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Popkultur

Die Doku 'Searching Eva' beweist, dass Frauen nicht "angenehm" sein müssen

Eva Collé ist Autorin, Model, Sexarbeiterin – und Antiheldin einer Berlinale-Doku, die mittelalte Weiße Männer zur Weißglut treibt. Wir haben mit den Macherinnen des Films gesprochen.
Eva Collé in der Dokumentation 'Searching Eva'
Alle Fotos: 'Searching Eva' | Corso Film

Eine junge Frau sitzt nackt in einer Badewanne. Der Raum ist dunkel, die Wanne fast leer. "Ein Gesellschaftsspiel, das das Leben von einer Frau in unserem Jahrhundert darstellt", ertönt ihre Stimme aus dem Off, während sie unbewegt in die Kamera starrt. "Du würfelst und landest dann auf Feldern wie 'Manipulativer Freund – zahle 2.000 für eine Therapie, nachdem ihr Schluss gemacht habt' oder 'Sexuelle Nötigung – gehe fünf Schritte zurück', 'Schwangerschaft – setze zwei Runden aus', 'Essstörung – verliere zwei Lebenspunkte'. Du gewinnst, wenn du am Schluss noch lebst."

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Die Szene stammt aus dem Film Searching Eva, der im Rahmen der Berlinale Premiere feiert. Die Dokumentation, produziert von Corso Film in Zusammenarbeit mit VICE Studios, hat Eva Collé fünf Jahre lang durch die Höhen und Tiefen ihres Lebens begleitet. Von Drogenexzessen über intime Momente mit ihrem Freund bis zum Unterwäsche-Shooting mit ihrer Mutter. Die Italienerin ist Autorin, Model und Sexarbeiterin, teilt ihr Leben über Tumblr und Instagram mit der ganzen Welt – und wird dafür sowohl geliebt als auch verachtet.

Eva wurde mit diesem Namen nicht geboren, sie hat ihn sich selbst gegeben. Sie glaubt nicht an Fremdbestimmung, sie kreiert sich ihre eigene Realität. Und ist somit das menschgewordene Beispiel dafür, wie sich eine ganze Generation junger Frauen durch Selbstdarstellung im Internet ihre eigene Identität schaffen, abseits von sozialen Normen und sexistischen Rollenklischees. Wir haben mit Regisseurin Pia Hellenthal und Autorin und Creative Producer Giorgia Malatrasi über den intensiven Dreh gesprochen, der auch ihr Leben verändert hat.

VICE: Was hat euch so an Eva fasziniert?
Giorgia Malatrasi: Eva und ich kommen aus der gleichen Gegend in Italien und haben gemeinsame Freunde. Über ihre Facebook-Seite habe ich ihren Blog gefunden und war total fasziniert. Wie sie über ihren Körper und ihre Sexualität gesprochen hat, wirkte so, als wären das für sie einfach ganz normale Themen unter vielen. Sie hat über ihre Vulva genau so offen gesprochen wie darüber, sich mit jemandem zum Frühstücken zu treffen, mit einem Typen zu schlafen oder Drogen zu nehmen. Auf mich hat sie beinahe wie ein Alien gewirkt.

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Pia Hellenthal: Sie ist wie ein Spiegel, der deine Vorurteile und deine moralischen Vorstellungen auf dich zurückwirft. Das fanden wir spannend.

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Es gibt diese Szene, in der Eva sich mit einem ihrer Sugar Daddys trifft und Sex vor der Kamera hat. Da habe ich daran gezweifelt, ob das wirklich eine Dokumentation ist, oder der Typ in dem Fall nicht doch ein Schauspieler war. Wie habt ihr es geschafft, das auf Kamera zu kriegen?
Giorgia: Diese Frage wird uns immer wieder gestellt. Einer der Ebenen dieses Films ist, dass man sich immer wieder die Frage stellt: Ist das jetzt echt oder nicht? Auch wir wussten in vielen Situationen nicht, wie viel Inszenierung drinsteckt. Deswegen haben wir versucht, das so offen wie möglich zu halten.

Pia: Am Anfang des Films steht "Das hier ist ein Film" und "Das hier ist die Hauptfigur", und die Hauptfigur weiß auch, dass sie die Hauptfigur ist. Und ihr seid offensichtlich die Zuschauer, die das gucken. Jeder hat eine Rolle und es ist uns wichtig, dass ihr versteht, dass das Ganze ein Spiel ist. Es wird nie die Wahrheit sein, nur das, was du daraus machst.

In einer anderen Szene zieht Eva eine Heroinspritze auf. Hattet ihr beim Dreh in manchen Situationen nicht das Gefühl, dass ihr sie beschützen müsst? Und sei es, indem ihr manche Dinge in der Dokumentation einfach nicht zeigt?
Pia: Nein, nie. Sie ist so reflektiert und sich ihrer selbst bewusst, dass ich das Gefühl hatte, sie sei mir sowieso ständig einen Schritt voraus. Sie zu zensieren, hätte sich für mich angefühlt, als würde ich mich über sie stellen, als wäre ich schlauer als sie – was ich nicht bin. Es gab trotzdem Momente, in denen wir uns gefragt haben, wie viel Schmerz, wie viele traumatische Kindheitserfahrungen, wie viel Drogenkonsum wir in der Dokumentation zeigen können, ohne sie in ein psychologisches Drama kippen zu lassen.

