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Drogen

Warum ist Europa bis jetzt von der Fentanyl-Krise verschont geblieben?

In den USA sorgt die Droge für zehntausende Tote, in Europa vor allem für Panik.
Max Daly
London, GB
Sichergestelltes Heroin und Fentanyl
Sichergestelltes Heroin und Fentanyl in den USA | Foto: DEA

2017 sah es so aus, als würde das Böse auch uns erreichen. Der Hamburger Zoll hatte in diesem Jahr zwei Päckchen mit insgesamt 250 Gramm Methoxyacetyl-Fentanyl aus Hongkong abgefangen, genug für etwa 500.000 Dosen. Auch in Großbritannien hatte die Polizei mehrere Fentanyl-Händler hochgenommen. Es war also nur eine Frage der Zeit, so schien es, bis auch Europa die verheerenden Auswirkungen des günstigen und hochpotenten Opioids erleben würde, mit dem Dealer in Nordamerika Heroin strecken.

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Diesen Januar wurden drei britische Dealer, die 2017 festgenommen worden waren, zu insgesamt 43 Jahren Gefängnis verurteilt. Über das Darknet hatten sie 2.800 Päckchen Fentanyl und 635 Gramm Carfentanyl verkauft, ein noch potenteres Opioid, das nur für die Betäubung großer Wildtiere erlaubt ist. Zuvor hatte sich einer der Täter beim Umgang mit den gefährlichen Substanzen selbst vergiftet und war kurzzeitig ins Koma gefallen. Im April 2017 schlug die Polizei dann zu und verhaftete das Trio. Bei der Razzia fanden die Beamten eine Tupperdose mit weißem Pulver. Darauf stand geschrieben "Weißt du, was das ist???!! ES IST BÖSE".

2017 wurden in den USA 29.000 Todesfälle mit synthetischen Opioiden, vor allem Fentanyl, in Verbindung gebracht. Bereits 2016 hatte Fentanyl in Nordamerika Heroin als illegale Substanz mit den meisten Todesfällen abgelöst.

In Deutschland hingegen war Fentanyl in den vergangenen Jahren für nur neun bis fünfzehn Prozent aller Drogentoten verantwortlich. Tendenz fallend. 2017 waren es nur noch 8,6 Prozent. Warum ist Europa bis heute von der Droge weitestgehend verschont geblieben?

Eine Tupperdose mit Fentanyl

In Großbritannien sichergestelltes Fentanyl | Foto: National Crime Agency

Ein Blick nach Großbritannien: Die National Crime Agency, das britische Pendant zum deutschen BKA, sagte gegenüber VICE, dass man trotz erhöhter Wachsamkeit seit 2017 keine nennenswerten Fentanylhändler hochgenommen habe. Die sichergestellten Mengen an britischen Grenzen und auf den Straßen seien "sehr gering" gewesen.

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Eine Untersuchung der Manchester University und der Drogenhilfe-Organisation CGL von 460 Heroinkonsumierenden in 14 britischen Behandlungsprojekten zwischen Dezember 2017 und Mai 2018 fand Fentanylrückstände im Urin von drei Prozent der Getesteten. Eine vergleichbare Untersuchung in Michigan, USA, die zwischen 2015 und 2016 durchgeführt worden war, entdeckte Fentanyl bei 38 Prozent der Getesteten.

"Fentanylderivate spielen gegenwärtig nur eine untergeordnete Rolle auf dem europäischen Drogenmarkt", heißt es im Europäischen Drogenbericht 2018. Abgesehen von vereinzelten Fällen in der Ukraine, Schweden und Litauen scheint Fentanyl in Europa – und dem Großteil der Welt – zwar eine gefürchtete, aber selten in Erscheinung tretende Droge zu sein. Lediglich in Estland dominiere die Droge seit 15 Jahren den Opioidgebrauch, heißt es im World Drug Report 2018 des Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung.

Wie konnte die Situation in den USA so eskalieren?

Am Anfang standen wachsende soziale Verwahrlosung und Ärzte, die exzessiv Opioide verschrieben. Immer mehr Menschen wurden abhängig. Als die Behörden gegen die laxe Verschreibungspraxis vorgingen, wichen Betroffene auf Heroin aus. Das war zu jener Zeit allerdings von schlechter Qualität und schwer zu kriegen. Um die wachsende Nachfrage bedienen zu können, halfen sich die Händler mit Fentanyl aus, das sie aus China importierten.

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In einem aktuellen Artikel in der wissenschaftlichen Zeitschrift International Journal of Drug Policy sagt Daniel Ciccarone, ein Dozent der University of California in San Francisco und Experte für Heroinmärkte, dass die Verbreitung von Fentanyl in den USA im Kontext der aufeinanderfolgenden Opioid-Epidemien zu verstehen sei. "Die erste Welle Überdosierungen ging auf das Konto von Opioid-Tabletten wie Oxycodon. Sie begann 2000 und wuchs bis 2016 beständig weiter. Die zweite Welle ist definiert durch Heroin-Überdosierungen, die 2007 sichtbar anstiegen und 2015 schließlich die Todesfälle durch Tabletten übertrafen. Die dritte Welle ist geprägt durch Todesfälle durch Fentanyl, Fentanyl-Derivate und andere illegale hochpotente synthetische Opioide. Nach einem langsamen Anstieg schoss die Zahl der Unglücksfälle ab 2013 dramatisch in die Höhe."

