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Selbsttherapie ist eine Scheißidee, die du auf keinen Fall nachmachen solltest

Wenn du mit 15 schon dein halbes Leben lang keinen Tag hattest, an dem du klarkamst, kommt Pillenfuttern erst mal toll.
Titelbild: Watery Sick via photopin

Vomex, Iberogast, MCP, Vomacur, Rodavan: Ich hatte sie alle und noch einige mehr und ich futterte sie wie Smarties. Ich war 15 und durch meine Angststörung und Tablettensucht in eine ziemlich verkorkste Situation geraten.

Das Leben mit einer Angststörung ist nicht spaßig. Brechangst bildet da keine Ausnahme. Betroffene sind in Gedankenkarussellen und Zwängen gefangen, die sich um das Erbrechen drehen. Jahrelang wurde jede meiner wachen Minuten von einem Gedanken bestimmt: „Werde ich mich heute übergeben müssen?" Meine Krankheit beantwortete diese Frage jedes einzelne Mal zuverlässig mit „Ja, heute ganz sicher". Ich konnte das Haus nicht verlassen, wenn ich gehört hatte, dass jemand, irgendjemand in der Stadt gerade an Brechdurchfall leidet. Wenn mir irgendwo eine Pfütze Erbrochenes begegnete, musste ich sofort nach Hause, um vorsorglich viele, viele Pillen zu schlucken und die nächsten Stunden zitternd in einer Ecke zu kauern, in der Gewissheit, mit irgendetwas infiziert zu sein und bestimmt bald kotzen zu müssen.

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Ich habe mich in meinem ganzen Leben—so weit ich mich erinnern kann—zweimal übergeben. Zweimal habe ich mir vorher ernsthaft und innig gewünscht, tot zu sein. Ich wollte lieber tot sein als das, was da aus mir rauskommen würde, erleben zu müssen.

Ich investierte mein Taschengeld in Medikamente wie andere aus meiner Klasse in Süßigkeiten oder Pommes.

Wann oder woraus diese Angst entstanden ist, kann ich nicht sagen. Schlimmer wurde es auf jeden Fall, als ich in die Pubertät kam. Zu der Zeit entwickelte ich eine Vielzahl von Vermeidungsstrategien. Ich traf mich kaum noch mit Freunden, aß nur noch sichere Nahrungsmittel, die nicht schnell verderben und den Magen nicht reizen, und konnte generell erst essen, wenn ich nichts mehr vorhatte. Ich litt unter Panikattacken—den echten, mit Herzrasen, Zittern, Depersonalisationsgefühlen—immer sobald ich mich irgendwo aufhalten musste, von wo ich nicht einfach weg konnte, falls ich hätte brechen müssen. Unglücklicherweise gehörte dazu auch mein Klassenraum. Ich horchte permanent so sehr in mich hinein, dass ich kaum noch etwas um mich herum wahrnahm. Und wenn man intensiv nach einem Anzeichen körperlichen Unwohlseins sucht und darauf wartet, dass einem kotzübel wird, dann passiert das auch. Mir 365 Tage im Jahr.

Wenn ich heute auf diese Zeit zurückblicke, kommt mir das Ganze so unwirklich vor. Ich weiß noch genau, wie ich gelitten habe, wie extrem die Angst meine Lebensqualität vermindert hat und wie ausweglos mir die Situation erschien. Ich bewundere mein 15-jähriges Ich dafür, nicht alles hingeschmissen zu haben. Heute würde ich ganz anders damit umgehen können, und das ist auch gut so, denn ich weiß nicht, ob ich es noch mal schaffen würde, mich durch Jahre hinweg durchzuquälen, wie ich es damals getan habe.

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Zu Pubertätszeiten wusste ich nicht, dass ich an einer echten Krankheit litt. Einer, die einen Namen hat. Ich weiß nicht mal, ob es Emetophobie als Fachbegriff damals schon gab; ich dachte einfach, mein Körper wäre irgendwie kaputt. Und dass ich damit leben müsste. Was sollte ich auch anderes tun? Dann kam der Tag, an dem ich für meine Mutter in der Apotheke einkaufen sollte. Neben der Kasse gab es eine Werbung für Vomex, ein Mittel gegen Übelkeit. Ich stand einfach nur in der Schlange und starrte auf das Poster. Mein Kopf arbeitete. Die Apothekerin musste mich dreimal ansprechen, bevor ich außer Beta-Blockern für Mama eine Packung Vomex verlangte. Von da an habe ich mein Taschengeld in Medikamente investiert wie andere aus meiner Klasse in Süßigkeiten oder Pommes. Wollte ich ja beides eh nicht essen. Viel zu unsichere Nahrungsmittel.

Die Situation war nicht direkt lebensbedrohlich, aber mein Selbsttherapievorhaben trotzdem so ziemlich das Schlechteste, das ich hätte machen können. Meine Therapeutin sagte später, ich hätte Glück gehabt, mit meinem Experiment nichts Schlimmeres angerichtet zu haben.

