Wir waren beim größten Paintball-Turnier Europas und haben das Wesen des Krieges verstanden
Alle Fotos: Grey Hutton

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Wir waren beim größten Paintball-Turnier Europas und haben das Wesen des Krieges verstanden

Es wurde zwischenzeitlich ziemlich real.

Es war ein riesiger Fehler gewesen, in das Haus zu rennen, das wurde mir jetzt sehr schnell klar. Ich drückte mich mit dem Rücken an die Wand, um in dem leeren Raum irgendwie aus der Schusslinie zu kommen, und konzentrierte mich auf die Geräusche aus dem Haus. Offensichtlich wurden die Verteidiger gerade massakriert: Ich konnte die verzweifelten Rufe nach Verstärkung hören, und dann, wie einer nach dem anderen in Kugelhagel und Schmerzensschreien unterging. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis die Angreifer sich bis zu meinem Raum vorgearbeitet haben würden—und es gab absolut keine Möglichkeit, da raus zu kommen. Gerade brachte wieder eine riesige Salve Kugeln die Wand hinter mir zum zittern, da drehte mein Begleiter sich zu mir und flüstert: "Vor 70 Jahren war das hier alles genauso! Da haben sowjetische Truppen mit deutschen Soldaten um jedes Gebäude gekämpft, von Zimmer zu Zimmer. Kannst du dir das vorstellen?" In dem Moment konnte ich das—vielleicht besser als je in meinem Leben.

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Als wir an dem Morgen in aller Frühe aus Berlin nach Mahlwinkel bei Magdeburg aufgebrochen waren, hatten mein Fotograf Grey und ich keine Ahnung, was uns dort erwarten würde. Auf dem Gelände der ehemaligen sowjetischen Militärbasis fand dort schon seit Donnerstag das "Euro Big Game 2016" statt—laut Website "Das größte Paintball-Event Europas", an dem weit über tausend Paintballer teilnehmen sollten.

Ich habe mit 13 Jahren zum ersten und letzten Mal Paintball gespielt. Vielleicht hatte ich mir den durchschnittlichen Paintball-Spieler auch deshalb bis jetzt immer als 13-Jährigen vorgestellt, der lieber in Waffenkatalogen blättert, als mit Mädchen redet.

John Lennon liebt die Uzi

Nachdem wir mehrere Checkpoints zum Gelände passiert hatten, bot sich uns allerdings ein deutlich komplizierteres Bild. Vor uns erstreckte sich ein riesiges, staubiges Camp, über dessen Zelten Dutzende bunte Fahnen fast aller nordeuropäischen Länder wehten. Zwischen den Zelten liefen Hunderte Männer mit Tarnkleidung und beeindruckender militärischer Ausrüstung herum. Alles zusammen ergab irgendwie den Eindruck, als sei man auf eine Karnevals-Party in einem Feldlager der Navy SEALS geraten—die meisten Paintball-Spieler orientieren sich äußerlich nämlich lieber an Chris Kyle als an irgendeinem dahergelaufenen Fußsoldaten. Wir hatten plötzlich das Gefühl, dass wir diese Veranstaltung unterschätzt hatten.

Als wir etwas verloren zwischen all den Rambos vor dem Info-Zelt herumstanden und auf den Veranstalter warteten, spazierte plötzlich eine Figur auf uns zu, die sich ebenfalls aus dem falschen Film hierher verirrt zu haben schien: Ein komplett in schwarz gekleideter Mann in einem schwarzen Kilt, der statt des üblichen Sturmgewehrs zwei schwarze Pistolen am Gürtel trug. Als wir ihn ansprachen, schenkte er uns sein breitestes Lächeln und sagte auf Englisch: "Was für eine wahnsinnige Freude, euch jetzt hier zu sehen!"

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Unser neuer Freund war David "Reaper" Justin, sah aus wie eine Mischung aus Tom Cruise und John Lennon, und sollte für den Rest des Tages unser Reiseführer, Babysitter und Türöffner sein. Von ihm lernten wir, dass Paintball auch richtige Stars hat, und dass er einer der größten davon war. "Ich reise um die Welt, um den Sport zu promoten", erklärte der 54-Jährige, der in Los Angeles ein IT-Unternehmen hat, strahlend. Gleichzeitig promotete er aber auch seine rund 200 Sponsoren, allen voran den Hauptsponsor Tippmann, offenbar der größte Paintball-Gewehr-Hersteller der Welt. (Paintballer nennen ihre Gewehre allerdings nicht Gewehre, sondern "Marker" oder deutsch "Markierer"—das soll wohl weniger martialisch klingen.)