Für Heroinhändler war Fentanyl eine wirtschaftlich attraktive Option. Es ist billiger, leichter zu importieren, zu schmuggeln und zu produzieren als Heroin. Die Profite sind um ein Vielfaches höher. Neu ist Fentanyl auf dem US-amerikanischen Schwarzmarkt auch nicht. Seit den 1970ern wird das Schmerzmittel auch im sogenannten Freizeitgebrauch verwendet. Bei rund sechs Millionen Fentanyl-Verschreibungen pro Jahr gibt es reichlich Möglichkeiten, hier und da etwas abzuzwacken.

Die Händler entschlossen sich flächendeckend eine der goldenen Regeln des Drogenhandels zu ignorieren: Tote Kunden sind schlechte Kunden.

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Die mexikanischen Kartelle, die mindestens seit 2006 mit Heroinsubstituten wie Fentanyl experimentierten, kontrollieren den Großteil des US-amerikanischen Heroinmarktes. Für sie war Fentanyl leicht zu beschaffen. Sie importierten es vor allem aus China, aber stellten es auch in eigenen Laboren her. Mithilfe der synthetischen Droge gelang es ihnen, die unzuverlässige Heroinversorgung zu stabilisieren. Fentanyl ließ sich unauffällig unter das "weiße Heroin" mischen, das den nordamerikanischen Markt dominiert. Allerdings zeigte sich bald, dass das hochpotente Fentanyl viel mehr Menschen umbrachte als das handelsübliche Heroin, das es ersetzen sollte.

Was nun passierte, bedeutete eine dramatische Abkehr von den bisherigen Gepflogenheiten des illegalen Geschäfts. Die Händler entschlossen sich flächendeckend eine der goldenen Regeln des Drogenhandels zu ignorieren: Tote Kunden sind schlechte Kunden.

Heute herrscht weitgehend Konsens darüber, dass mit Fentanyl versetzte Produkte aus rein ökonomischen Gründen als Heroin verkauft werden. Die allermeisten Konsumierenden bevorzugen immer noch Heroin. Aber warum gehen die Händler das Risiko ein, einen so großen Teil ihres Kundenstamms zu verlieren? 2017 waren es immerhin fast 30.000 Menschen.


VICE-Video: Geständnisse eines Drogenabhängigen


"Die einzige vernünftige Antwort darauf lautet, dass es in den USA weit mehr Konsumierende gibt, als wir uns eingestehen, und dass die 'Verluste' bei den großen Bossen nicht wirklich zu Buche schlagen", sagt der Experte Ciccarone. "Die andere Hypothese lautet, dass es keine großen Bosse gibt: In Nordamerika herrscht der Wilde Westen und niemand hat das Sagen. Vielleicht hat eine Kartell-Splittergruppe die Kontrolle über einen Teil von Amerika übernommen und verbreitet in ihrem Gebiet Fentanyl. In jedem Fall ist eine riskante Strategie mit todbringenden Konsequenzen."

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Tino Fuentes, der für eine New Yorker Drogenhilfe arbeitet, sagt, dass sich das Fentanyl-Geschäft als so profitabel für die Händler herausstellt, dass viel verkauftes Straßenheroin in der Stadt gar kein Heroin mehr enthält. Laut Fuentes könne sich Heroin in den USA bald zu einer "VIP-Droge" entwickeln. Der Ersatzstoff ist einfach zu billig und allgegenwärtig. Ein Kilo Heroin koste zwischen 30.000 und 50.000 US-Dollar und werfe einen Profit von 250.000 US-Dollar ab, sagt Fuentes. Ein Kilo Fentanyl hingegen koste 12.000 US-Dollar und könne 1,3 Millionen US-Dollar Profit generieren. "Wir haben es jetzt mit Dealern zu tun, denen ihre Kundschaft ziemlich egal ist", sagt Fuentes. "Sie versuchen nicht aktiv, sie umzubringen, aber ihnen ist egal, ob Menschen sterben, wenn sie per Trial and Error das perfekte Fentanyl-Verhältnis in ihrer Mixtur ausklamüsern. Es ist einfach abartig."

Könnte Europa eine Lösung für die Zustände in den USA liefern?

Zuerst einmal ist klar: Was auf dem amerikanischen Drogenmarkt erfolgreich ist, muss nicht in Europa funktionieren. Methamphetamin, alias Crystal Meth, ist zum Beispiel in den Vereinigten Staaten riesig, fristet in Europa aber weiterhin ein Nischendasein. Genau so wenig wurden europäischen Patienten Rezepte für potente Opioide nachgeworfen.