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Giorgia: Es gab schon Momente, in denen ich mir Sorgen gemacht habe. Es gab Zeiten, in denen es ihr körperlich nicht so gut ging, aber da hat sie uns dann eben auch nicht getroffen. Sie hatte wirklich krasse Tiefs, da wäre es einfach zu viel für sie gewesen, auch noch drehen zu müssen.

Ihr zeigt Sex zwischen Eva und ihren Kunden und eine Nahaufnahme ihrer Vulva. Trotzdem wirkt das nie vorführend oder erniedrigend, eher respektvoll und bestärkend. Habt ihr euch vorher bewusst Gedanken darüber gemacht, wie so ein "Female Gaze" auf sexuelle Inhalte im Film aussehen könnte?
Pia: Wir haben viel darüber gesprochen, aber eher auf abstrakte Weise. Wir wollten Evas Geschichte nicht nur auf sie als Person herunterbrechen, was bisher mit vielen Geschichten über Frauen gemacht wurde. Natürlich brauchen wir Evas Geschichte für den Film, aber sie steht repräsentativ für andere Geschichten, andere Frauen. Es sagt etwas über den sozialen und kulturellen Kontext, in dem sie aufgewachsen ist. Nicht unbedingt etwas darüber, was ihr persönlicher Hintergrund ist. Was die Kamera angeht, haben wir das rein nach Bauchgefühl gemacht. Und wir hatten mit Yana Höhnerbach auch eine sehr gute Cutterin, die genau verstanden hat, was wir machen wollen.

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Giorgia: Wir wollten auf jeden Fall etwas anderes machen. Eva ist keine Heldin, eher eine Antiheldin. Sie ist keine angenehme Frau. Lasst uns also herausfinden, ob eine Antiheldin Leute anders berühren kann als das typische arme Mädchen, das ein schlimmes Leben hatte. Es wird Leute geben, die diesen Charakter nicht mögen. Und nach der Pressevorführung ist wirklich ein Weißer Typ mittleren Alters aufgestanden und war wahnsinnig wütend. "Es ist eine Schande, dass unsere Steuergelder dafür aufgewendet werden, so eine Scheiße zu produzieren. Das ist so narzisstisch!", meinte der.

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Pia: Es ist einfach, den Film in diese Schubladen zu stecken, weil du dich dann nicht damit auseinandersetzen musst, was sie sagt. Viele scheinen auf die Art von Film gehofft zu haben, die wir nicht machen wollen: "Das ist die echte Eva Collé hinter der Fassade, die sie auf ihrem Blog zeigt. Das hier ist die Geschichte dieser armen Prostituieren." Sie wollen einen Blick hinter den Vorhang werfen, quasi. Das kriegen sie nicht. Und das frustriert sie.

Giorgia: Mich nervt, dass die Leute glauben, Eva beurteilen zu dürfen. Urteile über die Regisseurin oder die anderen Leute, die am Film beteiligt waren. Aber das Mädchen hat doch nicht entschieden, was gezeigt wird und was nicht. Leute, die jetzt sagen "Das arme Mädchen!" oder "Sie ist krank!" verstehen überhaupt nicht, worum es uns geht.

Was sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer denn aus Searching Eva mitnehmen?
Pia: Wir haben im Film die Kommentare ihrer Follower eingeblendet. Sie stellen ihr die gleichen Fragen, die auch von den Zuschauern der Doku kommen: "Finden Männer es gut, dass du so dünn bist?", "Du hattest dieses Jahr ganz schön viele Sexpartner!", "Warum besorgst du dir keinen richtigen Job?" Wir haben das in den Film gepackt, um die Dynamik deutlich zu machen. Eine junge Frau zeigt, wer sie ist, und so reagiert die Gesellschaft darauf. Sie verurteilen sie für alles, was sie tut.

Was habt ihr während der Dreharbeiten über euch selbst gelernt?
Giorgia: Du brauchst von Außenstehenden keine Genehmigung, dich mit dir selbst wohlzufühlen. Eva ist dahingehend viel extremer als ich. Aber selbst ich in meiner kleinen, komfortablen Mittelschichtsposition habe gemerkt, dass ich viele Dinge nur deshalb akzeptiert habe, weil sie eben schon immer so waren. Erst wenn du sie wirklich hinterfragst, verstehst du, dass es keinen Grund gibt, Dinge weiter so zu machen. Nicht, dass ich das vorher nicht gewusst hätte. Aber sie hat mir vorgelebt, wie man zu sich selbst stehen kann – und dass das funktionieren kann.

Pia: Wenn du erst mal verstehst, dass jedes Leben um dich herum eine Erfindung ist, eine Konstruktion, und die Art, wie du dich selbst anguckst, auch nur eine Konstruktion ist – dann kannst du deinen Blick auf dich auch selbst konstruieren. Und dich von dem restlichen Scheiß einfach verabschieden.

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