Wie es ist, mit einer Roboterhand zu leben
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Technologie

Wie es ist, mit einer Roboterhand zu leben

Bei Ärzten und Kindern ein Star, beim Sex sogar nützlich – ein Jahr nach der "Montage" zieht unser Autor Bilanz.

Wir alle leben in einer Zukunft, von der wir als Science-Fiction lesende Jugendliche nur träumen konnten. In dieser Zukunft, die inzwischen unsere Gegenwart ist, gehören bionische Menschen längst in das alltägliche Stadtbild – zumindest aus meiner Sicht.

Meine Unterarm- und meine Unterschenkel-Amputationen gehen auf das Jahr 1999 zurück. Der Sog eines Zuges hat mich damals vom Bahnsteig mitgerissen. Lange Zeit habe ich mit der typischen myoelektrischen Armprothese gelebt, die in ihrer beige-rosa Erscheinung die Konzeptionen von "normal" wenig herausforderte. So wenig, dass viele meiner Mitmenschen oft erst nach Monaten die Behinderung bemerkten.

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Selbst Studentenkollegen fiel die Amputation teilweise erst am Ende des Semesters auf, obwohl wir uns auch in Arbeitsgruppen außerhalb der Universität getroffen hatten. Einmal, in jungen Jahren, kam es sogar zu einer unverhofften sexuellen Begegnung in einem beengten Zugabteil früh morgens. Meine zufällige Bekanntschaft hat während dieser ganzen Intimität nichts von einer fehlenden Hand gemerkt – bis zur Verabschiedung, als es dann heller war.

Ich entwickelte auch eine Empathie dafür, wie sich Frauen fühlen müssen, wenn sie denken: "Meine Augen sind hier oben".

Dabei habe ich die Prothese natürlich nicht bewusst versteckt. Ich forderte zwar immer zum Handschlag mit links auf, aber selbst wenn ich Kurzarm trug, hielten viele das nur für einen Gag oder dachten, ich wäre irgendwie prätentiös oder exzentrisch. Jetzt, mit der neuen BeBionics ohne jede Kosmetik, schauen alle nur noch dorthin, wo früher die Blicke niemals hin schweiften. Das Model ist immer noch so selten, dass ich selbst das japanische Staatsfernsehen dafür interessiert. Ich entwickelte auch eine sehr authentische Empathie dafür, wie sich so manche Frauen fühlen müssen, wenn sie denken: "Meine Augen sind hier oben". Jetzt wünscht sich jeder, dass ich ihm oder ihr die rechte Hand schüttle.

Ich habe mir eigentlich lange Jahre keine großen Gedanken über modernere Prothesen gemacht. Da der Unfall auf meine Jugend zurückging, bin ich mit der quasi Erstversorgung aufgewachsen. So wie ich mir nicht ausmalte, irgendwann eine gesunde linke Hand 2.0 zu bekommen, dachte ich auch selten an eine rechte Armprothese einer neueren Generation. Erst der Wechsel meines Orthopädietechnikers öffnete mir die Augen für die heutigen Möglichkeiten.

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Ich habe die "Michelangelo" von Otto Bock eine Woche lang getestet und erkannte schnell Fortschritte bei der Bedienung – vor allem die Bewegung des Handgelenks faszinierte mich. Die Lösung kam mir ziemlich gut durchdacht vor, aber als ich dann auch noch die BeBionics testete, brauchte ich nur 10 Minuten und die Entscheidung war gefällt. Die Bedienung war extrem intuitiv und ich konnte die Bauweise ziemlich schnell bei ein paar Liegestützen testen. Die Entscheidung fiel also recht schnell und nicht nur bezogen auf den Look – obwohl das Aussehen wie bei jeder Liebesgeschichte natürlich dazu gehört.

Für Ärzte war ich ein Star. Es dauerte nicht lange, bis die ersten ein gemeinsames Fotos mit mir verlangten.

Einige Monate später, im Mai 2016, konnte ich die neue Prothese endlich anlegen.
Das erste Jahr verlief ziemlich abwechslungsreich und gut für mich. Optimierungsbedarf gibt es natürlich immer: Nach dem ersten Schaden musste ich zum Beispiel die Liegestützen etwas einschränken, weil die schiefe Krafteinwirkung dazu führen kann, dass der Kolben für den Zeigefinger so stark in seine Öffnung gedrückt wird, dass er stecken bleibt. Außerdem dürfte die Power noch ein wenig erhöht werden, selbst wenn das auf Kosten des Gewichts gehen würde.

