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Verstümmelte Jugendliche aus Syrien bekommen neue Beine

Die Universität Antakya hat bereits 800 Beinprothesen für im Bürgerkrieg verwundete Syrer hergestellt.

Al-Masri vor der Klinik mit Saad und dem Techniker, der seine Prothese gemacht hat. Alle Fotos von den Autoren

Muhammad Hamidu war 15 Jahre alt, als über seinem Dach in der Nähe von Idlib, einer 60 Kilometer von Aleppo entfernten Stadt im Nordwesten Syriens, eine Bombe abgeworfen wurde. Beim Einschlag wurde sein rechtes Bein abgetrennt. 36 Menschen starben. Sein Freund Muhammed Albush brauchte drei Stunden, um ihn auszugraben. In einem verzweifelten Versuch, sein Leben zu retten, hatte man nach weiteren Stunden sein zerschmettertes linkes Bein amputiert. Glücklicherweise mit Erfolg. Jetzt ist Muhammad 18 Jahre alt. Heute werden ihm Doppelprothesen angepasst, mit denen er, wenn auch nur mit Hilfe von Krücken, wieder stehen kann.    Muhammad ist eins der Tausenden syrischen Kinder, die der Bürgerkrieg, der seit drei Jahren im Land wütet, im wahrsten Sinne des Wortes zerrissen hat. Für die sogenannte verlorene Generation Syriens ist Reyhanlı, eine türkische Stadt an der Grenze zu Syrien, einer der sichersten Zufluchtsorte geworden. Allein in Reyhanlı leben 100.000 syrische Flüchtlinge, die Stadt selbst hat nur 60.000 Einwohner. Wo man auch hinsieht, hat sich der Krieg in die Stadt eingebrannt. Achtjährige Kinder in zerfledderten Lumpen verkaufen Tüten aus Taschentüchern, die Gesichter alter Frauen knautschen sich unter der Last ihrer Sorgenfalten zusammen. Im Schatten einer der grausamsten humanitärsten Krisen zu leben, ist zweifellos keine leichte Bürde. Doch es gibt Hoffnungsschimmer. Auf einer neuen Straße am Stadtrand, hinter einem provisorischen Militärgefängnis aus Containern und einem von Müll übersäten Gehweg, befindet sich eine Basisklinik für Prothesen, an der es an diesem Samstagmorgen geschäftig hergeht. Man hört Arabisch, das leichte Klicken von metallenen Gelenken und gelegentlich sogar ein Lachen.

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In einem Raum, in dem Formen hergestellt werden, ist die Luft von Gipsstaub vernebelt. In einem anderen ist der Boden von Plastikspänen übersät, da hier mit surrenden Maschinen und Handmessern raue Kanten abgeschliffen werden. Im größten Raum knarren die mit Geländern gesicherten Gänge, während zaghaft erste Schritte auf den neuen Gliedmaßen gewagt werden. „Aufgrund der vielen Patienten, die Amputationen durchmachen, besteht ein wichtiger Bedarf an dieser [Klinik]“, sagt Raed al-Masri, der Leiter des syrischen Prothesenprojekts. Das Team von al-Masri, das sich aus 12 Studenten der Universität Antakya zusammensetzt, hat seit der Eröffnung der Klinik vor eineinhalb Jahren 800 neue Unterschenkel hergestellt. Al-Masri, der früher als Mathelehrer in der dezimierten Stadt Homs arbeitete, erlebte, wie die Söhne und Töchter seiner Freunde und Nachbarn entweder von Scharfschützen oder bei Luftangriffen abgeschlachtet wurden. Er erkannte, dass die humanitäre Hilfe vor allem versuchen sollte, „Patienten wieder leistungsfähiger zu machen, indem man ihnen ihre Gliedmaßen zurückgibt.“ Dass Menschen ihre Beine verlieren, kommt in Syrien allzu häufig vor. Eine vaskulare Operation zur Rettung von Gliedmaßen kann bis zu 10.000 Dollar kosten—doch über so viel Geld verfügen hier nur wenige Flüchtlinge. Amputationen hingegen sind kostenlos. Ein neues Bein aus der NSPPL-Klinik kostet 550 Dollar. In Westen kann eine ähnliche Prothese Tausende Dollar kosten.

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Die Klinik befindet sich zwar in der Türkei, doch al-Masri ist Syrer. Genau wie seine Angestellten und seine Patienten. Sie stammen aus verschiedenen Teilen des Landes und sprechen verschiedene Akzente, haben aber eine Gemeinsamkeit: Sie sind in Reyhanlı angekommen, nachdem sie tödlichen Angriffen von Scharfschützen und dem endlosen Schwall von Fassbomben und Raketenangriffen entkommen sind, die ihre Häuser in Staub und Asche zerschlagen haben. Eine syrische Quelle schrieb diese Woche in einer SMS aus Aleppo: „Es regnet Fassbomben.“ Die Belegschaft ist (zum Großteil) körperlich unversehrt aus dem Konfliktgebiet entkommen; die Patienten hatten nicht so viel Glück. Alle trugen Narben des Krieges, vom 23-jährigen ehemaligen Kämpfer, dessen Arm von einer Kugel gelähmt wurde, bis hin zu Vater und Sohn, deren Beine ab der Hälfte der Oberschenkel amputiert werden mussten. Im Verhältnis zu den Tragödien sind dies jedoch nur traurige Geschichten. Die schlimmsten Fälle haben es nie in eine Prothesenklinik geschafft. Babys, deren Körper von kreischenden Granatsplittern, die durch die Luft fetzten, in der Mitte durchgeschnitten wurden. Alte Männer und Frauen, die zu schwach waren, um sich in Sicherheit zu bringen und in den ausgebombten Straßen verhungerten, weil die Lebensmittel der UN auf dem Schwarzmarkt verkauft werden.

