Die WhatsApp-Krankschreibung von AU-Schein
Foto: Viktoria Grünwald

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Selbsttest

Ich habe mich per WhatsApp krankschreiben lassen

Neun Euro für einen gelben Schein von einer Ärztin, die mich nie gesehen hat – ist das legal?

Du kennst das: Du wachst morgens auf, der Hals kratzt. Es ist so schlimm, dass dir die bevorstehende Büroschicht nur jemand zumuten würde, der chinesische Wasserfolter für eine Entspannungsmethode hält. Aber es ist jetzt auch nicht so dramatisch, dass man damit gleich zum Arzt gehen müsste. Nicht, dass der am Ende keine Grippe diagnostiziert, sondern ein schweres Motivationsdefizit.

Aus Hamburg kommt jetzt ein Angebot, das einem den Arztbesuch erspart, wenn man sich nicht nach Büro fühlt, aber der Pedant von Chef dummerweise auf eine Krankschreibung besteht.

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Im Werbevideo von AU-Schein.de sagt eine Stimme, bei der einem schon beim Zuhören ein leichtes Unwohlsein überkommt: "Arbeitest du dich noch krank oder AU-scheinst du schon?" Illustriert mit einem Männchen, das sich erst mit Fieberthermometer und Wärmflasche auf dem Kopf durchs Bild schleppt und fröhlich in die Luft springt, als es erfährt, dass man seine Krankschreibung per WhatsApp bestellen kann. "Einfach Symptome und Daten an den Arzt senden – der Arzt sendet mir dann den gelben Schein per Handy und per Post." AU-Schein.de macht das Blaumachen so komfortabel wie das Stöbern nach dem nächsten Sexpartner.

Der Geschäftsführer von AU-Schein.de ist ein Rechtsanwalt aus Hamburg, Dr. Can Ansay. Seit sein Dienst in der Woche vor Weihnachten online gegangen ist, muss Ansay sich rechtfertigen. Der Datenschutz, die Abwicklung des Dienstes über amerikanische Server, die Einladung zum Schwänzen – für die Ärztekammern genug Gründe, vom AU-Scheinen abzuraten.

Ansay dagegen legt Wert darauf, dass sein Telemedizin-Start-Up ausschließlich darauf ausgelegt sei, erkältete Menschen krankzuschreiben. Diese seien "ungefährlich" und die meisten Menschen können sich ihre Erkältung "aus eigener Erfahrung" selbst diagnostizieren – so steht es auf der Website. Gegenüber VICE sagt Can Ansay, dass sein Dienst damit sowohl Erkrankten als auch Ärzten und Ärztinnen Erleichterung verschaffe. "Der Patient erspart sich, die Schikane zum Arzt gehen zu müssen, und vielleicht noch andere beim langen Rumsitzen im Wartezimmer anzustecken." Und bei den Ärzten werden die Wartezimmer leerer.

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So weit die Theorie. Zeit für den Praxistest, ohne in die Praxis zu müssen. Ich habe da seit wenigen Sekunden so ein komisches Kratzen im Hals.


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"Vielen Dank für Ihre Bestellung"

Um an das gelbe Glück namens "Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung" zu kommen, muss ich zunächst ein paar Fragen beantworten. Ob ich Fieber habe, ob ich Kontakt zu einer erkälteten Person hatte, und ob ich beim Nasehochziehen Schleim spüre. Neben "Ja" und "Nein" gibt es auch die Option "Weiß nicht" – wahrscheinlich für alle, die vor lauter Schleim im Kopf schon gar nicht mehr klar denken können.

Fieber habe ich keins, aber die fremden Leute in der Bahn haben bestimmt auf die Sitze gerotzt. Und zwei Taschentücher habe ich auch schon verbraucht. Ich kreuze wild weitere Symptome an: Nase verstopft, Nase läuft, Rachenschmerzen, Übelkeit, Husten mit Schleim, Kopfweh, Unwohlsein, Muskelschmerzen überall, gerötete Augen und Niesen. Ich gebe an, mich seit zwei Tagen krank zu fühlen, und darf mir aussuchen, ob ich einen, drei oder gleich fünf Tage (also eine ganze Arbeitswoche!) krankgeschrieben werden möchte. Wenn schon, denn schon: fünf Tage und "Weiter".

Ich darf mir aussuchen, ob ich einen, drei oder gleich fünf Tage krankgeschrieben werden möchte. Wenn schon, denn schon: fünf Tage und "Weiter".

