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Warum niemand einen Hartz-IV-Selbstversuch von 'Galileo' braucht

Gibt es nicht genug echte Arbeitslose, die man fragen kann?
Ein junger Mann hält Geldscheine in die Kamera
Screenshot aus der besprochenen Galileo-Sendung

Jonas geht es ziemlich gut: schöne Wohnung in München, schwarzer Mercedes CLA, Restaurantbesuche, viele Reisen. Mit 22 ist der Münchner bereits Chef einer kleinen Fitnessstudiokette, die anscheinend ziemlich gut läuft, so dass er sich eigentlich nie Gedanken über seinen Lebensstil machen muss.

Bis dann eben Galileo vorbeikommt – und ihn zu einem Experiment überredet. Einen Monat lang soll er vom Hartz-IV-Regelsatz leben: 416 Euro. Zuerst dachte Jonas, dass er damit locker über die Runden kommt. "Aber jetzt habe ich gelernt, dass da noch die ganzen Fixkosten von abgezogen werden", erzählt er in die Kamera. "Das heißt: In der Realität hat man deutlich weniger zum Leben."

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No shit, Sherlock. Und damit sind wir auch schon mitten im Problem.

Denn der Film mit Jonas' Experiment, den Galileo am Dienstagabend ausgestrahlt hat, ist im Prinzip eine knapp 15 Minuten lange Frechheit. Denn nicht mal bei ProSieben können sie das geglaubt haben: Dass ein völlig sorgloser junger Mensch, der sich für genau einen Monat künstlich einschränkt, die beste Möglichkeit ist, um etwas über das Leben mit Hartz IV herauszufinden.

Statt einfach – verrückte Idee, ich weiß – einen der knapp 5,6 Millionen Deutschen zu fragen, die wirklich von Hartz IV leben, und zwar nicht nur einen Monat.


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Disclaimer: Anders als viele andere habe ich kein grundsätzliches Problem mit solchen Experimenten. Das wäre auch ziemlich albern, weil ich selbst genug davon gemacht habe. Ich glaube, dass es manchmal sogar sinnvoll sein kann, wenn eine Redaktion einen "normalen" Menschen in eine Situation schickt, die den meisten völlig fremd ist. Einfach weil die Zuschauer sich besser damit identifizieren können, wenn der Protagonist ein bisschen so aussieht wie sie selbst und am Anfang genauso wenig Ahnung hat – und so im Idealfall mehr Empathie für die Menschen entsteht, die wirklich in dieser Situation sind.

Aber: Hartz IV ist keine exotische Welt, die ein mutiger Galileo-Mensch für uns erkunden muss. Hartz IV ist für Millionen Menschen überall in Deutschland Realität. Allein durch ihren Aufbau suggeriert die Sendung aber, dass diese Menschen nicht für sich selbst sprechen können – weshalb ein gut frisierter, junger Typ das eben mal für sie übernehmen muss. Das ist das eine Problem.

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Das zweite Problem ist, dass man bei der Sendung auch fast nichts darüber lernt, wie es ist, wirklich mit Hartz IV zu leben. Klar, man kann Jonas dabei zuschauen, wie er lernt, jeden Cent zweimal umzudrehen, weil er sich eben selbst auferlegt hat, in diesem Monat nur 416 Euro auszugeben. Was Galileo dabei aber verheimlicht: Das hat ihm höchstwahrscheinlich Spaß gemacht.

Jonas macht eine Liste seiner üblichen Ausgaben

Jonas listet seine normalen Ausgaben auf | Screenshot aus der Sendung

Ich weiß das, weil ich selbst schon ähnliche Sachen gemacht habe. Mich eine Woche lang von einem Euro am Tag ernährt, dann noch mal eine Woche ganz ohne Geld (Spoiler: Ich habe vor allem sehr vielen Kollegen Essen geklaut). Beide Male fand ich es erfrischend und interessant zu sehen, wie viel Geld ich normalerweise ausgebe, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Im Grunde hat sich das angefühlt wie eine finanzielle Entschlackungskur, eine künstliche Verknappung, die es mir erlaubt hat, meinen Alltag ein bisschen bewusster zu erleben. Und das Beste: Danach hatte ich viel mehr Geld auf dem Konto, weil ich ja nichts ausgegeben hatte.

Überraschung: Wenn du wirklich von Hartz IV lebst, dann fühlt sich das mit Sicherheit ziemlich anders an. Da bekommst du keine Belohnung, wenn du einen Monat von 416 Euro gelebt hast, sondern da bekommst du eben: nochmal 416 Euro, für den nächsten Monat. Und der ganze Scheiß geht wieder von vorne los. Und wenn man sich das nicht ausgesucht hat und auch nicht weiß, wann das wieder aufhört, dann macht das eben deutlich weniger Spaß.

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Denn Hartz IV bedeutet nicht nur: wenig Geld. Es bedeutet auch: soziale Ausgrenzung, ständige Sorge, Selbstzweifel und Angst. Und je länger man dem ausgesetzt ist, desto schlimmer wird es – mit sehr realen Folgen: Im Jahr 2013 fand man in einer Studie heraus, dass jeder dritte Hartz-IV-Empfänger psychisch krank ist. Viele Arbeitslose, erklärt Spiegel Online in dem Artikel dazu, litten "unter affektiven und neurotischen Störungen, Depressionen und seelisch bedingten körperlichen Leiden". Natürlich konnte die Studie nicht sicher sagen, was zuerst kam – aber sogar der Beamte, der damals für das gesamte Hartz-IV-Programm verantwortlich war, erklärte sich überzeugt, dass Arbeitslosigkeit "Depressionen und andere psychische Erkrankungen auslösen oder verstärken" könne.

Jonas bekommt von alldem natürlich nichts mit, auch wenn die Macher der Sendung ihn betonen lassen, dass man "psychisch echt labil" würde, wenn man "die ganze Zeit zu Hause rumsitzt, weil du weißt, du kannst eh nichts machen".

Besonders eigenartig wird es gegen Ende der Sendung, als die Redakteure Jonas dann – wahrscheinlich aus schlechtem Gewissen – doch noch einen echten Hartz-IV-Empfänger treffen lassen.

Der 48-jährige Wassili lebt seit acht Jahren von Hartz IV. Der große, freundliche Mann sieht vor allem erschöpft aus, als er Jonas die kleine Wohnung zeigt, in der er seine Tochter alleine großzieht. Und: Als er erklärt, dass er meistens Essen für zwei Tage auf einmal koche, um Strom zu sparen, löst er mit diesem einzigen Satz viel mehr echte Emotion aus als Jonas mit seinem ganzen Experiment.

Und man fragt sich: Warum zur Hölle haben die den ganzen Film nicht einfach über Wassili gemacht?

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