Und so verbrachten wir die nächsten zwei Stunden mit David, der uns tänzelnd durchs ganze Lager führte und uns dabei mit einem nie endenden Schwall an Informationen versorgte: Dass die Marker auf solchen Turnieren alle auf dieselbe Mündungsgeschwindigkeit gedrosselt waren, dass trotzdem manchmal geschummelt wird, dass Tippmann die besten Marker herstellt, dass es verschiedene Sorten Munition gibt, die unterschiedlich weit und präzise fliegen (am präzisesten natürlich aus Tippmann-Markern), dass er 1986 in der israelischen Armee gelernt hatte, die Hitze einfach zu akzeptieren, dass Paintball eine riesige Gemeinschaft, eine Bruderschaft ist (und Tippmann diese Bruderschaft mit erstklassiger Ausrüstung versorgt), und vor allen Dingen, und das fanden wir fast am interessantesten, dass eines der Teams einen holländischen Michelin-Koch dabei hatte, der später Steaks grillen würde.

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Während wir so durch das Lager liefen, fiel vor allem auf, wie wenig Frauen es hier gab. Später bestätigte mir jemand, dass am ganzen Turnier nur 40 Frauen teilnahmen—dazu kam noch eine Handvoll Hostessen, die in Camouflage-Tops zwischen den Ständen herumliefen und sich gegenseitig mit Wasserpistolen abschossen (es war aber auch wirklich heiß).

Nachdem er uns wirklich jeden Stand gezeigt und jedem Verkäufer vorgestellt hatte, wurden wir langsam unruhig: Wir wollten jetzt endlich ins Feld. Also gab man uns Masken und zwei Trikots, die denen der "Marshalls" (Schiedsrichter im Feld) ziemlich ähnlich sahen und theoretisch gewährleisten sollten, dass wir nicht abgeschossen werden. Wir würden nämlich keine Waffen bekommen, sondern sozusagen als "embedded journalists" das blaue Team begleiten. Das Spiel lief so ab, dass alle teilnehmenden Mannschaften in zwei große Teams aufgeteilt wurden, das blaue und das rote. Viele Spielergruppen, die schon seit Jahren kommen, bleiben immer bei demselben Team und entwickeln eine enorme Loyalität für ihre Farbe, andere lassen sich jeden Tag einem neuen Team zuordnen.

Über die vier Tage kämpfen die Blauen und die Roten in zahlreichen Einzelmissionen gegeneinander, in denen sie Punkte sammeln, wenn sie zum Beispiel die gegnerische Fahne klauen oder ihre eigene im gegnerischen Territorium platzieren können. Um diese Ziele zu erreichen, entwickeln die besseren Unter-Teams teilweise ziemlich ausgefeilte Strategien, so dass das Ganze tatsächlich einem echten Gefecht ähnelt. Wenn man irgendwo am Körper oder am Gewehr getroffen wird, ist man raus und muss zu einer "Respawn-Area" laufen, um sich zu waschen und wiedergeboren zu werden.

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Krieg ist grausam …

Als wir endlich in der Schlacht ankamen, war es schon drei Uhr, aber die Sonne knallte immer noch mit voller Kraft auf den heißen Sandboden. Auf einer breiten Kreuzung wuselten überall Soldaten mit blauen Armbinden herum, die in einen Wald feuerten, hinter dessen Bäumen man immer öfter rote Armbinden aufblitzen sah. Das Ganze wirkte ein bisschen unorganisiert, aber nicht wirklich gefährlich, weil wegen der Trikots niemand direkt auf uns schoss und wir nur aufpassen mussten, nicht von Querschlägern erwischt zu werden.

Das änderte sich schlagartig, als ich dem Reaper in ein Gebäude folgte. Hier wurde die ganze Situation plötzlich viel intensiver: Kurz nach unserer Ankunft griffen die Roten das Gebäude nämlich sehr entschlossen an, und David und ich fanden uns plötzlich in einem Raum gefangen, während um uns herum ein Feuergefecht ausbrach. Überall wurde geschossen und geschrien, und mir wurde klar, dass mein Trikot mich im Haus nicht wirklich schützen würde—wenn jemand plötzlich in den Raum stürzt, wird er erst schießen und sich dann entschuldigen. Und aus zwei Metern Entfernung tun diese blöden Paintballs richtig weh. Ich kam mir vor wie der dümmste Kriegsberichterstatter aller Zeiten.

