Wofür brennst du, Claudia Gamon (NEOS)?
Foto: Christoph Schattleitner | VICE Media

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Schon wieder Wahlen!!!

Wofür brennst du, Claudia Gamon (NEOS)?

5 Stunden, 12 alkoholische Getränke und ein offenes Gespräch über den eigenen Frust, die kaputte Gesprächskultur und die zu wenig besprochenen Herausforderungen der österreichischen Politik.

Das ist der erste Beitrag aus unserer Reihe "Wofür brennst du?", in der wir uns mit interessanten Menschen betrinken. Mehr Gespräche mit Politikern und anderen folgen in Kürze.

Politische Interviews passieren leider viel zu oft nach dem gleichen Schema: Am Anfang eine provokante oder lustige Frage, dann zwei oder drei aktuelle Themen abklopfen, bevor es um Ablöse-Gerüchte, Koalitionsvarianten oder Wahlprognosen geht.

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Selbst, wenn man den Anspruch hat, ein anderes Interview zu führen (ich habe zum Beispiel einmal versucht, mit Richard Lugner ausschließlich über Politik zu reden), lässt das Setting nicht viel zu. Der Fragesteller hat 15, 30 oder maximal 60 Minuten Zeit und wird im Büro des Kandidaten vom Pressesprecher beobachtet, der auch immer brav pünktlich abbricht.

Kurz gesagt: Ein Interview ist selten das richtige Format, um herauszufinden, was einen Politiker wirklich bewegt. Diese Lücke wird hierzulande vor allem mit "Hintergrundgesprächen" gelöst – eine Art Pressekonferenz für auserwählte Journalisten, bei der nichts oder nur Bestimmtes veröffentlicht werden darf. Oder man unternimmt privat etwas, was natürlich nicht ganz unbedenklich ist. So ist laut Ö3 ÖVP-Chef Sebastian Kurz "mehrmals" mit profil-Chefredakteur Christian Rainer wandern gewesen, um sich – so Kurz – "bisschen tiefgehender unterhalten" zu können. Was dort genau besprochen wurde, wissen nur die beiden.

Die Transparenz-Box:
VICE hat alle jungen Politiker, die wahrscheinlich dem nächsten Nationalrat angehören, zu einem Gespräch in ihr Lieblingslokal geladen. Bis auf die FPÖ, die auf die Anfragen bisher nicht reagiert hat , haben alle Parlamentsparteien Interesse bekundet. Das erste Gespräch fand mit Claudia Gamon (28) statt, die seit zwei Jahren für die NEOS im Nationalrat sitzt. Gamon und der Autor folgen sich seit vielen Jahren auf Twitter, hatten aber noch keinen persönlichen Kontakt. Gamon forderte keine Freigabe des transkribierten und gekürzten Gesprächs.

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Ich schicke das voraus, weil ich nicht will, dass dieser Versuch falsch verstanden wird. Ja, ich gehe mit Politikern etwas trinken. Aber ich verheimliche weder das Treffen, noch den Inhalt. Wir wollen stattdessen den Hintergrund zum Vordergrund machen. Wir wollen gedanklichen Freiraum schaffen. Und ja, damit meinen wir Alkohol trinken. Und weil es kein klassisches Interview ist, sondern ein richtiges Gespräch, gibt es auch keine Einstiegsfrage.

Das Gespräch startet um 19:30 Uhr in der "Rundbar" im 7. Wiener Gemeindebezirk. Auch, wenn sie dort schon öfter abgestürzt sei, habe sie keine wirkliche Lieblingsbar, erklärt Gamon. Fotos: Christoph Schattleitner | VICE Media

Claudia Gamon: Besoffen Interviews zu geben, war eigentlich noch nie eine gute Idee.

VICE: Hast du das schon öfter gemacht?
Gamon: Nicht wirklich, aber bei unserem Einzug in den Nationalrat war ich am Abend ganz sicher nicht mehr nüchtern, und da hab ich einige Interviews gegeben.

Haha, keep it real. Ich habe mich aber ehrlich gesagt schon öfter zurückhalten müssen, nichts über NEOS-Chef Matthias Strolz zu twittern. Er ist oft unfreiwillig sehr komisch – zum Beispiel, wenn er versucht, Pizza zu essen und das Video davon auf Instagram stellt oder auf Facebook ein Foto postet, auf dem er mit nacktem Oberkörper in einem Flussbett steht.