Abgesehen vom vorsichtigeren Umgang mit verschreibungspflichtigen und potenziell süchtig machenden Medikamenten schützt Europa vor allem der stabile Heroinimport aus Afghanistan. Vergangenes Jahr wurden dort 263.000 Hektar Schlafmohn angebaut. Der umkämpfte Binnenstaat produziert 90 Prozent des illegalen Heroins weltweit. Daran konnten auch zahlreiche Unternehmungen ausländischer Armeen und der Taliban nichts ändern.

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Im Gegensatz zu den USA verfügen Europas Heroinhändler also seit über neun Jahren über eine stabile Quelle für hochwertiges und preiswertes Heroin. Alternativen wie Fentanyl werden dementsprechend weniger gebraucht. Ein Kilo Heroin kostete 2017 in Deutschland, je nach Größenmenge zwischen 20.000 und 31.750 Euro, bei einem Reinheitsgehalt von knapp 50 Prozent. Auf der Straße kostete das Gramm rund 42 Euro und hatte dabei noch einen Reinheitsgehalt von etwa 20 Prozent, die Gewinnspanne ist entsprechend hoch. Zum Vergleich: In den USA kostete das Kilo etwa 44.000 Euro und hatte im Durchschnitt aber nur einen Reinheitsgehalt von etwa 33 Prozent.

In Europa wurden 2017 insgesamt über 4 Tonnen Heroin sichergestellt. Das sind 1,8 Tonnen mehr als im Vorjahr. Allerdings heißt es im Bundeslagebild Rauschgiftkriminalität 2017, es lasse sich "vor dem Hintergrund einer steigenden Heroinproduktion in Afghanistan auf eine hohe Verfügbarkeit von Heroin in Europa und auch in Deutschland schließen". Hinzukommt: Im Gegensatz zum weißen Heroinsalz, das sich in den USA zum beliebten Träger von Fentanyl entwickelt hat, ist die hier übliche afghanische Heroinbase braun und entsprechend schwieriger mit weißem Fentanylpulver zu mischen.

Graffiti zu den Todeszahlen durch Fentanyl

Graffiti über die Fentanyl-Todesfälle in Vancouver, Kanada | Foto: Gerry Rousseau | Alamy Stock Photo

"Wenn Heroin billig und leicht zu beschaffen ist, warum dann zu einer problematischeren Substanz wechseln? Du bräuchtest schon einen guten Grund. Es müsste einfach besser sein", sagt Jonathan Cole, Dozent an der Universität von Liverpool und Experte für Drogenmärkte. Die europäischen Händler machen auch so guten Gewinn – ohne ihre Kunden zu töten.

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Das bestätigt auch ein Heroindealer in Liverpool, der Hausbesuche macht. Ihm sei niemand bekannt, der seine Ware absichtlich mit Fentanyl strecken würde: "Unser Stoff ist ohne Fentanyl gut genug und wir wollen unsere Stammkunden nicht töten. Sonst müssten wir bald wieder an die Wichser auf der Straße verticken."

Daneben könnte auch eine Rolle spielen, dass Fentanyl von Online-Drogenmärkten zwar nicht komplett verbannt wurde, dort aber zumindest umstritten ist. Vince O'Brien, Chef des Drogendezernats der britischen National Crime Agency, sagt, dass das synthetische Opioid seit der Abschaltung des Darknet-Marktes Alpha Bay durch Strafverfolgungsbehörden schwieriger im Internet zu beschaffen sei. Auch wenn kein Verkäufer das Strecken anderer Drogen mit Fentanyl offen befürwortet, so scheint die Selbstregulation der Märkte vor allem wirtschaftlich motiviert zu sein. Tote Kunden führen zu ungewollter Aufmerksamkeit und kaufen vor allem keinen neuen Stoff. O'Brien glaubt, dass auch die Berichterstattung über die Situation in den USA abschreckend auf europäische Heroinbanden gewirkt haben könnte: "Fentanyl hat einen dermaßen schlechten Ruf, dass die Gangs vielleicht Angst davor haben, sich damit selbst zu schaden, härtere Strafen zu bekommen oder ihre Kundschaft zu töten."

Das heißt allerdings nicht, dass das für immer so bleiben muss. Wenn die afghanische Opiumwirtschaft von schädlingsbedingten Ernteausfällen betroffen wird oder die erstarkten Taliban auf die Idee kommen, den Schlafmohnanbau wieder zu verbieten, könnte sich auch die Lage in Europa dramatisch ändern. Letzteres hatte den Markt 2000 bereits empfindlich getroffen. Für die USA scheint die Lösung allerdings auf der Hand zu liegen: Eine weniger tödliche Alternative muss her.

Anstatt Milliarden Dollar für eine Mauer an der Grenze zu Mexiko aus dem Fenster zu werfen, die den Fentanylstrom garantiert nicht aufhalten wird, oder den aussichtslosen Kampf gegen Paketlieferungen zu führen, könnte ein Konkurrenzprodukt den Ausweg aus der todbringenden Sackgasse liefern, in der sich die USA momentan befinden. Egal, ob diese Substanz kontrolliert an Konsumierende ausgegeben wird, die clean werden wollen, oder ob es findige Kriminelle sind, die das Fentaylgeschäft mit einem sichereren Opioid unterwandern, in beiden Fällen würde die Zahl der Todesfälle sinken.

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