Illustration eines Gehirns mit geschlossenen Augen in der Mitte
Collage: Lia Kantrowitz | Bilder von Shutterstock
Menschen

Wer blind zur Welt kommt, erkrankt nie an Schizophrenie

Außerdem haben blind geborene Menschen Fähigkeiten, die Schizophrenen fehlen.

Ein seltsames Phänomen beschäftigt Forschende auf der ganzen Welt seit über 60 Jahren. Sie haben alte Studien analysiert, psychiatrische Kliniken durchkämmt und bei Hilfsorganisationen nachgefragt. Sie wollen wenigstens einen Fall finden, in dem eine Person blind zur Welt kommt und später an Schizophrenie erkrankt. Doch es gibt keinen.

Sind blind geborene Menschen vor Schizophrenie geschützt? Das wäre überraschend, denn angeborene Blindheit ist oft Folge einer Infektion, eines Hirntraumas oder einer genetischen Mutation – allesamt Faktoren, die für sich genommen das Risiko psychotischer Störungen erhöhen.

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Wenn Menschen im Laufe ihres Lebens ihr Sehvermögen verlieren, erhöht sich sogar ihr Risiko, an Schizophrenie oder einer Psychose zu erkranken. Studien haben gezeigt, dass gesunde Menschen Halluzinationen erleben, wenn sie mehrere Tage in kompletter Dunkelheit oder mit verbundenen Augen verbringen.

Wie wir die Welt sehen

Seit einigen Jahren festigt sich in der Forschung die Vermutung, dass es einen Zusammenhang zwischen Anomalien des Sehapparats und Schizophrenie gibt. Diese Abweichungen – ungewöhnliche Augenbewegungen, Probleme der Retina und auffällige Blinzelfrequenzen – treten auf, bevor eine Person Symptome einer Psychose aufweist.

In einer 2006 veröffentlichten Studie analysierte die Psychologin Elaine Walker von der US-amerikanischen Emory University Familienvideos von Kindern, die später in ihrem Leben mit Schizophrenie diagnostiziert wurden. Viele dieser Kinder waren unbeholfener, ließen beim Spielen öfter den Ball fallen, stolperten häufiger oder hatten eine linksgerichtete Schiefstellung. Das lässt vermuten, dass es vielleicht eine Störung ihrer Sinneswahrnehmung gibt.

Wenn Kinder von Müttern mit Schizophrenie in jungen Jahren Sehstörungen aufweisen, kann das ein Anzeichen dafür sein, dass sie später selbst eine Schizophrenie entwickeln. Generell haben Kinder, mit und ohne entsprechende Familiengeschichte, die Schizophrenie entwickeln, mehr Probleme mit ihrem Sehapparat als solche, die später keine psychotischen oder andere psychischen Krankheiten entwickeln.

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Es gibt zahlreiche Theorien dazu, warum das so ist. Sie reichen von der neuronalen Plastizität des blinden Gehirns, also den Eigenarten seiner Synapsen und Nervenzellen, bis zu der Annahme, dass das Visuelle eine wichtige Rolle beim Bau unseres Modells der Welt spielt. Einige Forschende glauben, dass wir durch die Verbindung zwischen Sehapparat und Schizophrenie die Krankheit besser verstehen und letztendlich vielleicht sogar heilen können.

Bei Menschen, die blind geboren werden, fällt diese Verbindung weg. Deswegen haben Tom Pollak, Psychiater und Forscher am King’s College London, und Philip Corlett, Dozent für Psychiatrie und Psychologie an der Yale University, sich in einem Aufsatz mit der Sinneswahrnehmung blinder Menschen befasst und mit der Frage, wie diese die Welt um sich herum erschaffen. Ihre Arbeit stützt sich auf die Hypothese, dass einer der wichtigsten Jobs unseres Gehirns darin besteht, Vorhersagen über die Welt um uns herum zu treffen. Forschende sprechen von "Predictive Coding".

Nach dieser Theorie nimmt das Gehirn die Welt um uns herum nicht einfach in Echtzeit wahr, sondern erschafft selbst ein Modell der Wirklichkeit, anhand dessen es vorhersagt und simuliert, was wir erleben – und die Vorhersagen mit dem abgleicht, was tatsächlich geschieht. Fehler aktualisieren oder verändern unser Gedankenmodell der Welt. Die Genauigkeit vergangener Vorhersagen ist wichtig für die Genauigkeit des gesamten Modells. An ihnen misst das Gehirn neuen Input und macht Anpassungen.