Mich fragen viele Leute, ob der Strolz wirklich so ist. Ich weiß gar nicht, ob er unabsichtlich lustig ist. Er ist halt wirklich so. Ich mag das sehr. Der Matthias ist echt real.

"Wenn ich einen schlechten Tag habe und etwas vom Matthias Strolz sehe, geht's mir gleich besser."

Der ernstere Hintergrund der Frage: Ich finde es schwierig, dass er für seine Art – Stichwort Bäume umarmen – so viel auf den Deckel gekriegt hat.
Finde ich auch unfair. Wir regen uns immer darüber auf, dass Politiker immer nur in Phrasen reden und dass sie so aalglatt sind. Er ist halt ein echter Mensch. Zu mir wird hingegen oft gesagt, dass ich eine total zynische Person bin.

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Dank der Politik?
Immer schon. Das ist mein Naturell. Aber ich finde es toll, dass der Matthias immer so optimistisch ist. Er nimmt uns damit auch voll mit. Wir alle – die gesamte Politikblase – sind einfach wahnsinnig zynisch. Aber eigentlich hat der Matthias Recht. Wenn ich einen schlechten Tag habe und etwas vom Mat sehe, geht's mir gleich besser.

Matthias Strolz ist dein Thomas Brezina.
Haha, ja! Er sagt, unser Parteimotto ist "AWG – Alles wird gut". Egal, was passiert, er steht immer wie ein Fels in der Brandung da und sagt: "AWG". Mir hilft das persönlich sehr. Manchmal tut "AWG" gut.

"Ich habe viele Praxis-Beispiele dazu, aber die bringen mir halt auch den politischen Tod."

Was frustriert dich am Job?
Es wird immer beklagt, dass Politiker nie über Sachthemen reden. Mir kommt vor, ich mache das das ganze Jahr, aber es interessiert halt kein Schwein. Während der Legislaturperiode findet ja viel Ausschussarbeit statt. Dann versuchst du, davon etwas in Medien unterzubringen, damit die Leute auch wissen, was du tust, aber dann heißt's: "Sorry, das ist keine G'schicht." Vor allem bei wissenschaftspolitischen und frauenpolitischen Themen ist das oft der Fall.

Ein Soundbite aus dem Gespräch, in dem Gamon über ein "Grundproblem" – die medial übertriebene Verbreitung ihres Tweets im Vergleich zu ihrer parlamentarischen Arbeit – redet.

Da es ja ein Gespräch ist, kann ich dazu auch eine Perspektive beisteuern. Sachpolitik war bei den Medien, für die ich als Praktikant oder Freelancer tätig war, meistens etwas für die untere Rangordnung: "Der soll sich diesen Gesetzesvorschlag näher anschauen und wenn's spannend ist, schauen wir, ob wir's im Blatt unterbringen", heißt es dann in Richtung Praktikanten. Die großen Altredakteure schreiben dann Leitartikel zu Schwarz-Blau und solche Dinge. In anderen Ländern ist das nicht so stark ausgeprägt. Ich denke mir dann manchmal sogar: Vielleicht ist dieses "Grundproblem" sogar demokratiepolitisch relevant?
Ist es. In Österreich kommt noch das Thema Medienfinanzierung dazu. Ich glaub, es gibt niemanden, der ehrlich sagen kann, dass es gut ist, wie es jetzt ist. Ich glaube, dass bei der Presseförderung und Inseratenvergabe ein großer Hebel läge, um sachliche Berichterstattung zu fördern. Ich mein, sind wir uns ehrlich: Das ist vielerorts kein Zustand, wie das abläuft.

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Bitte erzähl uns davon!
Ja, weißt eh, das ist einfach schwierig. Ich habe viele Praxis-Beispiele dazu, aber die bringen mir halt auch den politischen Tod.

Von der anderen Perspektive aufgenommen; um 23:58 Uhr. Foto: twitter.com/dieGamon

Wir reden noch lange über Medienprobleme, die aber eher in die Kategorie "Interessiert nur ein paar Eingeweihte" fällt. Gamon glaubt jedenfalls, dass das Thema Inseratenvergabe nicht nur für Medien, sondern für die Gesellschaft relevant ist. Sie will das Medienförderungssystem strukturell ändern und mehr Steuergeld zur Verfügung stellen. Wir bestellen noch eine Runde Spritzer und Bier.

