Politik

"Im Neonazi-Block wurde ich mundtot gemacht, während ich fotografierte"

Diese Fotografin erzählt von den Neonazis auf den Montags-Demos '89.
Demonstrierende, Leipzig, 1989
Alle Fotos: Maria Notbohm

Am 4. September 1989 versammeln sich 1.000 Menschen vor der Leipziger Nikolaikirche. Sie rufen: "Stasi raus!" Fünf Montage später sind es 70.000 Demonstranten und Demonstrantinnen. Sie rufen: "Wir sind das Volk!" Eine von ihnen ist Maria Notbohm.

Als 16-jährige kam Maria Notbohm nach Leipzig. Für den Leistungssport. Mitte der 80er, mit 32, war das vorbei. "Da hatte ich plötzlich Zeit über", sagt sie. Sie ging zu einer Vernissage und erkundigte sich nach einem Fotoclub, dem sie beitreten könnte – und wurde fündig. Sie fotografierte in der darauffolgenden Zeit mal für Stadtwettbewerbe, mal für ihren Mann, der als Journalist arbeitete.

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An den Montagen zwischen September 1989 und Sommer 1990 fotografierte die heute 67-jährige nur für sich selbst. "Ich wollte diese Umbruchszeit festhalten", sagt sie gegenüber VICE. Für sie sei die Zeit vor und nach dem Mauerfall sehr bewegend gewesen. Zwischen Neonazis und Bannerhaltern fotografierte Maria Notbohm deshalb die Montagsdemonstrationen in Leipzig.

Wir haben mit ihr über die Fotos von damals gesprochen und die Erlaubnis bekommen, einige davon zu veröffentlichen.

Demonstrierende zwischen 1989 und 1990 in Leipzig

VICE: Wie kam es dazu, dass Sie diese Fotos geschossen haben?
Maria Notbohm: Ich war bei den Demos dabei, weil ich mich zu den Zielen bekannt habe – der Demokratisierung innerhalb unseres Landes. Als die Demos später aggressiver wurden, habe ich mich ausgeklinkt. Ab diesem Zeitpunkt war ich nur noch dort, um zu fotografieren.

Worauf haben Sie Ihren Fokus gelegt?
Ich bin in die Innenstadt und dort von einem Platz zum nächsten gegangen. Ich habe besonders auf die Plakate der Demonstrierenden geschaut. Die reichten von skurril bis sehr originell. Darauf standen vor allem Wünsche, was sich verändern soll.

Aber es gab nicht nur friedliche Demonstrierende?
Durch das Gedränge bin ich mitten in den Neonazi-Block geraten. Das war nicht gerade die angenehmste Erfahrung. Im Neonazi-Block wurde ich mundtot gemacht, während ich fotografierte. Die sagten zu mir: "Du hast hier gar nichts zu sagen. Bist du von der Stasi oder wie?".

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Demonstrierende zwischen 1989 und 1990 in Leipzig

Wie haben Sie die Montagsdemonstrationen erlebt?
Es hieß, die Montagsdemonstrationen seien friedlich gewesen, weil es zu keinem Polizei- oder Militäreinsatz kam. Mein Eindruck war jedoch ein anderer. So geht es auch vielen Menschen, mit denen ich mich intensiver über diese Zeit unterhalten habe. Diese Erfahrungen kamen aber nicht an die Öffentlichkeit. Die Angriffe waren – Gott sei Dank – weniger körperlich, aber verbal. Für mich war das aggressive und dominante Verhalten einiger Demonstranten schockierend, eine regelrechte Ernüchterung. Man selber war so Feuer und Flamme und dachte, dass man nun endlich frei seine Meinung äußern könne.

Bis ich auf die Neonazis gestoßen war, hatte ich nur Menschen fotografiert, die stolz darauf waren, sich endlich bekennen zu können. Einige haben mir sogar Zeichen gegeben, damit ich ihre Schilder und ihre Gesichter fotografiere. Durch die Neonazis wurde plötzlich mein inneres Warnsystem eingeschaltet. Ab diesem Zeitpunkt wusste ich, dass ich aufpassen muss, wenn ich fotografiere. Auf der einen Seite gab es eine friedliche Revolution, auf der anderen Seite gab es Aggressivität.

Gab es einen Moment, in dem die Demonstrationen eskalierten?
Am 1. Mai 1990 trafen sich an einem Ort die Linksradikalen und an einem anderen die Rechtsradikalen. Sie wollten aufeinanderprallen. Der Polizeieinsatz hat damals verhindert, dass dies geschieht. Ansonsten wäre es da zu einer richtigen Schlägerei mit ungewissem Ausgang gekommen.

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Wir wussten damals, dass wir nun von einem Gesellschaftssystem in ein anderes übergehen würden. Das war eine aufregende Zeit – und nicht immer nur im positiven Sinne.

Demonstrierende zwischen 1989 und 1990 in Leipzig

Was fotografieren Sie heute?
Heute mache ich vor allem Reisefotografien. Ich bin Rentnerin und mein Mann und ich reisen gern. Mit der Technik heute ist vieles einfacher. Bis vor fünf Jahren habe ich nur analog fotografiert. Das war erstmal sehr aufreibend, die vielen Eindrücke plötzlich nicht mehr nur im Kopf, sondern auch auf der Speicherkarte festzuhalten. Für mich ist Fotografie ein Handwerk. Es tat mir immer ein bisschen in der Seele weh, wenn einer mit seinen digitalen Fotos rumgeprotzt hat. Wir mussten früher immer gucken, ob Belichtung und Schärfe stimmen, wenn wir eine Situation erkannt haben. Fotografie sollte man auch von der Pieke her ein bisschen kennen. Letztes Jahr hatte ich eine kleine Ausstellung, nachdem ich in Rumänien war. Dort habe ich sehr viele Porträtfotos in einem Roma-Dorf gemacht. Aber aus dem Leben heraus – ich habe den Leuten nicht gesagt, wo sie sich hinsetzen sollen. Meine Fotografie richtet sich primär auf den Menschen in seinem sozialen Umfeld. Und er muss sich darin auch bewegen.

Demonstrierende zwischen 1989 und 1990 in Leipzig
Demonstrierende zwischen 1989 und 1990 in Leipzig
Montagsdemonstration
Demonstrierende zwischen 1989 und 1990 in Leipzig
Demonstrierende zwischen 1989 und 1990 in Leipzig
Demonstrierende zwischen 1989 und 1990 in Leipzig

Dieser Artikel ist in freundlicher Zusammenarbeit mit dem Leipziger Magazin Kreuzer entstanden.

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