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"Es ist zum Speiben" – Ein Gespräch mit Lotte Tobisch

Wir haben mit der 91-jährigen Opernball-Dame über Etikette, Politik, den Opernball und das Leben gesprochen.
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"Das ist meine politische Ecke", sagt Lotte Tobisch und zeigt auf ein paar goldgerahmte Bilder in ihrem prunkvollen Bücherregal. "Das hier ist Bruno Kreisky, das ist Prinz Philip und das ist Papst Johannes Paul II. Daran sehen Sie auch, wo ich politisch stehe: Die Roten glauben, ich bin schwarz, die Schwarzen glauben, ich bin rot und beide haben Recht." Die österreichische Sozialpartnerschaft in Person, quasi.

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Nach zwei Stunden bei Kaffee und Kuchen – oder genauer Nespresso und Fertiggebäck – in ihrem Wohnzimmer lässt sie unser Gespräch noch einmal Revue passieren und wirkt kurz, als ob sie manche Dinge lieber nicht gesagt hätte. Dann wischt sie ihre eigenen Bedenken beiseite: "Das ist der Vorteil des Alters", sagt sie. "Man muss nicht mal mehr auf sich selbst Rücksicht nehmen."

Ans Hinlegen denkt sie aber noch lange nicht. Mit 91 Jahren ist die ehemalige Grande Dame des Opernballs laut eigenen Angaben immer noch kerngesund – abgesehen von einem ziemlich schweren Lungenemphysem, das ihr von 40 Jahren rauchen als Erinnerung geblieben ist. Und das, obwohl sie schon vor 30 Jahren damit aufgehört hat. Trotzdem ist sie gegen ein Rauchverbot; vielleicht der einzige Punkt, in dem sie der schwarz-blauen Regierung zustimmt. "Das Schlimme ist nur, dass der Strache diesen Vorschlag gemacht hat", fügt sie hinzu.

Gemeinsam mit Markus Dichmann vom Deutschlandfunk, der dem Thema Etikette und Wien anlässlich des Opernballs gerade einen Schwerpunkt widmet, habe ich mich mit Lotte Tobisch über Anstand und Benimm, Johanna Mikl-Leitner und Donald Trump sowie über Märchen aus einer Zeit, die es nie gab, unterhalten – und nebenbei erfahren, warum sie Bälle eigentlich hasst.

Beginnen wir doch gleich mit dem, weswegen wir uns heute treffen: Etikette.
Ach, haben Sie mich gern mit der Etikette. Was wollen Sie von mir über Etikette wissen?

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Was ist Etikette für Sie?
Ich weiß es nicht. Etikette hat den Beigeschmack von blödsinnigem und sinnlosem Getue. Das Wort Etikette wird quasi als Etikette auf ein Verhalten draufgeklebt. Worum es mir geht, ist ein halbwegs ordentliches Benehmen, das den Verkehr miteinander ermöglicht. Denn wenn jeder, wie das derzeit oft üblich ist – Pardon –, dem anderen mit dem nackten Arsch ins Gesicht fährt, sieht die Welt eben aus, wie sie bei Trump nun mal ausschaut. Und das wollen wir hoffentlich alle nicht.

Der Tanzlehrer Roman Swabek sagt, uns gehe die Etikette heute verloren. Was sagen Sie dazu?
Die klassische höfische Etikette von einst ging mit der Monarchie verloren. Die war allerdings auch nur für diese Klasse relevant.


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Ist es schade drum?
Nein. Für die damalige Welt war das vermutlich wichtig. Aber in einer digitalen Welt hat das in der Form einfach keinen Platz mehr. Ich glaube allerdings schon, dass es einen Ersatz braucht. Sonst ruinieren Menschen einander im Internet Existenzen, nur weil es ihnen Spaß macht. Da muss demnächst jemandem etwas einfallen. Sonst haben wir in der digitalen Welt eine Unruhe, die gefährlich wird.

Geht also auch das, was Sie Anstand nennen, verloren?
Er ist noch nicht ganz verloren. Aber bevor es soweit ist, sollten wir klarstellen: Man darf fast alles – die Frage ist nur, ob man es auch sollte. Äsop, einer der ganz Großen unter den alten Griechen, hat den schönen Satz gesagt: "Bedenke das Ende". Wenn man etwas macht, sollte man sich bewusstmachen, was daraus folgt. Das ist die Gefahr an der digitalen Zeit: dass das Internet den Leuten den letzten Rest vom Denken-müssen wegnimmt. Ich sehe es ja bei den Jungen in meiner Familie. Man drückt eine Taste für die Frage und eine andere Taste für die Antwort. Das, was früher auf dem Weg zur Antwort nötig war, ist heute abhanden gekommen.