Ich frage mich öfter, ob wir über die richtigen Dinge reden. Aber ich verstehe auch, dass viele Leute bei zu komplexen Themen aussteigen. Du postet zum Beispiel viel über Pensionen. Da denk ich mir oft: "Das ist wahrscheinlich ein wichtiges Thema." Aber für die Details kann ich mich einfach nicht begeistern.
Pensionen sind kein politisches Rock'n'Roll. Aber man muss zwischen Nerd-Diskussionen – wie soll das Pensionssystem umgebaut werden – und dem grundsätzlichen Zugang – der Generationenvertrag geht sich nicht mehr aus, wir müssen jetzt etwas tun – unterscheiden. Letzteres findet schon Anklang.

Findest du nicht, dass Junge wie wir auf auf den Generationenvertrag vertrauen können sollten?
Es geht auch bei uns um Generationengerechtigkeit. Die Bundesausgaben für die Pensionen werden immer höher. Und irgendwann kann man schon sagen, dass man der Jugend das demokratische Recht nimmt, über ihre eigene Zukunft zu entscheiden. Unser Politikverständnis gebietet uns, auch Vorschläge zu machen, die länger wirken als eine Legislaturperiode. Wir finden das solidarische System ja gut. Aber, wenn wir es bewahren wollen, müssen wir etwas tun.

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"Pensionen sind kein politisches Rock'n'Roll."

Das heißt aber, dass mindestens eine Generation ins Schwarze schaut.
Nur, wenn du Arbeit als etwas Schlechtes siehst. Wir haben ein anderes Menschenbild: Arbeit ist keine Qual, in der Hoffnung so schnell wie möglich in Pension gehen zu können. Es ist etwas Erfüllendes. Wenn wir wollen, dass die Menschen unabhängiger von der Pension werden, müssen wir ihnen auch die Möglichkeit geben, sie zu erarbeiten. Die Anhebung des Pensionsantrittsalters für Frauen halte ich deshalb für keine Bestrafung, sondern für einen Vorteil: Sie zahlen mehr ein und bekommen mehr raus. Außerdem finde ich es schade, dass es in Österreich nur zwei, sehr unflexible Möglichkeiten gibt: Entweder bist du in Pension oder du arbeitest.

Ich versuche mehrmals, etwas einzuwerfen, aber Gamon ist on fire. Ich lasse sie weitermachen.

Es gibt wenige Bereiche, wo ich mich traue zu behaupten, wir haben die Wahrheit gepachtet. Aber, wenn jegliche Evidenz dafür spricht, dass etwas getan werden muss, glaube ich, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen werden. Und es ist leider so, dass das Thema allen Parteien wurscht ist. In der ÖVP hätten wir bei dem Thema zwar mehr Verbündete, aber die sind im Moment besonders still. Die reden gerade ungern über ihr Parteiprogramm. Und die SPÖ sagt Dinge wie: "Die NEOS wollen die Pensionen kürzen." Nein! Das ist ja fast schon intellektuell demütigend, wie sie sich dieser Debatte nähern.

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Wäre nicht das erste Mal, dass ihr euch falsch verstanden fühlt. Wenn ich an die "Wasser-Privatisierung" denke…
Wir sind in Österreich schon ein bissl …

Das ist das erste Mal, dass Gamon mehrere Sekunden lang um Worte ringt.

Sagen wir so: Vielleicht haben wir in Österreich das postfaktische Zeitalter erfunden. Weil du oft das Gefühl hast, dass es in der politischen Debatte nicht wirklich um Argumente geht. Und das, obwohl das wirklich notwendig wäre. Gerade bei so einem Thema wie der Pensionsreform geht es um viele Details. Da kann man natürlich eine andere Meinung haben. Aber dann reden wir doch bitte über die Details! Das regt mich einfach wahnsinnig auf. Da wird blockiert, weil man Angst hat, sich auf eine inhaltliche Debatte einzulassen. Da fehlt es bei manchen Leuten in vielen Parteien an der intellektuellen Redlichkeit, sachlich Argumente auszutauschen.

Wie gehst du damit um?
Wenn zum Beispiel Sebastian Kurz zu komplexen Dingen unkonkret ist, kann man nachfragen und versuchen, ihn dort festzunageln. Aber er gibt dir ja keine Antwort! Ich bin selber verzweifelt, weil ich keine Ahnung habe, wie ich damit umgehen soll. Das macht mich narrisch.