Für alle, die nie Vomex genommen haben: Das Ding mit Diphenhydramin ist, dass du hundemüde wirst. Nicht ein bisschen dösig, sondern richtig, richtig müde. Bis ich dann zusätzlich Koffeintabletten nahm, kippte ich regelmäßig in der Schule weg, die Noten gingen in den Keller. Daraus halfen mir dann wiederum Percoffedrinol et al. Ich würde sagen, dass der täglich kombinierte Einschmiss von Sedativa und Aufputschmitteln nicht so cool ist, war mir damals einfach nicht bewusst.

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Ich war 15 und durch meine Angststörung in eine Tablettensucht gerutscht, die langsam begann, mein Leben zu übernehmen. Hatte ich meine Tabletten zu Hause vergessen oder aus irgendeinem Grund nicht greifbar, war der Tag vorbei. Ich konnte vor lauter Hirnkreisel kein vernünftiges Gespräch mehr führen, geschweige denn mich überhaupt auf irgendwas konzentrieren. Mein Schlafrhythmus war dermaßen kaputt, dass ich manchmal abends Vomex nahm,—nicht weil mir kotzübel war, sondern um schlafen zu können. Alles war durcheinander. Und alles war scheiße.

Es gab keinen konkreten Auslöser, aber mir war einfach irgendwann klar, dass es so nicht ewig weitergehen konnte. Weil du damals nur per Modem ins Internet kamst und jede Minute gekostet hat (zumindest bei mir zu Hause), habe ich mir eines Tages verschämt ein Buch in der Stadtbücherei ausgeborgt, das sich nicht mit Emetophobie konkret, sondern generell mit Angststörungen und (Selbst-)Therapiemöglichkeiten befasst. Da stand unter anderem drin, dass eine Konfrontation mit der Angst in vielen Fällen hilfreich sei.

Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als die Bibliothekarin das Buch eingescannt hatte und ich es in meine Tasche steckte. Ich hatte vorher ein paar Seiten überflogen und das Gefühl, einen goldenen Schlüssel gefunden zu haben. Einen Exit-Button, eine versteckte Tür, die Chance auf ein normales Leben. Auf die Idee, mir Hilfe bei einem Therapeuten zu suchen, wäre ich damals nie gekommen. Ich war ja schließlich nicht verrückt. Im Nachhinein erschreckt mich, wie fest ich daran geglaubt habe, mich einfach nur durch Lesen heilen zu können. Ich klammerte mich derart an dieser Idee fest, dass sie mir nach kurzer Zeit als der einzig mögliche Ausweg erschien.

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Die Vorstellung, dass ich anfangen müsste, mir einen Finger in den Hals zu stecken, um irgendwann vielleicht mal klarzukommen, war für mich ungefähr so attraktiv, wie sich fürs eigene Abendessen den Fuß abzuhacken. Aber ich konnte so nicht mehr weitermachen. Nach langem Ringen mit mir selbst vertraute ich mich dem einzigen Menschen an, der mich meiner 15-jährigen Meinung nach verstehen würde: meiner besten Freundin Mia. Wie zu erwarten, war sie zunächst irritiert, wahrscheinlich am meisten davon, dass es mir so schwer fiel, darüber zu sprechen. Sie sagte Sachen wie „Ja, aber kein Mensch kotzt gerne, das ist doch normal" und „Niemandem ist jeden Tag schlecht, das geht gar nicht". Doch obwohl, oder vielleicht gerade, weil sie das Ausmaß meiner Krankheit nicht begriff, versprach sie, mir zu helfen.

So was sollte mir in den nächsten Jahren öfter passieren: Viele Menschen können diese Angst einfach nicht nachvollziehen. Wie oft habe ich den mehr oder weniger gutgemeinten Ratschlag bekommen: „Kotzen macht doch kein Mensch gerne, aber so schlimm ist es auch wieder nicht." Ich weiß. Wusste ich auch damals schon. Aber erklär mal jemandem, der Angst vor Hunden hat, dass wirklich nur ein ganz geringer Prozentsatz an Hunden beißt, also tatsächlich gefährlich ist. Das wird auch nicht helfen.

Mia und ich stellten also mithilfe des Buches aus der Stadtbücherei einen Konfrontationsplan auf, der in den Osterferien durchgezogen werden sollte. Meine Mutter war arbeiten, wir hatten das Haus für uns. Jeden Punkt ausführlich zu beschreiben würde den Rahmen des Erträglichen sprengen, also komme ich direkt zum spannenden Teil.

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Schritt 4: Live dabei sein, wenn sich jemand übergibt.

Als Mia sich den Finger in den Hals steckte und ihr Müsli ins Klo erbrach, ging es mir, gelinde ausgedrückt, ziemlich dreckig. Ich hatte das Gefühl, dass meine Seele oder was auch immer in mir so schlimme Angst vor dem Erbrechen hatte, einfach aus meinem Körper heraussprengte und das Badezimmer verließ, um nicht weiter dabei sein zu müssen. Ich stand komplett neben mir. Und das noch mehr, weil am nächsten Tag der finale Schritt anstand.