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Hier kommen unsere Augen ins Spiel. Was wir sehen, liefert uns Informationen über die Welt um uns herum. Es helfe uns auch dabei, erklärt Pollak, andere sinnliche Reize wie Geräusche und Berührungen miteinander zu verbinden. Wenn die visuelle Wahrnehmung einer Person allerdings von der der meisten Menschen abweicht, kann es schwieriger werden, Vorhersagen zu treffen, Fehler auszubessern und ein schlüssiges Modell der Welt zu bauen.

Bei Menschen, die Probleme bei der optischen Wahrnehmung der Welt haben, muss das Gehirn mehr Annahmen treffen, um die sensorischen Lücken zu füllen. Andersherum bedeutet das: Wenn du gar nichts siehst, kannst du keine fehlgeleitete Repräsentation der Welt um dich herum erschaffen, die später zu solchen Gedankenproblemen führen könnte.

Jemand, der blind zur Welt kommt, muss sich sein Modell der Welt ohne visuellen Input bauen. Pollak und Corlett vermuten, dass dieses Modell stabiler ist. "Diese Stabilität schützt vor den Fehlern und falschen Schlussfolgerungen, die bei Schizophrenie und psychotischen Störungen auftreten", sagt Pollak.

Was Blinde besser können, können Schizophrene nicht so gut

Bei Schizophrenie denken die meisten Menschen an Halluzinationen, Wahnvorstellungen und ungewöhnliches Verhalten. Laut Steve Silverstein, einem Psychiater an der University of Rochester, handelt es sich dabei allerdings um Nebenerscheinungen und nicht Ursachen der Krankheit. Er vermutet, dass Schizophrenie viel mehr mit kognitiven Defiziten zu tun hat – mit Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung, Sprache oder des Lernens.

Vor rund zehn Jahren stieß Silverstein auf Blind Visions, ein Buch über die kognitiven Fähigkeiten und Erfahrungen blinder Menschen. "Ich war überrascht, dass viele Kompensationshandlungen des Gehirns oder Fähigkeiten, die blinde Menschen entwickeln, genau das Gegenteil von dem zu sein scheinen, was man bei Schizophrenie vorfindet", sagt er.

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Wie Pollak und Corlett ist auch Silverstein Anhänger der "Predictive Coding"-Theorie, aber er geht noch weiter: Die Fähigkeit des Vorhersagens ist nur ein Vorteil, den das Gehirn von Geburt an blinder Menschen Vorteile gegenüber einem schizophrenen Gehirn hat. Silverstein sagt, dass Blindsein das Gehirn auf verschiedene Arten stärkt – insbesondere dort, wo Menschen mit Schizophrenie Probleme haben.


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Ein Beispiel ist die selektive Wahrnehmung beim Hören. Sie ermöglicht es dir, bei einer Party einer Person zuzuhören, ohne dich von den ganzen Geräuschen um euch herum ablenken zu lassen. Forschende testen diese Fähigkeit im Labor, indem sie über Kopfhörer Geräusche in dein linkes und dein rechtes Ohr spielen und dich dann darum bitten, nur auf das eine oder andere zu achten.

Menschen mit Schizophrenie haben Probleme mit der selektiven Wahrnehmung, so Silverstein. Menschen, die blind geboren wurden, bewältigen diese Aufgabe aber besser als Sehende. Im Vergleich zu Sehenden sind blind geborene Menschen auch besser darin, verschiedene Tonhöhen wahrzunehmen und eine Geräuschquelle auszumachen. Bei schizophrenen Menschen ist es genau andersherum: Sie haben oft Probleme damit, akkurat zuzuhören. Sie verarbeiten Sprache anders als andere. Wenn du nicht genau sagen kannst, wo Geräusche herkommen, denkst du vielleicht, dass deine eigene Stimme von woanders herkommt. Auf diese Weise entstehen Wahnvorstellungen.

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Und die Liste geht weiter: Blinde reagieren schneller als Sehende auf Geräusche und Berührungen, Menschen mit Schizophrenie zeigen hier Defizite. Blinde haben ein besseres Gedächtnis, Menschen mit Schizophrenie leiden auch hier öfter unter Beeinträchtigungen.

"Ich würde sagen, dass es etwa 20 Punkte gibt, in denen blind geborene Menschen in der Regel besser sind als die Allgemeinbevölkerung", sagt Silverstein. "Und das sind dieselben Gebiete, in denen Menschen mit Schizophrenie tendenziell mehr kognitive Probleme haben." Für einen Aufsatz hat Silverstein eine Tabelle dieser Fähigkeiten angefertigt.