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Was ebenfalls schon bei alten Griechen verbreitet war, ist der Kulturpessimismus gegenüber Neuen Medien. Platon hat bereits die Schrift kritisiert, weil sie die Menschen angeblich dümmer macht. Stattdessen ermöglicht uns das Schreiben doch, kreativer zu sein als früher.
Ja, und die Frage ist, ob wir das tun. Seit ich 90 bin, schreibe ich so eine Kolumne in einem Magazin – ich will gar nicht sagen, in welchem – und da habe ich einmal gesagt: Es stimmt, wir ersparen uns dauernd Zeit. Ich frage mich nur, wo ist sie hingekommen. So war es ja auch bei Marx gedacht: Wir sollten mehr Zeit für die klugen und schönen Dinge haben. Aber davon ist ja keine Rede. Stattdessen gehen wir shoppen. Die Zeit, die wir haben, wird einfach nicht genützt.

In meinem Alter stirbt es sich leicht. Ich bräuchte mich nur hinlegen und sagen, ich hab genug und glauben sie mir – ich wäre in ein paar Tagen tot. Aber ich lebe gern.

Ich glaube nicht, dass wir hier von denselben Menschen sprechen, die Bücher schreiben würden, wenn es weniger Gelegenheiten zum Shoppen gäbe.
Ich bin mir nicht so sicher. Auch denken muss man lernen. Wenn man das in der Schule nicht mehr beigebracht bekommt, ist das schon ein Verlust.

Wenn man Ihnen so zuhört, hat man schon den Eindruck, dass seit Ihrer Opernball-Zeit doch einiges verloren gegangen ist.
Wenn Sie so alt sind wie ich, wissen Sie, dass immer etwas verloren geht. Alles hat seinen Preis. Die Frage ist nur, ist es wirklich so schade darum – und was kommt nach? Wenn man sich US-Präsidenten ansieht, ist die Entwicklung beängstigend. Nehmen wir Kennedy. Wir wissen heute alle, wer er war und dass sein öffentliches Bild nicht ganz der Wahrheit entsprochen hat – aber wichtiger ist doch, was jemand bewirkt. Dann kamen Leute wie Nixon und jetzt haben sie Gestalten wie den Herrn Trump. Du meine Güte.

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Dazwischen gab es aber auch Obama.
Ja, und ich hätte gehofft, dass auf Obama ein Super-Obama folgt, der vieles von dem Angerissenen umsetzt. Das Gegenteil war der Fall. Das ist schon deprimierend.

Sind Sie eigentlich Pessimistin?
Wissen Sie, in meinem Alter stirbt es sich leicht. Ich bräuchte mich nur hinlegen und sagen, ich hab genug und glauben sie mir – ich wäre in ein paar Tagen tot. Aber ich lebe gern. Und ich bin vor allem ungeheuer interessiert an allem. Und ich sehe auch viel Wunderbares, auch an jungen Leuten. Es hapert leider an guten Beispielen. Wie kann man nach so einem Wahlkampf wie dem letzten von jungen Leuten verlangen, dass sie sich anständig gegenüber einander verhalten? Was da von den Roten losgetreten und von den Schwarzen revanchiert wurde, ist zum Speiben.

Wen haben Sie unterstützt, wenn nicht Rot oder Schwarz?
Ich habe den Sturz gewählt – oder wie heißt er? Strolz! Ich kann mir nicht mal seinen Namen merken. In Niederösterreich war ich für Johanna Mikl-Leitner.

Warum?
Die ist ausgesprochen lustig! Auch primitiv – sie ist kein großer Geist –, aber privat sehr lustig, sehr direkt, und sagt Dinge wie: "Geh her mit dem Zaster!" Die ist auf ihre Art authentisch und sehr in Ordnung.

Was da von den Roten losgetreten und von den Schwarzen revanchiert wurde, ist zum Speiben.

Das klingt allerdings auch nicht nach dem besten Beispiel für Benimm und Anstand. In welchem Zustand befindet sich die österreichische Öffentlichkeit Ihrer Meinung nach?
In einem schlechten – aber nicht zuletzt wegen der Bildung. Es wird schon einen Grund haben, warum selbst die Linken ihre Kinder auf Klosterschulen schicken. Die öffentlichen Schulen sind seit 50 Jahren ein Experimentierfeld, es ist ein Jammer.