Schritt 5: Selber kotzen.

Als gute Therapiebegleiterin hielt Mia irgendwann einfach meinen Kopf fest und steckte ihren Finger in meinen Hals.

Mia kam gegen am nächsten Morgen gegen 11 Uhr und schleifte mich ins Bad. Ich heulte. Die ganze Zeit. Sie redete auf mich ein, erst nett, dann genervt. Ich merkte immer mehr, wie wenig die anderen Schritte gebracht hatten, wie wenig ich bereit war, das durchzuziehen. Als gute Therapiebegleiterin hielt Mia irgendwann einfach meinen Kopf fest und steckte ihren Finger in meinen Hals. Aber ich konnte mich nicht darauf einlassen, obwohl ich so wollte. Ich kämpfte gegen meinen Körper, kämpfte gegen Mia, unterlag und biss ihr beinah den Finger ab. Blutend und wütend ließ sie mich auf dem Badezimmerboden liegen, mit der Ansage, dass sie jetzt nicht umsonst so viel für mich getan hätte und wir es morgen wieder versuchen würden, verdammt noch mal.

Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass das einer der, vielleicht sogar der Tiefpunkt meiner Krankheitsgeschichte war. Die Situation war nicht direkt lebensbedrohlich, aber trotzdem war mein Selbsttherapievorhaben so ziemlich das Schlechteste, das ich hätte machen können. Eigentlich wusste ich das in diesem Moment schon. Und meine Therapeutin konnte später nicht anders, als das bestätigen. Sie sagte, ich hätte Glück gehabt, mit meinem Experiment nichts Schlimmeres angerichtet zu haben.

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Bis nachmittags hing ich apathisch über dem Klo. Der psychische und physische Stress hatten mir ziemlich zugesetzt. Ich befand mich in einer Art Zwischenbewusstsein, spürte nichts, dachte nichts. Mechanisch habe ich immer mal wieder halbherzig versucht—mit eingebildetem Ehrgeiz oder weil ich nicht akzeptieren wollte, dass der Plan so gescheitert war—mir den Finger in den Hals zu stecken. Außer Würgen und Erstickungsgefühlen passierte nichts. Irgendwann kam meine Mutter nach Hause. Ich lag noch immer auf den Fliesen, konnte mich nicht rühren, nicht sprechen. Es war nichts Körperliches mit meinem Hals oder meiner Stimme, es fühlte sich mehr so an, als wäre meine Seele ziemlich sauer, dass ich ihr das angetan hatte, und würde deshalb jetzt erst mal den Dienst verweigern. Meine Mutter brachte mich ins Krankenhaus. Ich konnte mich nicht wehren, obwohl ich ihr gern erklärt hätte, dass sie mir damit meinen schönen Selbsttherapieplan kaputtmacht. In der Klinik verpassten sie mir erst mal Kochsalzlösung und etwas zur Beruhigung. Ich wollte sagen, dass ich mit Sedativa eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte, aber es ging nicht. Schon am nächsten Tag durfte ich heim. Außer Flüssigkeitsmangel und leichtem Untergewicht war körperlich ja auch nichts.

Wenige Tage später stand ich das erste Mal vor der Tür meiner Therapeutin.

Weil sie Sorge hatte, dass es mir schnell noch schlechter gehen könnte, rief meine Mutter in unzähligen Praxen an und fand schnell jemanden, der sich die Zeit für eine Probesitzung nahm. Dass es zwischen uns von Anfang an gut passte, ich mich wohlfühlte und öffnen konnte, war Glück. Rund acht Monate ging ich regelmäßig zu Sitzungen, und auch wenn wir nicht herausfinden konnten, woher meine Angststörung kam, hat meine Therapeutin doch durch die richtigen Fragen und viele ermutigende Worte (und ihre Ausbildung), einige Dinge in meinem Kopf geraderücken können; mir geholfen, die Angst in kontrollierbare Bahnen zu lenken. Ganz ohne Konfrontation. Ich bin nicht geheilt und ich glaube auch nicht, dass ich eine Magendarm-Grippe jemals so entspannt überstehen werde wie ein normaler Mensch. Aber ich lebe einen normalen Alltag, kann mit Genuss wieder alles Mögliche essen und muss nicht aus dem letzten Nachtbus raus, weil ein paar Besoffene einsteigen, von denen ich nicht weiß, ob sie ihr Bier bei sich behalten werden. (Es gibt Dinge, die kann man sich nicht ausdenken).

Es ist nicht alles gut—oder richtig—was zum Thema psychische Erkrankungen in den Medien breitgetreten wird. Was aber gut ist: Nach Hilfe zu fragen, ist hier und heute nicht mehr mit einem Stigma belegt. Niemand braucht sich heute mehr für einen Besuch beim Therapeuten schämen. Das führt hoffentlich dazu, dass immer weniger junge Leute auf die dumme Idee kommen, an sich selbst herumzudoktern. Und irgendwann klarzukommen statt sich da kaputtzumachen, wo sonst noch alles normal ist.


Titelbild: Watery Sick via photopin (license)