Ich höre das auch von Kollegen von anderen Medien. Die laufen der ÖVP seit Wochen nach und bekommen auf vieles keine konkrete Antwort.
Dabei hatte die ÖVP immer Politiker, die gern konkret werden. Schelling, Mahrer und besonders Mitterlehner, der mein Lieblingsminister war. Ich habe es geliebt, dass er einfach kein Pokerface hat. Im Wissenschaftsausschuss ist der Mitterlehner immer, wenn Andreas Karlsböck (FPÖ) gesprochen hat, in seiner Hand vor lauter Facepalm versunken. Klar, er war ein Kämmerer und Großkoalitionärer. Aber er hatte ein wirkliches Interesse, konstruktiv zu arbeiten. Im Moment ist da in der ÖVP niemand. Man hat einfach das Gefühl: Die wollen um jeden Preis Erster werden – wurscht, was bis dahin passiert.

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Wir diskutieren die Leistung der Regierung Kern-Mitterlehner. (Passend dazu hier unser Artikel: Warum Reinhold Mitterlehner unseren Respekt verdient.) Dabei driften wir in Koalitionsvarianten, um die es bei diesem Gespräch ausdrücklich nicht gehen soll, ab.

Gamon wünscht sich ein Ende der Zwei-Parteien-Koalition, weil sie das Grundübel der "österreichischen Logik" – das in zwei Farben geteilte Land – sei. Eine Dreier-Koalition würde den Parlamentarismus beleben; auch, wenn das "vielleicht naiv und utopisch" ist. Zwischendrin bestellt Gamon Aufstrichbrote und ich Pommes. Als Beilage gibt es Spritzer und Bier.

Du sagst, dass sich viele Politiker nichts Radikales und Konkretes mehr sagen trauen. Ist das eine selbstkritische Beobachtung?

Ich würde gerne konkreter sein. Aber wenn du dir ein paar Mal die Finger verbrennst, dann überlegst du dir halt, mit was du durchkommen willst. Und dann hältst du dich in anderen Punkten zurück. Du wirst auch kommunikativ voll darauf geschärft, dass das herauskommen soll, was du willst. Den Rest einfach nicht erwähnen. In Wahlkampfzeiten ist das noch einmal tragischer. Da bleibst du nur auf deiner Message sitzen. Eigentlich schade.

Wir seufzen und bestellen noch eine Runde. Vielleicht ist die Suderei auch übertrieben, aber als Politikerin sei der Zustand jedenfalls "unbefriedigend". Weil: "Eigentlich bräuchtest du zu jedem Thema eine Im Zentrum -Sendung", um ordentlich darüber diskutieren zu können. Und wer will das schon?

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Dann reden wir jetzt darüber. Was siehst du als große Herausforderungen, die für Österreich relevant sind? Und deckt sich das mit dem, worüber wir reden?
Das wichtigste Thema, das wenig diskutiert wird, ist leider ein Meta-Thema. Nämlich: Föderalismus, Finanzausgleich (Aufteilung der staatlichen Ausgaben auf Bund, Länder, Gemeinden, Anm.) und die Verwaltungsreform. Egal, welches Thema wir diskutieren, irgendwann kommen wir zur Frage, wie unser Staat an sich gebaut ist.

Du sagst, man hat bei anderen Themen keine Chance auf eine befriedigende Lösung, wenn man nicht zuerst den Staat an sich auf die Reihe kriegt?
Ja. Wir haben uns ein System geschaffen, das der Selbsterhaltung und der Verunmöglichung jeder Veränderung dient. Das wäre eine politische Jahrhundertleistung, wenn du diese Systematik einmal bekämpfen würdest. Das ist relevant und ein Thema, das nicht diskutiert wird.

"Es heißt, den Finanzausgleich verstehen nur sechs Leute in Österreich. Und ich glaube, dass diese Behauptung richtig ist."

Ich glaube schon, dass das diskutiert wird. "System aufbrechen" und eine "Dritte Republik schaffen" – das ist Jörg Haider pur.
Nein! Ich glaube, dass die Systemkritik bei der FPÖ eine reine PR-Phrase ist. Du siehst es ja, überall, wo die FPÖ sich eingenistet hat, trägt sie das System mit. Und ich muss dir schon auch widersprechen: Worüber wirklich nicht geredet wird, ist der Finanzausgleich. Es heißt, den Finanzausgleich verstehen nur sechs Leute in Österreich. Und ich glaube, dass diese Behauptung richtig ist. Ich habe mich damit im mega-zachen Rechnungshof-Ausschuss beschäftigt. Es ist wahnsinnig viel Materie und sehr tagungsintensiv. Ich hab mich da in den letzten zwei Jahren richtig rein getigert. Und ich habe mir oft gedacht, ich sehe nicht richtig. Das ist teilweise so absurd. Das ist eine vollkommen abstruse Logik aus so vielen unterschiedlichen, sich konterkarierenden Regelungen! Niemand blickt durch. Das hat überhaupt kein Ziel. Das ist fast schon politisch willkürlich.

