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Gesundheit

Menschen erzählen, wie sie unter ihren Zahnspangen gelitten haben

"Eine Zahnarzthelferin rammte mir ein Metallgestell in die Fresse, ich kotzte fast. Später konnte ich vor lauter Schmerzen fast nicht schlafen."
Links sieht man Teresa als Kind mit Zahnspange, rechts wie sie heute aussieht
Fotos: privat

Was für brutale Erwachsene haben sich das eigentlich ausgedacht, Kindern unübersehbare Metallschienen ins Gesicht zu montieren? OK, wild wuchernde Zähne zu begradigen – mag im Dienste der Medizin vernünftig sein.

Aber längst nicht jede Zahnspange ist medizinisch notwendig. Kieferorthopäden wollen heilen, einerseits. Andererseits wollen sie auch, wie jeder Mensch, der sich dank Lohnarbeit ernährt oder Balenciaga-Pullover kauft, Geld verdienen. Zahnspangen in Münder einzusetzen ist ein Geschäftsmodell. Mehr als eine Milliarde Euro zahlen deutsche Krankenkassen pro Jahr für Zahnspangen. Oft legen Eltern bis zu 1.000 Euro pro Zahnspange drauf. Und jeden Tag kann es dabei vorkommen, dass Ärztinnen eine Spange verschreiben, die verspricht, irgendwann mal kosmetisch Sinn zu ergeben – die aber medizinisch nicht notwendig ist.

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Wegen dieser Erkenntnis schrie die Bild-Zeitung am Donnerstag: "ZAHNSPANGEN-ABZOCKE". Das Gesundheitsministerium, hieß es, verheimliche ein Gutachten, das beweist: Es gebe keine einzige Studie, die beweist, dass Zahnspangen langfristig etwas nutzen.

Was die Zeitung erfahren haben wollte, klang tatsächlich so, als hätten Millionen Jugendliche vollkommen umsonst jahrelang unter herrischen Kieferorthopädinnen und fiesen Mitschülern gelitten. Tja, wenige Stunden später verschickte das Gesundheitsministerium eine "Richtigstellung zum Bericht der Bild": Ja, schreibt das Ministerium, "ein patientenrelevanter Nutzen ist zwar nicht belegt. Das heißt aber nicht, dass es ihn nicht gibt."

OK, ob Zahnspangen nun endgültig gut oder schlecht sind – wir wissen es auch nicht. Aber wir wissen: Sie sehen echt dämlich aus. Also haben wir Menschen ausgefragt, wie schlimm es wirklich war, mit so einem Teil rumzulaufen.

Teresa, 24 (Foto oben):

"Ich war in der Grundschule, als mir meine Kieferorthopädin offenbarte, dass ich ganz dringend eine feste Zahnspange bräuchte. Sie nannte mich immer 'mein kleiner Vampir'. Wie sie auf diesen Spitznamen kam, verstehe ich bis heute nicht wirklich, denn meine Zähne sahen nicht aus wie die von einem Vampir – sondern wie Unkraut. Ehrlich gesagt: Ich freute mich darüber. Weil ich Zahnspangen irgendwie cool fand. Die Freude hörte aber beim 'Abdruck nehmen' auf.

Eine Zahnarzthelferin rammte mir ein Metallgestell mit einer klebrigen Masse in die Fresse. Ich musste fast kotzen. Als die Zahnspange montiert war, konnte ich vor lauter Schmerzen oft nicht schlafen. 'Das sei ganz normal', meinte meine Kieferorthopädin. Jedes Mal zog sie die Brackets fester. Meine Besuche bei ihr waren häufig. Immer, wenn ich etwas Härteres aß, zum Beispiel einen Apfel, brach ein Stück der Zahnspange ab.

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Nach zwei Jahren wurde ich das blöde Ding los. Aber die Kieferorthopädin schien vergessen zu haben, einen Retainer einzusetzen, so ein Ding mit dem die Zähne in Form bleiben. Nach ein paar Jahren waren meine Zähne wieder so sehr verschoben, dass sie feststellte 'da muss nochmal eine feste Zahnspange her'."

Zwei regenbogenfarbene lockere Zahnspangen

Symbolfoto: imago | CHROMORANGE

Anna, 24:

"Ich wollte unbedingt eine Zahnspange haben. Aus Schönheitsgründen. Bekam ich dann auch. Aber ich musste sie länger drin behalten als ursprünglich abgesprochen. Ich hatte ständig Essensreste in den Brackets und eine aufgerissene innere Oberlippe. Und diese 'coolen' farbigen Gummis sahen absolut dämlich aus. Ich habe schnell die durchsichtigen genommen. Die vergilbten aber super schnell. Yay. Meine Zähne waren danach gerade. Mittlerweile sind sie aber wieder schiefer geworden."

Laura, 24:

"Als ich das erste Mal bei meiner Kieferorthopädin Platz nahm und im gleißenden Licht den Mund öffnete, rief sie nach zehn Sekunden Mundinspektion: 'Oh Gott! Das wird eine Spange!'

Ich fand mich hässlich damit und gewöhnte mir an, mit geschlossenem Mund zu Lachen. Das war so schwierig, dass ich oft gar nicht lachte. Mein Selbstbewusstsein litt sehr darunter. Besonders wenn ich mit einem Zahnstocher ewig alle klebrigen Essensreste aus der Zahnspange fischen musste. Ich hasste sie.

Meine Schneidezähne wurden irgendwann wirklich ziemlich gerade. Ich wurde von der Spange befreit, die laut meines Vaters sicher den Porsche Cayenne meiner Kieferorthopädin finanziert hat, der immer demonstrativ vor ihrer Praxis parkte. Ich bekam sogar eine 'Folge-Spange', die ich jede Nacht tragen sollte, weil sonst meine Zähne 'direkt wieder hässlich werden würden'. Aus Rebellion trug ich das Teil nie. Bei den nächsten Kontrollen lobte die Kieferorthopädin mich trotzdem: 'Man sieht, dass du die Spange immer trägst, sonst würde das nie so aussehen.' Als ich meinen Eltern dann beichtete, dass ich die Zahnspange nie trug, schickten sie mich nie wieder in die Praxis. Und ich konnte endlich wieder mit offenem Mund lachen."

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Mund mit Zahnspange mit bunten Gummis

Keine unserer Gesprächspartnerinnen || Symbolbild: imago | Sämmer

Domenika, 21:

"Ich hatte mit 15 noch einen Milchzahn, weil der kommende Zahn schräg im Kiefer lag. Also hat man meine komplette Zahnreihe oben einmal nach links geschoben mit der festen Zahnspange, um den schrägen Zahn freizulegen und mit einer Kette nach und nach rauszuziehen. Jetzt sind meine Zähne verschoben. Sie sind nicht kosmetisch schön hergerichtet, obwohl mir das versprochen wurde. Naja. Immerhin habe ich jetzt keinen Milchzahn mehr."

Ruby, 31

"Wegen meiner Zahnspange wurde ich aus meiner Model-Agentur gekickt. Ich habe als Kind alles von Schlafanzügen bis Gartenmöbeln beworben – speziell für die Pyjama-Werbung erntete ich Spott von Mitschülerinnen. Aber hey, wenn kümmert das, wenn du dir mit 10 vom selbst verdienten Geld einen Videorekorder kaufen kannst?

Aus der Agentur zu fliegen, hat mich sehr geärgert. Vor allem, weil wenige Jahre später Spangen an Kindermodels zum totalen Trend wurden. Aber meine Zähne sind heute noch schön gerade."

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