Als ich versuchte, mich so gut wie möglich aus der Schusslinie zu bringen—nicht einfach in einem Zimmer mit einer Tür und zwei Fenstern—fühlte ich mich mit meinem Schreibblock plötzlich ziemlich nackt. Und obwohl das im Nachhinein etwas bescheuert klingt: Ich hatte tatsächlich ein bisschen Angst. Ich konnte die Feinde vorrücken hören, ich hatte keine Möglichkeit zu entkommen—und ich hatte das Gefühl, dass ich mir zum ersten Mal vorstellen kann, wie sich das für einen Soldaten im Krieg wirklich angefühlt haben muss: Eine Mischung aus akuter Panik und dem dringenden Bedürfnis, jemandem mitzuteilen, dass es sich hierbei um ein großes Missverständnis handelt und dass man hier nun wirklich nicht hingehört und jetzt gerne nach Hause gehen würde, vielen Dank.

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David der Reaper schien sich jedoch prächtig zu amüsieren. Je offensichtlicher es wurde, dass wir gleich in einem Haus voller Feinde gefangen sein würden, desto mehr Spaß machte ihm das. "Weißt du, was Napoleon immer gesagt hat?", flüsterte er mir durch seine schwarze Totenkopf-Maske zu. "Unterbrich nie deinen Feind, wenn er gerade einen Fehler macht!" Sein Plan war, die Füße still zu halten und sich von den Roten sozusagen überlaufen zu lassen, um dann von hinten Panik und Tod regnen zu lassen. Der Plan ging leider nicht auf: Nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit schwitzend in dem Raum gestanden hatten, steckte eine Roter seinen Kopf durch die Tür, den der Reaper gerade noch exekutieren konnte, bevor seine Freunde ihn in einem Kugelhagel erlegten. Ich bekam wie durch ein Wunder nichts ab und war sehr froh, endlich wieder ins Freie zu kommen.

… aber der Sound ist geil

Als nächstes sollte die große Endschlacht stattfinden, bei der einfach alle aufeinander zurennen würden, um sich gegenseitig die Flagge zu stehlen. Die Blauen hatten sich erholt und bereiteten sich auf ihrer Seite auf den Sturm vor. "Die Spezialeinheit bleibt hier, um die Flagge zu bewachen", brüllte ein massiger Engländer in ein Megaphon. "Alle anderen, die für Ruhm und Ehre sterben wollen, folgen mir nach!" Die Blauen jubelten und grölten, dann kam das Signal, und alle stürmten brüllend einfach gerade auf den Gegner zu.

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Für das große Finale hatte die Orga ein Bodenfeuerwerk vorbereitet, das auch wie planmäßig mitten auf dem Spielfeld explodierte und sehr viel Eindruck machte—blöderweise war der Boden von der Sonne mittlerweile so aufgewärmt, dass plötzlich die ganze Mitte des Spielfelds Feuer fing. Das Spiel wurde hektisch unterbrochen, und alle mussten wieder in die Startposition.

Wir gingen diesmal zu den Roten, und ich kam mit zwei Schweizern ins Gespräch. Die beiden waren ganze 900 Kilometer gefahren, um bei diesem Euro Big Game dabei zu sein. "Mir macht das einfach einen Riesenspaß", erklärte mir einer von ihnen. "Draußen sein, herumrennen, sich in voller Montur in den Dreck in einen Schützengraben werfen—das ist doch einfach großartig!"

Paintballer werden heutzutage weitgehend in Ruhe gelassen, aber das war nicht immer so. Nach dem Amoklauf von Winnenden 2009 wollte die damals regierende Große Koalition das Spiel sogar verbieten, weil es "die Hemmschwelle für echte Taten" senke. Da aber nie ein Zusammenhang zwischen Paintball und echter Gewalttätigkeit nachgewiesen werden konnte und Fans und Opposition Sturm liefen, wurde das Verbot verworfen.

Trotzdem reden Paintballer lieber von einem "Sport" als von einem Kriegsspiel. Beim sogenannten "Speedball", wo man in kleinen Teams auf kleinen Feldern mit aufblasbaren Hindernissen gegeneinander antritt, kommt das allerdings eher hin als bei "Woodball"-Spielen wie dem Euro Big Game. Aber auch wenn sie ihre Gewehre "Marker" nennen, gibt es trotzdem viele, die echten Sturmgewehren nachempfunden sind, und auch die Uniformen, Abzeichen und Koppeln sprechen eine klare Sprache: Natürlich haben viele hier eine Faszination fürs Militär und Kriegsspiele. Nicht wenige, wurde mir versichert, sind oder waren tatsächlich Soldaten. "Das hier ist viel besser als die Armee", erklärte mir ein Fake-KSK-Kämpfer aus Stuttgart, der im echten Leben immerhin den Grundwehrdienst hinter sich hatte. "Wenn das hier alles echt wäre, wäre ich auch der Erste, der die Beine in die Hand nimmt und sich verpisst", lachte er. "Auf Krieg habe ich wirklich überhaupt keinen Bock."

