Popkultur

Wie es ist, wenn du einen Song hörst, aber nichts dabei spürst

Menschen mit musikalischer Anhedonie fühlen bei Musik gar nichts. Fünf Leute erzählen von ihrem Leben mit der Störung.
JG
London, GB
Die Illustration zeigt eine junge Frau, die bei Musik nichts empfindet
Illustration: Kim Cowie 

Songs sind die Filmmusik unseres Alltags, untermalen unseren Schmerz, unsere Freude, unseren Sex, unsere Partys und unsere Kater. Bei Musik völlig gleichgültig bleiben? Unvorstellbar. Aber geschätzte drei bis fünf Prozent der Weltbevölkerung sind von musikalischer Anhedonie betroffen: Diese Menschen fühlen absolut nichts, wenn sie Musik hören.

Um das zu verstehen, muss man sich anschauen, was im Gehirn von Musikfans passiert, wenn sie ihre Lieblingsstücke hören. "Die komplexen Tonfolgen verursachen viel Hirnaktivität", sagt Sophie Scott, eine Neurowissenschaftlerin am University College London. "Bei Liedern, zu denen man eine emotionale Verbindung hat, wird das Belohnungssystem im Gehirn gestartet. Es werden die gleichen Neurotransmitter ausgeschüttet, wie wenn man einen Preis gewinnt. Es erinnert also an die Freude, die Glücksspiel oder Drogenkonsum auslösen können. Aber: Das passiert nur bei Musik, die einem gefällt."

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Musikalische Anhedonie ist das Ausbleiben dieser Reaktion. "In einer Studie hat man Menschen mit Anhedonie Musik vorgespielt, und das Belohnungssystem blieb komplett untätig", sagt Scott. "Anders verhielt es sich, wenn sie beim Glücksspiel gewannen. Das Belohnungssystem funktioniert also, es wird bloß bei Musik nicht aktiviert." Stell dir vor, du hörst einen Song, der dir überhaupt nichts gibt. So geht es Menschen mit musikalischer Anhedonie bei allen Songs.

Einige Menschen sind seit ihrer Geburt von musikalischer Anhedonie betroffen, bei anderen ist sie eine Reaktion auf ein Trauma, oder ein Symptom von psychischen Krankheiten wie Depressionen. Anhedonie selbst sei keine Erkrankung, stellt Scott klar. Mit der Zeit kann sich die Anhedonie verändern, bei vielen bleibt sie dagegen für immer gleich. Manche Betroffene vermissen ihre emotionale Beziehung zur Musik, andere haben kein Problem damit. Wir haben mit Menschen gesprochen, die von musikalischer Anhedonie betroffen sind.

Westin: "Für viele Dates ist das ein Dealbreaker"

What it Feels Like to Get No Enjoyment From Muisc

Alle Fotos: privat

Mit Musik konnte ich noch nie wirklich was anfangen. Als Kind habe ich zusammen mit meiner Familie bestimmte Lieder im Radio mitgesungen, aber das fühlte sich immer gezwungen an. Kurz vor meinem Schulabschluss war mir dann egal, was andere Leute über mich dachten, und ich ging offener mit meiner Abneigung gegenüber Musik um.

Ich habe viel Genres ausprobiert, egal ob Country, Rap, EDM oder Metal. Es passiert immer das Gleiche: Einige Lieder gefallen mir wegen der guten Lyrics, aber die lese ich dann lieber separat wie ein Gedicht. Manchmal macht es mir auch Spaß, bei komplexen Orchester-Soundtracks bestimmte Instrumente rauszuhören. Dafür muss mir aber schon sehr langweilig sein.

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Ab und an habe ich das Gefühl, etwas zu verpassen. Es wäre bestimmt faszinierend, mal von harmonisierenden Tönen zum Weinen gebracht zu werden, aber eigentlich finde ich das sehr befremdlich. Ich habe meine Anhedonie akzeptiert. Was mich daran allerdings immer noch sehr stört: Für viele Menschen ist das ein Dealbreaker. Bei einigen meiner Dates lief es beispielsweise sehr gut, bis herauskam, dass ich keine Musik mag.

Matt: "Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinen Händen oder meinem Körper anstellen sollte"

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Ich bin in einem musikalischen Haushalt aufgewachsen. Mein Vater hat sein ganzes Leben lang in Bands Gitarre gespielt. Das hat mich immer gestört. Bei langen Autofahrten mussten wir immer schrecklichen Progressive Rock hören.

Zu meinem 18. Geburtstag schenkten mir meine Freunde ein Ticket zum Musikfestival Oxegen. Eigentlich wollte ich nicht hin, aber ich konnte das Geschenk nicht ablehnen. Bei dem Festival gefiel mir dann alles außer der Musik – und den Toiletten. Bei den Foo Fighters gingen meine Freunde dann richtig ab, während ich keine Ahnung hatte, was ich mit meinen Händen oder meinem Körper anstellen sollte. Ich fand das alles total lächerlich. Ein Typ hinter mir fragte mich, was mein Problem sei, weil ich mit verschränkten Armen dastand. Weil ich die Musik nicht mochte, fühlte ich mich einerseits wie ein Außenseiter, andererseits aber auch den Idioten da überlegen. Mir war nicht ganz klar, dass ich der Sonderling war.