"Wenn du blind zur Welt kommst, nutzt dein Gehirn den visuellen Bereich für andere Dinge", sagt Silverstein. "Und das ist mutmaßlich einer der Gründe, warum einige dieser auditiven und anderen sensorischen Fähigkeiten etwas besser bei Menschen ausgeprägt sind, die blind auf die Welt kommen." Eine andere Folge von Blindheit ist, dass Hirnregionen mehr miteinander kommunizieren als die von Sehenden. Bei Menschen mit Schizophrenie gibt es tendenziell weniger Kommunikation.

Warum genau angeborene Blindheit vor Schizophrenie schützt, ist trotz aller Erkenntnisse noch lange nicht abschließend geklärt. Zum Beispiel gibt es verschiedene Arten angeborener Blindheit, einige haben ihre Ursache im Gehirn, andere im Sehapparat. Während es bislang keine bekannte Schizophrenie-Fälle von Menschen gibt, die aufgrund einer Störung des Sehzentrums des Gehirns blind sind, ist die Sache bei Blindheit infolge von Fehlbildungen der Augen nicht ganz so eindeutig. Einige dieser Fälle liegen allerdings schon mehrere Jahrzehnte zurück oder die Personen litten zeitgleich unter anderen schwerwiegenden Krankheiten, was eine konkrete Aussage erschwert.

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Außerdem scheint angeborene Blindheit nicht vor anderen psychischen Krankheiten zu schützen. So sind zum Beispiel Fälle von Essstörungen bekannt. Wenn eine Person gehörlos zur Welt kommt, steigt das Risiko einer Psychose sogar.

"Blindheit allein scheint eine überwindbare Herausforderung im Umgang mit der Umwelt darzustellen und fördert Veränderungen in der Sinneswahrnehmung und Kognition, die zu einer überraschend hohen Funktionalität führen", schrieb Silverstein 2013 in einem Aufsatz. "Gehörlosigkeit hingegen scheint die Möglichkeiten zur Interaktion mit der Umwelt so einzuschränken zu können, dass sie auch die Ausbildung kognitiver Bewältigungsstrategien hemmen kann."

Was bedeutet das alles für die Behandlung von Schizophrenen?

Corlett glaubt, dass die Forschung auf diesem Gebiet eine neue Perspektive auf Psychosen ermöglichen könnte. Die Entwicklung des visuellen Systems könnte näher untersucht werden, so wie die visuellen Vorhersagen von Menschen. Der Ansatz könnte den Weg für weitere Grundlagenforschung freimachen, um ein umfassendes Verständnis von Schizophrenie zu bekommen.

"Wie hängen diese visuellen Wahrnehmungsmechanismen und das Einsetzen der Symptome zusammen?", sagt Corlett. "Wir haben kaum Fortschritte bei unserem generellen Verständnis von Psychosen, aber auch in der Psychiatrie im Allgemeinen. Wir wissen wenig darüber, wie diese Symptome im Gehirn entstehen. Alles, was uns neue Ideen und Ansätze liefert, ist da meiner Meinung nach sehr willkommen."

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In den USA habe sich die Arbeit mit Schizophrenie-Patientinnen und -Patienten in der Vergangenheit stark auf kognitive Aufgaben wie das Gedächtnis konzentriert, sagt Corlett. Er ist der Meinung, dass sich das kognitive Training stärker auf die sensorische Wahrnehmung konzentrieren sollte. Frühes Sehtraining zusammen mit kognitiven Aufgaben könnte zum Beispiel hilfreich sein. Anstatt eines Bluttests könnte es vielleicht eines Tages einen Augentest geben, um festzustellen, wie hoch das Risiko ist, an einer Psychose zu erkranken.

Silverstein ist der Meinung, dass man Menschen mit einem Schizophrenie-Risiko beibringen könnte, die Nutzung nichtvisueller Sinne zu stärken. Aber insgesamt sei noch sehr viel zu tun. Die Forschung sei noch am Anfang.

"Momentan würde ich nicht mal so weit gehen, den Ansatz als vielversprechend zu bezeichnen", sagte Silverstein. "Aber in mancherlei Hinsicht ist das eine der spannendsten Beobachtungen seit Langem in der Schizophrenie-Forschung. Es ist das Einzige, was Menschen vor Schizophrenie zu schützen scheint. Ich glaube, da ist etwas dran und wir sollten das genauer unter die Lupe nehmen."

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