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Was mir in allen Gesprächen auffiel, war der enorme Aufwand, den die Spieler betrieben, um sich dann drei Tage lang in der Hitze in ihren muffigen Masken zu quälen. Eine billige Ausrüstung bekommt man zwar schon ab ein paar hundert Euro, aber die meisten, die ich fragte, hatten weit über tausend Euro für Gewehre, Masken und die ganze Ausrüstung ausgegeben, dazu kommt dann noch Geld für die Paintballs und die Teilnahme am Turnier (140 Euro für vier Tage). Es ist also kein Wunder, dass das Euro Big Game von einem deutschen Ausrüstungssupplier namens XGuns veranstaltet wird. Irgendwas am Paintball muss süchtig machen. "Leute machen hier das erste Mal mit, und irgendwas macht in ihnen 'Klick'", hatte mir David, der Reaper erklärt. "Sie bekommen dieses dümmliche Grinsen und sie verstehen: Wow, das ist es, was mir gefehlt hat. Und dann kommen sie immer wieder."

Tatsächlich herrschte in dem ganzen Lager fast dauernd eine geradezu ausgelassene Stimmung, diese ganzen Männer wirkten außerordentlich locker und zufrieden. Ständig wurde sich umarmt und auf die Schulter geklopft. Viele der Männer kannten sich von früheren Turnieren, und über die Zeit hatten sich echte Freundschaften gebildet.

Das vielleicht beste Beispiel für die Leidenschaft, mit der sich manche in dieses Hobby stürzen, ist die Northern Alliance—die Truppe, die den Koch dabei hatte. Die Northern Alliance war entstanden, nachdem sich eine Gruppe Schweden mit einer Gruppe Niederländer angefreundet und verbündet hatte, kurz darauf stießen auch die Scottish Warriors dazu. Mittlerweile zählt das Bündnis 90 Mann und nennt das beste und größte Lager ihr Eigen. Die Jungs waren zwei Tage vor Spielbeginn mit mehreren LKWs angereist, hatten mithilfe einer Connection bei der niederländischen Armee riesige Armee-Zelte und einen Kühlwagen aufgebaut und Tausende Liter Bier mitgebracht, denen sie an diesem Abend den Rest geben wollten. Als wir ankamen, hatte der Koch John bereits angefangen, Dutzende Steaks auf riesigen Gaspfannen zu braten.

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"Wir bereiten uns das ganze Jahr auf dieses Turnier vor", erklärte mir Willie, ein fröhlicher Schotte und der Anführer der Scottish Warriors. "Das hier ist eine Familie, verstehst du? Wir tun alles füreinander, wir passen aufeinander auf." Ein betrunkener Schwede mit Wikinger-Kriegsbemalung lehnte sich an seine Schulter und lallte, dass er ihn plattmachen würde, Willie nannte ihn herzlich ein "fucking arsehole", und der Schwede lächelte glücklich.

Auf der Hauptbühne wurde jetzt noch der Gewinner bekannt gegeben (Team Blau, wir hatten sie offenbar in einem schlechten Moment erwischt), dann gab es eine sehr lange Charity-Versteigerung und eine sehr kurze Showeinlage von ein paar Mädchen in Unterwäsche.

Die vier Mädchen unterstrichen allerdings nur, wie unglaublich viele Männer sich hier versammelt hatten. Eigentlich war das Ganze wie ein riesiges LARP-Festival, nur halt statt für dünne Nerds für große nordeuropäische Männer. Hier im tiefsten Sachsen-Anhalt hatten sie sich versammelt, um in aller Ruhe vier Tage lang ihre Rambo-Fantasien auszuleben, zu campen und sich mit ihren Freunden einen reinzustellen. Hinter der Bühne spielten ein paar völlig betrunkene Deutsche und Niederländer Paintball-Duell mit einem Blasrohr, aber hauptsächlich torkelten sie selig durcheinander und warfen sich zärtliche Beschimpfungen an den Kopf.

Als wir später in der Nacht aufbrachen, fuhren wir wieder an den verlassenen Sowjet-Kasernen und stillgelegten Panzern vorbei. Und ich dachte mir: Wenn man sich mit Plastikbällen und Markern so austoben kann, dass man danach wirklich überhaupt keine Lust mehr hat, sein Nachbarland in echt anzugreifen, dann ist Paintball vielleicht eine ziemlich gute Sache.

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