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Mit 21 änderte sich alles. Ich leitete den Radiosender an meiner Uni und freundete mich mit dem Musikredakteur an. Ich fing an, seine Sendung zu hören, und plötzlich klickte es. Irgendwie normalisierte er Musik für mich. Ich kann jetzt fest von mir behaupten, Musik wirklich zu mögen.

Jeffrey: "Mich würde es eher nerven, immer etwas zu fühlen, wenn ich ein Lied höre"

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Erst mit 12 habe ich aktiv darüber nachgedacht, dass mir Musik nichts gibt. Weil man in den meisten sozialen Kreisen aber auch über Musik redet, habe ich mir die Lieblingsmusik anderer Leute trotzdem angehört. Spaß hatte ich dabei nie.

Ab und zu fand ich einen Song dann zumindest ein bisschen gut. Bis heute habe ich insgesamt 22 Songs entdeckt, die ich mir manchmal im Auto anhöre. Die meisten davon stammen aus Anime-Serien, Videospielen oder Filmen und kommen ohne Gesang aus. Man könnte wohl sagen, ich stehe auf epische Musik, die einen normalerweise voll pusht. Aber selbst da regt sich in mir nicht viel.


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Ich habe das Gefühl, durch die musikalische Anhedonie bei Freundschaften und in gesellschaftlichen Situationen etwas außen vor zu sein. Ich glaube aber nicht, dass ich etwas verpasse, nur weil ich auf Musik nicht emotional reagiere. Mich würde es eher nerven, immer etwas zu fühlen, wenn ich ein Lied höre. Das kommt mir eher wie ein Nachteil vor, denn Emotionen stören oft das Urteilsvermögen.

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Inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass ich Musik wohl nie so genießen kann wie andere Leute. Was mich aber immer noch stört: die soziale Isolation und Einsamkeit, die musikalische Anhedonie verursachen kann. Ich wünschte, musikalische Menschen würden nicht-musikalische Menschen besser akzeptieren.

Raluca: "'Stairway to Heaven' bringt dich zum Heulen? Ich bitte dich"

Mir ist erst mit Ende 20 wirklich aufgefallen, dass ich Musik nicht mag. Ich zog mit meinem Freund zusammen, er hörte ständig laut Musik, ich war immer richtig genervt. Alleine mache ich auch heute noch nie Musik an. Wenn wir deswegen stritten, gab ich aber immer die Lautstärke als Hauptproblem an. "Ich mag keine Musik", das klingt einfach zu komisch.

Ich glaube schon, dass ich da einen wichtigen Teil des Menschseins verpasse. Ich habe auch noch keine andere Person mit musikalischer Anhedonie kennengelernt. Ich rede aber nicht wirklich darüber. Immer wenn ich das Ganze vor anderen Leuten erwähne, wirke ich wie eine Spaßbremse oder wie jemand, der nicht intelligent oder cool genug ist, um die Genialität von Interpreten wie David Bowie zu erkennen. Auf intellektueller Ebene verstehe ich diese Genialität, nur emotional gesehen gibt sie mir nichts.

Mir ist schon klar, warum Menschen Musik lieben. Ich finde das auch voll OK. Aber wenn jemand ganz theatralisch sagt, dass er oder sie nicht ohne Musik leben könnte, finde ich das total aufgesetzt. "Stairway to Heaven" bringt dich zum Heulen? Ich bitte dich.

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Christopher: "Seitdem ich von Anhedonie betroffen bin, hat sich mein Denken verändert"

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Ich bin seit gut fünf Monaten von musikalischer Anhedonie betroffen. Es trat auf, nachdem ich Gras geraucht hatte, das entweder mit Pestiziden behandelt oder einfach zu stark war. Es ist richtig schlimm, dass meine Vinyl-Sammlung jetzt Staub ansetzt, weil ich meinen Plattenspieler kaum mehr benutze.

Zwar mache ich täglich Musik an, um zu schauen, ob sich in mir wieder etwas regt, aber da ist nichts – egal, wie gut die Songs sind. Ich will nicht mehr mitsingen, ich fühle mich selbst den Liedern mit dem größten nostalgischen Wert nicht mehr verbunden. Schon verrückt, was in unseren Gehirnen passieren kann. Das denke ich mir jetzt jedes Mal, wenn ich Musik höre und nichts spüre.

Zum Glück bereiten mir andere Dinge noch Freude, zum Beispiel ästhetisch ansprechende Schuhe. Ich betrachte das Ganze jetzt allerdings eher von einem logischen Standpunkt aus. Seitdem ich von Anhedonie betroffen bin, hat sich mein Denken verändert.

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