken als hätten sie einen fünften Sinn. Während ich den Zusammenstoß mit herumstehenden Stühlen schon vor mir sehe, zirkeln die Schützen an ihnen vorbei als würden sie das Hindernis riechen. Fragt mich nicht, wie sie das machen, aber sie machen es. Leider sehen das vor allem die federführenden Organisationen oft nicht ein.

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Bezeichnenderweise haben es die Blindenschützen ausgerechnet dort am schwierigsten, akzeptiert zu werden, wo es ihnen am einfachsten fallen sollte: In der Schützen-Community. "Bisher wurde das Blindenschießen eher ignoriert als gefördert und subventioniert", erklärt mir der Organisator des Alpine Cups, Patrick Moor. Er ist Fachreferent fürs Schießen beim österreichischen Blindensportverband (ÖBSV) und aktueller Rekordhalter mit einer Punktezahl von 623,1 Punkten (möglich sind maximal 654 Punkten) in der „Königsdisziplin stehend frei".

Sein Ziel ist es, den Sport bis 2024 als offizielle paralympische Disziplin zu etablieren, wie er mir erzählt. Und er ist auf einem guten Weg: Während des Alpine Cups vertritt Ferrol van Hoefen aus den Niederlanden das Internationale Paralympische Komitee (IPC). Sein Prüfblick liegt auf den Klassifizierungen und Reglements, um die Sportart olympiareif zu machen. Bereits 2020 soll der erste Demobewerb bei den Paralympics in Tokio stattfinden. 2024 soll das Blindenschießen dann eine offizielle paralympische Disziplin sein.

Insgesamt sind in Innsbruck 28 Athleten aus 14 Nationen am Start. Dabei sind unter anderem Finnland, Polen, Deutschland und Slovenien. Am meisten identifizieren kann ich mich aber mit dem 16-jährigen Schützen aus Norwegen, Thomas Peelen. Der Jugendliche ist im Alter von neun Jahren erkrankt und musste sich in weiterer Folge aufgrund eines zu hohen Augeninnendrucks beinahe 20 Operationen unterziehen.

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Heute sieht Thomas auf einem Auge noch ein Zehntel des Normalwerts, auf dem anderen Auge quasi gar nichts mehr. Im Schießsport geht der Junge aber richtig auf und wird in seiner Heimat ähnlich gefeiert wie die österreichische Fußball-Nationalmannschaft bei uns, wenn sie mal zufällig ein Tor schießt. In Norwegen hält er übrigens auch den Streckenrekord auf einer Kartbahn.

Vielen anderen Sportlern hier geht es ähnlich: Sie sind sehend auf die Welt gekommen, haben verschiedene Berufe erlernt und teilweise Familien gegründet, bevor sie erblindeten. Sie fanden im Sport neue Kraft und können sich hier mit den besten Athleten messen. Manche halten sogar mit ihren sehenden Konkurrenten mit.

Das ist auch das Ziel vom IPC-Delegierten Ferrol Van Hoefen: "Wir versuchen, die blinden Schützen mit so wenigen Ausnahmen wie möglich antreten zu lassen. Das Projekt Paralympics hat vor zwei Jahren gestartet und es ist sehr erfreulich zu sehen, dass wir in dieser kurzen Zeit vom absoluten Neustart bereits so weit gekommen sind."

Das ist auch für mich beeindruckend zu sehen. Was die Athleten vereint, ist weniger ihr gemeinsames Defizit, als die Möglichkeit, im Wettbewerb ihre Selbstständigkeit wiederzuerlangen. Auf dem Rückweg zum Hotel nehme ich ein paar blinde Schützen aus Finnland in meinem Auto mit, verabschiede mich mit einer Reihe ungewöhnlicher Handshakes und schaue zu, wie sie von ihren Guides die Stiegen hochgeführt werden.

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