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Popkultur

Wie viele junge Muslime fake ich im Ramadan das Fasten

Ich bin einfach nicht gläubig. Aber das weiß niemand, weil ich Angst vor den Konsequenzen habe.

Es ist Ramadan, meine Mutter müht sich in der Küche ab und bereitet ein Festessen vor. Sie fastet, obwohl sie 64 Jahre alt ist – und Diabetikerin. Und ich? Ich hatte zum Mittagessen eine Riesenportion Fisch mit Pommes, eigentlich habe ich nicht mal richtig Hunger. Aber meine muslimische Familie glaubt, ich würde brav mit allen anderen fasten. So geht das schon seit Jahren.

Im Monat Ramadan übt sich der Großteil der weltweit 1,8 Milliarden Musliminnen und Muslime im Verzicht. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang sollen alle gesunden Anhänger des Islam "fasten", das bedeutet: kein Essen, kein Trinken (nein, nicht mal Wasser), kein Rauchen, kein Fluchen, kein Lästern und nichts Sexuelles. Während des Ramadan zu fasten, ist einer der fünf Pfeiler des Islam. Wer sich nicht daran hält, kann von anderen Muslimen verspottet werden, in manchen islamisch geprägten Ländern kann man dafür sogar ein Bußgeld oder eine Haftstrafe bekommen. Viele Muslime freuen sich auf den Fastenmonat, weil sie diese Zeit als eine spirituelle Reinigung empfinden, die den Ton für das restliche Jahr angibt. Zumindest trifft das auf solche Muslime zu, die auch wirklich glauben. Das tue ich nicht. Aber die Muslime in meinem Umfeld wissen das nicht.

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Leider bedeutet das für mich und viele andere, die im selben Boot sitzen, dass wir zum Ramadan einen ganzen Monat lang unehrlich zu unseren Verwandten und Freunden sein müssen. Es gibt viele Gründe, warum jemand mit einem muslimischen Hintergrund im Ramadan trotzdem nicht fasten möchte. Vielleicht nehmen sie die Regeln der Religion nicht so ernst, auch wenn sie religiös sind. Vielleicht verstehen sie das Fasten als etwas, das nur besonders traditionelle Muslime tun, sehen sich selbst aber als moderne oder entspannt praktizierende Muslime. Oder sie haben womöglich die Religion komplett hinter sich gelassen, aber hatten noch kein "Coming-out" – so wie ich. Wie so viele junge Leute bin ich einfach nicht religiös. Nur geht mein Umfeld eben traditionell streng mit Abtrünnigen um.

Das Tauziehen zwischen den muslimischen Generationen ist inzwischen in der Popkultur angekommen: Aziz Ansaris Figur in Master of None isst Speck, Kumail Nanjianis Figur in The Big Sick wird von seinen Eltern enterbt, weil er eine weiße Amerikanerin heiraten will. So ergeht es vielen von uns in der Realität. Gerade jene, deren Eltern aus einem islamisch geprägten Land in den Westen ausgewandert sind, empfinden die Bezeichnung "muslimisch" oft als Teil ihrer Identität, obwohl sie die Religion gar nicht praktizieren. Der hohe Stellenwert des Ramadan macht diesen Monat für uns so besonders schwierig. Wir haben nur zwei Optionen: endlich unsere echte Einstellung mit unserer Familie teilen, oder irgendwie durch diesen Monat kommen. Ist der Ramadan erst mal geschafft, wirkt das restliche Jahr wie ein Kinderspiel. Manche fasten vielleicht mit, ohne dabei spirituelle Absichten zu haben. Andere versuchen, ihren muslimischen Freunden und ihrer Familie vier Wochen lang aus dem Weg zu gehen.

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Die unehrlichste Praktik ist allerdings das Fake-Fasten, so wie ich es mache. Du ziehst dir nach Lust und Laune Burger und Cola rein und langst dann abends mit den anderen zu, als wärst du am Verhungern wie sie. So tun, als würde man den Glauben noch ausüben – das ist nicht der Sinn des Fastens, es soll doch eine spirituelle Annäherung an Gott sein. Aber ich mache es trotzdem, damit niemand über mich urteilt.

Anfangs war es schwierig, vor den Muslimen in meinem Umfeld zu verstecken, dass ich nicht faste. Aber inzwischen habe ich die nötigen Skills entwickelt. Es kommt natürlich ein bisschen darauf an, wie groß dein Wohnort ist und ob es dort viele Muslime gibt. Je kleiner die Stadt, desto größer die Herausforderung. Du kannst nicht irgendwo mit einem Caramel Latte rumrennen, wenn auch nur die kleinste Chance besteht, dass du anderen Muslimen begegnest. Ich habe den Blick schon erlebt, der einen dann treffen kann, so eine urteilende Enttäuschung. Wenn ich in meiner mittelgroßen kanadischen Vorstadt tagsüber im Auto unterwegs bin, schaue ich trotzdem noch in alle Richtungen, bevor ich einen Schluck Wasser nehme. Wenn ich mittags auswärts essen will, suche ich mir einen Ort aus, wo gläubige Muslime vermutlich nicht hingehen würden: Bars oder Hooters-Filialen zum Beispiel. Märkte und Läden, wo es Halal-Fleisch und Falafel gibt, meide ich natürlich.

Wenn das heimliche Nicht-Fasten den ganzen Tag über gut gegangen ist, kommt allerdings die ultimative Challenge: Du musst bei Sonnenuntergang so tun, als hättest du ein Loch im Bauch. So groß bei den anderen dann der Hunger ist, so groß sind meine Schuldgefühle, wenn ich daran denke, dass ich erst vor wenigen Stunden eine große Schüssel Chili verputzt habe. Manche Menschen sehen dir auch auf den ersten Blick an, dass du nicht gefastet hast, und du kannst nur hoffen, dass sie nichts sagen. Es ist, als hätten sie einen sechsten Sinn dafür.

Ich lebe jetzt seit Jahren diese Lüge und überlege oft, es endlich zu beenden und den Menschen in meinem Leben zu sagen, wie ich denke. Und esse. Aber bisher habe ich mich nicht dazu durchringen können. Niemand will seine Liebsten enttäuschen. Aber gleichzeitig will ich auch unheimlich gern diesen Kebab hier essen.

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