Auf der nächsten Seite kann ich meinen Zustand in den Kategorien "Risiken" und "Grippe-Symptome" weiter dramatisieren. Ich bin weder schwanger noch herzkrank, aber eine Immunschwäche finde ich sympathisch. Doch dann ein schwerer Rückschlag: Leider könne ich den Dienst nicht nutzen, da meine Symptome gegen eine Erkältung sprächen. Ich gehe einen Schritt zurück, verabschiede mich schweren Herzens von der Immunschwäche und probiere es nochmal. Jetzt klappt’s, ich darf meine Daten eingeben und bezahlen. Bei meinem Hausarzt hätte das nicht funktioniert: "Moment – mit einer Immunschwäche bekomme ich keine Krankschreibung? So ein Glück. In diesem Moment geheilt."

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Neun Euro inklusive Mehrwertsteuer kostet dieser Dienst. Die kann ich per Klarna oder PayPal bezahlen. Und ich soll neben meiner Adresse auch eine WhatsApp-Nummer angeben, damit ich die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erst per Nachricht und dann per Post erhalten kann. Nach dem Bezahlen bekomme ich eine vorformulierte Nachricht, die ich an eine Festnetznummer aus Hamburg per WhatsApp schicken soll.

Die Nummer antwortet sofort. Ich werde als Patientin begrüßt, mir wird für meine "Bestellung" gedankt und ich solle nur noch die Rückseite meiner gesetzlichen Krankenversicherungskarte schicken. Ich sende ein Foto davon, das war’s. Das Profilbild der Nummer ist die gleiche Frau wie in der Werbeanzeige der Website, die lachend ihr Handy mit dem AU-Schein in die Kamera hält. Es ist elf Uhr vormittags. Bis 18 Uhr würde ich "gegebenenfalls" meine Krankschreibung bekommen. Denn die AGBs verraten mir, dass mir meine Bescheinigung noch nicht garantiert ist. Und – falls die Ärztin mein "Vertragsangebot" nicht annimmt – ich auch mein Geld wiederbekomme.

Von einem Anwalt bestätigt, von Ärztekammern angezweifelt

Ist das legal – einfach Geld für einen gelben Schein zu bezahlen? Laut Website sei das Angebot "von Rechtsanwälten bestätigt". In meiner Recherche finde ich allerdings nur einen Anwalt, der das bestätigt: Can Ansay.

Er sagt, sein Angebot sei möglich durch die die im vergangenen Jahr erfolgte Lockerung des sogenannten Fernbehandlungsverbots. Und das stimmt: Im Mai 2018 lockerte der 121. Deutsche Ärztetag die Regelungen zur Fernbehandlung. Bis jetzt machen einige Bundesländer mit, darunter zum Beispiel Schleswig-Holstein. Gedacht waren diese Lockerungen aber, um "leichte medizinische Fälle" beispielsweise am Telefon "vorzusortieren". Das sei eine Reaktion auf überfüllte Notaufnahmen und Wartezimmer, gedacht für Patienten, die der jeweilige Arzt bereits kennt, teilt die Ärztekammer Schleswig-Holstein auf Anfrage mit.

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Ansays Ansatz findet wiederum die Ärztekammer Hamburg weder hilfreich noch innovativ: "Wie stellt die Ärztin sicher, dass der Mensch, der das Foto einer Versichertenkarte über WhatsApp schickt, tatsächlich krank ist? Husten und Heiserkeit hört man am Telefon wenigstens noch", kritisiert eine Sprecherin gegenüber VICE. Ärzte dürften bei Krankschreibungen ihre Sorgfaltspflicht nicht außer Acht lassen und monetäre Interessen nicht über das Wohl der Patienten stellen.

WhatsApp Krankschreibung Chat

Screenshots: Autorin || Handy: StockSnap | pixabay

Um die betrügerischen Blaumacher einzudämmen, hat Ansay den Service auf zweimal pro Jahr pro Person begrenzt. Risikopatienten würden im Fragebogen durch "weit reichende Sicherungsvorkehrungen" von einem Algorithmus ausgeschlossen.

Es sei denn, sie probieren ein bisschen rum, bis es funktioniert. Man muss nicht jahrelang Medizin studiert haben, um schnell zu durchschauen, wie man an diese Krankschreibung kommt.

Daran müsste man vielleicht noch tüfteln, gibt Ansay zu und ergänzt, die Leute seien mit bewusst falschen Antworten aber auch selbst schuld. "Die Leute sollen zum Arzt gehen, wenn es ihnen schlechter geht. Wir schreiben sie nur krank und geben eine Empfehlung", sagt er.