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Kommen wir kurz zum Opernball zurück. Warum sollten sich die Menschen heute noch für die Veranstaltung interessieren? Wir Deutschen tun uns ja manchmal etwas schwer zu verstehen, warum Österreicher so drauf abfahren, wenn ein paar Leute Walzer tanzen.
Da kann ich nur Lessing in Nathan der Weise zitieren: "Nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab." Der Opernball ist ein Märchen für Erwachsene. Die Debütantinnen sind natürlich keine Jungfrauen. Der Frack-Zwang ist natürlich nur ein Schein, um das Bild einer geschlossenen Gesellschaft zu erhalten, obwohl es die Tickets im freien Verkauf gibt. Der Bundespräsident tritt als Nachfolger von Franz Joseph vor das Publikum, in dem solche Leute wie der Clown Lugner und der Verbrecher-Sohn Gaddafi sitzen. Nehmt es doch als das, was es ist: Es ist hübsch.

Genau wie bei der Etikette geht es auch hier um den Anschein von etwas.
Ja, aber wieso nicht? Man spielt eben einen Abend lang Etikette. Wissen Sie, vor kurzem war ich zu Stöckl eingeladen, um mit Claus Peymann über den Opernball zu diskutieren. Peymann hat mir daraufhin einen Brief geschrieben – einen selten dummen – und mir erklärt, er würde mich zwar sehr schätzen, aber nachdem er sich die letzte Opernball-Übertragung angesehen habe, könne er einfach nicht mit mir gemeinsam auftreten. Ich habe ihm geantwortet, dass ich zur Kenntnis nehme, wie sehr ihm vor dem Opernball graut – gar so gern habe ich ihn selbst auch nicht, obwohl ich ihn gerne veranstaltet habe –, aber dass der Opernball ganz einfach das für uns ist, was in München das Oktoberfest oder in Köln der Karneval ist.

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An sich bin ich da ganz bei Ihnen. Als Wrestling-Fan verstehe ich dieses "So tun als ob" ganz gut. Wrestling ist in gewisser Weise ja die Oper der Arbeiterklasse. Der Unterschied ist nur: Beim Opernball kauft man sich mit seinem Ticket Status – und die Leute glauben zumindest kurzzeitig wirklich daran. Wenn ich zum Wrestling gehe, weiß ich, dass die anderen spielen und ich derselbe bleibe.
Ich denke nicht, dass Lugner am Opernball glaubt, er wäre Prinz Philip.

Einen großen Unterschied zum Karneval gibt es aber schon. Der Karneval war ursprünglich eine Bewegung gegen die Besetzung Napoleons – während der Ball das Märchen von der Absoluten Monarchie erzählt, die den Ersten Weltkrieg zu verantworten hat.
Das ewige Habsburg-Bashing halte ich auch schon nicht mehr aus. Deutsche haben da leicht reden! Die sind noch wie Affen auf den Bäumen gesessen, da waren wir schon ein paar Hundert Jahre Monarchie. Als Deutschland 1871 Kaiserreich wurde, war es bei uns fast wieder zu Ende! Ich mach nur Spaß, bitte nicht abwertend verstehen. Man sollte nur aufhören, diesen Ball zu politisieren. Überall von Tokio über Istanbul bis Kuala Lumpur gibt es inzwischen Imitationen. Irgendwas muss also dran sein.

Die Deutschen haben leicht reden! Die seid noch wie Affen auf den Bäumen gesessen, da waren wir schon ein paar Hundert Jahre Monarchie.

Dann sagen Sie mir noch mal, was dran ist.
Der Opernball ist ein Märchen aus einer Zeit, die es nie gegeben hat. Er ist auch ein wichtiges Networking-Event – und der einzige Tag im Jahr, an dem die Oper positive Zahlen schreibt. Das sollte man nicht vergessen. Die Oper kostet sonst mehrere Hunderttausend Euro pro Tag.

Das alles sagt einiges über das Geschichtsverständnis der Wiener aus. Alles ist Inszenierung, vom Ball bis zu den Kaffeehäusern – ein Disneyland für Touristen.
Eine Anekdote bringt es für mich auf den Punkt: Der Besuch von König Hussein von Jordanien. Nachdem ich zum Abendessen eingeladen war, musste der König am Tag des Balls leider aus politischen Gründen schon wieder abreisen – nur waren da die Opernball-Zeitungen bereits gedruckt. Für den Boulevard war es ein totaler Zusammenbruch. Für den Ball war es völlig unerheblich. Danach habe ich sogar einen jordanischen Orden verliehen bekommen – für die Bewirtung von Hussein auf dem Ball, den er nie besucht hat. Er steht ebenfalls in meiner politischen Ecke; ich bin da Commander von irgendwas. So wie diesen Orden nehme ich den ganzen Opernball. Absurd, lustig, aber man sollte es auch nicht zu ernst nehmen. Im Übrigen habe ich für Bälle überhaupt nichts übrig. Beim Tanzen wird mir sofort schwindlig.

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