Aber viel wichtiger sind sowieso die Erlebnisse, die man in der Anfangszeit macht. Ich habe gelernt, dass ein bionischer Arm der perfekte Tragegriff beim Einkaufen sein kann und
kleine Kinder im Park ziemlich ausflippen, wenn sie ihren Müttern sagen können: "Der da hat eine Roboter-Hand!" Für Ärzte war ich außerdem immer ein Star. Als ich mit einem kleinen Bruch am linken Handgelenk ins örtliche Krankenhaus musste, bildete sich eine richtige Traube von Medizinern, die alle herbei schwärmten, um auch einmal den Cyborg zu sehen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Ärzte gemeinsame Fotos mit mir verlangten.

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Ähnliche Erinnerungsfotos entstanden in diesem Jahr auch in Brüssel, in Wien auf einer Anime-Con, bei Treffen mit österreichischen Nationalratsabgeordneten in den Tiroler Bergen und in Krefeld auf einem Event für elektronischen Sport. Ich habe keine Ahnung, auf wie vielen Facebook-Profilen, die ich nicht kenne, ich auftauche, aber es sind bestimmt ein paar. Ich will jetzt nicht in Starallüren abschweifen, ich will nur zeigen, dass die Welt wohl noch nie in ihrer Geschichte so offen für Andersartigkeit war wie jetzt.


Auch bei VICE: Living With Future Prosthetics


In diesem Jahr habe ich sehr oft erlebt, dass es viele Menschen begrüßen, wenn wir Nichtnormalos den ersten Schritt wagen und unsere Abweichung von der Norm ganz offen zeigen. Die Resonanz ist in so vielen Fällen positiv, dass alle, die sich in eigenem Unbehagen abwenden, leicht zu übersehen sind (und im Vergleich mit der Mehrheit ganz schön ignorant wirken).

Natürlich handelt es sich dabei um eine sehr oberflächliche Neugierde und es geht wirklich nur um den Arm und nicht um die Person, die dran hängt – aber das ist absolut in Ordnung. Mir geht es darum, das Stadtbild ein bisschen mit zu verändern und vielleicht die Fantasie anzuregen.

In Wien habe ich zum Beispiel eine Bastlerin kennengelernt, die ganz auf eigene Faust an ihrer eigenen bionischen Hand arbeitet und sich vom realen Beispiel Inspiration holen konnte.

Wenn wir unsere Andersartigkeit annehmen, dann bietet sie uns tatsächlich die Chance, andere Leben zu beeinflussen.

Nach dem ersten Jahr ist das Meiste schon zur Gewohnheit geworden – wie zum Beispiel der Autogrip der BeBionic, der schon oft verhindert hat, dass mir Dinge aus der Hand fallen, oder die nützlichen Griffpositionen, die das Binden von Schuhbändern leichter machen. Wenn ich in der Stadt im Vorbeigehen gefragt werde "Funktioniert sie?", antworte ich inzwischen mit einem schnellen Faustballen und es wundert mich mittlerweile nicht einmal mehr, dass die Hand auf viele hübsche Frauen dieselbe Anziehungskraft hat wie ein Hundewelpen.

Die wichtigste Erkenntnis habe ich meinem Orthopädietechniker zu verdanken. Bei einem Besuch erzählte er mir, er habe während seines Zivildienstes im Reha-Zentrum in Bad Häring gesehen, wie ich damals mit einem eingebauten Nokia-Handy in meiner Armprothese experimentierte – und dass ihn genau dieses Bild zur Wahl seines Berufes inspiriert habe. Jetzt, zirka 15 Jahre später, durfte er den Schaft für die BeBionics für die gleiche Person bauen.

Für mich zeigt das vor allem eins: Wenn wir unsere Andersartigkeit annehmen, dann bietet sie uns tatsächlich die Chance, andere Leben so zu beeinflussen wie ein einzigartiger Song oder ein besonders gutes Buch zum richtigen Zeitpunkt unser Weltbild neu definieren kann. Wie viel Verantwortung das mit sich bringt, werden meine Hand und ich im zweiten Jahr herausfinden.

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