Es ist offiziell: Ich bin jetzt krank

Sieben Stunden nach meiner Bestellung klingelt tatsächlich mein Handy. "Nach Prüfung Ihrer Angaben diagnostiziere ich eine Erkältung", schreibt eine Dr. Beate Els, Allgemeinmedizinerin aus München (Anm. d. Red.: Siehe Update unten). Ich bekomme, wie von Ansay angekündigt, einen Link zu Therapie-Empfehlungen und den Hinweis, dass sie momentan "20x mehr Anfragen bekommen als letzte Woche" und deshalb länger für die Bearbeitung gebraucht hätten.

Falls sich meine Symptome verschlechterten, solle ich einen Arzt aufsuchen, einen Link zu gelisteten Hausärzten bekomme ich auch. Genauso wie das Angebot, mich jederzeit melden zu können, wenn meine Krankenversicherung oder mein Arbeitgeber die Bescheinigung nicht akzeptieren. Krankgeschrieben wurde ich statt gewünschten fünf Tagen immerhin vier ganze Tage. Und das eigentlich mit nur einem kleinen Kratzen im Hals.

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Ist Telemedizin der neue Trend?

Die Ärztekammern sind über diese Interpretation des gelockerten Fernbehandlungsverbots in etwa so happy wie über das Auswaschen einer Wunde mit Reinigungsbenzin. "Es erscheint verlockend und einfach, für insgesamt 18 Euro jeweils ein paar Tage 'nicht zur Arbeit zu müssen' wie ein Discount-Produkt im Internet bestellen zu können", schreibt die Ärztekammer Schleswig-Holstein in einer Mitteilung. Ein Sprecher der Ärztekammer sagt am Telefon, eine solche Dienstleistung über WhatsApp bewege sich definitiv in einer Grauzone. Ob das Angebot wirklich rechtskonform sei, werde derzeit geprüft.

Das Ergebnis wird auch davon abhängen, wo die Ärztinnen und Ärzte sitzen, die die gelben Scheine ausstellen. In Hamburg, dem Sitz von AU-Schein.de, gilt nach wie vor ein Fernbehandlungsverbot. Die bayerische Landesärztekammer dagegen hat im Oktober 2018 die Regeln der Fernbehandlung ebenfalls gelockert. Deshalb ist es kein Zufall, dass Dr. Els in München praktiziert (Anm. d. Red.: Siehe Update unten).

Can Ansay kann die Aufregung nicht verstehen, die um seinen Dienst entstanden ist. Seine Legitimation zieht er aus einer Studie der Uni Magdeburg aus dem Jahr 2015. Drei Jahre lang haben sich Mediziner dort mit der Frage beschäftigt, warum die Deutschen im europäischen Vergleich so viel öfter zum Arzt gehen. Das Ergebnis: Der gelbe Schein ist für die Deutschen ein besonders häufiger Anlass für kurzfristige Besuche bei ihrem Hausarzt. In Norwegen zum Beispiel können sich Menschen selbst krank schreiben, in einem Großteil der Unternehmen sogar bei Ausfällen von bis zu acht Tagen am Stück und höchstens 24 Tagen im Jahr. Die Zahl der Fehltage in Norwegen ist seit Jahren trotzdem rückläufig und die Ärzte haben mehr Zeit, sich um die Patienten zu kümmern, die ernsthaft erkrankt sind.

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Werden wir uns in der Zukunft also alle unsere Krankmeldung über WhatsApp besorgen?

Nach Ansays Angaben sei sein Dienst in den vergangenen Tagen so oft angefragt worden, dass der jetzt erstmal pausieren müsse. Sein Plan: Er will der Marktführer in der Telemedizin für Erkältungskrankschreibungen werden. Für die Ärztekammer Schleswig-Holstein sei in Ansays Idee zwar "ein Quäntchen Zukunftsvision" enthalten. Aber: "Eine verantwortungsvolle und behutsame Überführung des vertraulichen Arzt-Patient-Verhältnisses in das digitale Zeitalter sieht nach Auffassung der Ärzteschaft anders aus." Und auch ich werde in Zukunft wieder lieber meinem Hausarzt etwas vorhusten als meinem Handydisplay, wenn ich mich wirklich krank fühle.

Update vom 12.01.2019, 13:21Uhr: Frau Dr. Els hat sich bei uns gemeldet und mitgeteilt, dass sie den Dienst für die AU-App inzwischen eingestellt habe und sich vom Gründer Dr. Ansay distanziere.

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