Hier soll es heute jedoch um die kleinen Erfolge gehen. Und die erlebt man in der chaotischen Klinik in Reyhanlı alle paar Minuten. Am Tag vor unserem Besuch in der Prothesenklinik sahen wir uns einige Reha-Zentren in Reyhanlı an. Wie viele es davon genau gibt, ist nicht gleich klar. Da die Nachfrage je nach Häufigkeit und Nähe der Angriffe in Syrien ansteigt und abnimmt, werden Kliniken in Reyhanlı neu eröffnet oder an andere Orte verlegt. Wir haben ein Zentrum besichtigt, das momentan mehrere Stockwerke eines alten Hotels belegt, ein Zentrum in einer Kellerwohnung und ein weiteres in einem Mietshaus. In diesen Kliniken haben wir die beiden Muhammads getroffen, die mittlerweile unzertrennliche Freunde sind, sowie andere junger Syrer, alle unter 25 Jahre alt—die verlorene Generation. Heute sind sie in die Klinik gekommen, um Prothesen anzupassen, Übungen zu machen und sich an ihr neues Leben mit Prothese zu gewöhnen. Während die Patienten darauf warten, abgemessen zu werden oder die Übungstreppe zu besteigen, beraten Patienten, die schon länger mit einer Prothese leben, die Unerfahrenen. Das Personal bereitet Hindernisläufe vor und zeigt Übungen. Omar Saad scheint Gefallen an seinem neuen Bein gefunden zu haben und verfehlt keine Stufe. Während einige Patienten ihre Gliedmaßen verhüllt haben, stellt er sie stolz zur Schau. Mit hochgekrempelter Jeans und verschränkten Armen studiert er die Bewegungen der Belegschaft und imitiert sie fast fehlerfrei.

Vor sieben Monaten wurde Omars rechtes Bein von einem .50-Kaliber-Geschoss zerfetzt—einer Patrone, die Beton und eine 2,5 Zentimeter dicke Stahlplatte durchdringen kann. Er ist ein gutaussehender 19-jähriger, dessen Gang wieder so stark und zielstrebig ist, dass man fast nicht erkennt, was er durchgemacht hat. Omar hat Informatik studiert, will aber in ein paar Tagen an die Fronten des Krieges zurückzukehren. „Ich werde Scharfschütze sein“, sagt er. Es ist schwer verständlich, was einen verstümmelten Teenager dazu bewegt, sein Leben nach so einem knappen Davonkommen erneut aufs Spiel zu setzen. Doch die Syrer sind nicht dumm—sie wissen, dass sie von der Welt ignoriert werden und ihnen niemand beistehen wird, wenn sie nicht weiterkämpfen. „Ich werde die Familien und die Religion gegen Bashar al-Assad verteidigen“, sagt er mit Überzeugung. Wir fragen al-Masri, ob es normal ist, dass seine Patienten erneut in den Krieg ziehen. Er sagt, dass er keine politischen Fragen stellt, dass aber nur die Hälfte seiner Patienten Männer sind. Der Rest seien Frauen und Kinder. Es gäbe so viele schwerverletzte Frauen, dass in Reyhanlı ein eigenes Rehabilitationszentrum nur für Frauen eingerichtet wurde. Wir fuhren am Frauenzentrum vorbei und trafen eine der verletzten jungen Frauen: Noor. Sie sieht aus wie eine erwachsene syrische Frau, ist aber erst 14. Aus ihrer ersten Prothese ist sie bereits herausgewachsen. Jetzt ist sie da, um eine neue zu bekommen. Noor hat aufgrund ihrer Verletzungen ein Jahr in der Schule verpasst, aber sie träumt davon, zu studieren und Ärztin zu werden. „Ich habe zwei Emotionen: Trauer und Wut auf das syrische Regime“, sagt al-Masri. „Diese Unterschenkel bekommt man nicht wieder. Diese [Prothesen] helfen nur beim Leben.“ Da der Krieg noch immer festgefahren ist und das Regime mit willkürlichen Massenbombardierungen fortfährt, werden zweifellos noch mehr Patienten zu al-Masri finden. Al-Masri und sein Team scheinen den belastbaren jungen Menschen, die durch die provisorische Prothesenklinik humpeln, zumindest den Funken eines normalen Lebens zu bieten.