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Was ist politisch willkürlich geregelt?
Es heißt, der Finanzausgleich ist aufgabenorientiert. Die Länder und Gemeinden bekommen also Geld für bestimmte Aufgaben. Aber das ist de facto nicht so. Wenn du willst, dass sich politisch etwas bewegt, muss einer der Hauptgrundsätze lauten: Eine Grundlage schaffen, damit die Entscheidungen wirklich auf der richtigen Ebene getroffen werden. Aber da nehmen sich SPÖ und ÖVP gegenseitig in Geiselhaft. Da wird sich nie etwas ändern.

Mal davon abgesehen – Finanzausgleich ist für Diskussionen so ziemlich das unsexyeste Thema, das es gibt.
Eh. Aber du hast gefragt, worüber man reden müsste. Das österreichische Grundübel ist die Form des Föderalismus und des Finanzausgleichs. Wenn du das nicht änderst, kommst du nicht dazu, eine funktionale Politik zu schaffen.

In der Folge sprechen wir darüber, woran der Finanzausgleich krankt und wie er verändert werden könnte. Beim Gegenlesen meinten meine Kollegen allerdings, dass dieser Abschnitt schwer zu verstehen ist und wahrscheinlich nur Nerds interessiert. Für diese gibt es den Finanzausgleichs-Talk hier als Hidden-Track.

Machen wir doch tabula rasa und nehmen an, es gäbe in Österreich noch kein einziges Gesetz.
Oi.

Wie würdest du den Föderalismus neu bauen?
Die Länder wären nicht mit gesetzgebender Kompetenz ausgestattet, sondern eine Verwaltungsbehörde. Das würde mehr Kompetenzen im Bund und vor allem den Gemeinden bringen, die viel näher am Bürger dran sind. Aber, wenn ich alles neu bauen könnte, würde ich mich nicht auf die österreichischen Bundesländer beschränken. Dann würde ich gleich alles neu bauen.

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"Allein, wenn ich das Wort höre, kriege ich einen Zustand. Das macht mich wirklich rasend!"

Wie würde das neue Europa aussehen?
Wir sind von der Idee der Vereinigten Staaten von Europa wieder abgekommen, weil das wieder etwas von den Mitgliedsstaaten nach unten geschaffenes gewesen wäre. Bei der Europäischen Republik hingegen kommt der Souverän von unten. Die Bürger Europas müssten sich in einem Verfassungskonvent dazu entscheiden, in einer Europäischen Republik leben zu wollen. Die Europäische Republik soll kein Wille der Staatsoberhäupter, sondern der EU-Bürger sein. In diesem Licht sieht der österreichische Verwaltungskrimskrams dann natürlich ganz anders aus.

Meinen Hinweis, dass die Europäische Union auch ein Demokratieproblem im Europäischen Rat und der Kommission hat, schiebt sie zustimmend zur Seite. Stattdessen reden wir über zu wenige emotionale Gründe bei den Pro-Europäern.

Unser Gespräch wird währenddessen immer emotionaler. Die Stimmen am Nebentisch nehme ich kaum noch wahr, der Kellner bringt per zustimmender Gestik eine Runde nach der anderen und wir legen einige Höflichkeiten ab ("Haha, du hast Schluckauf!" – "Geh' mal aufs Häusl, dann reden wir weiter"). Und auch unsere teilweise lallenden Stimmen sind viel lauter als noch vor ein paar Stunden.

Europa ist wahrscheinlich eins der wichtigsten Themen, die wir haben. Da krieg ich eine ernsthafte Leidenschaft dafür. Andere Dinge sind vielleicht eher etwas trocken. Wenn die ÖVP aber mit "EU-Ausländer" (statt "EU-Bürger", Anm.) kommt, kriege ich einen ernsthaften Grant. Allein, wenn ich das Wort höre, kriege ich einen Zustand. Das macht mich wirklich rasend!

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"Für die Entwicklung des ganzen Globus finde ich es wichtig, dass Europa eine relevante Stellung in der Welt einnimmt."

In dieser Debatte ist öfter von europäischen Werten die Rede. Gibt es diese Wertegemeinschaft?
Ja, uns zeichnet aus, dass wir die Werte der Aufklärung teilen. Ich glaube sogar, dass unser Lebensentwurf der westlichen, liberalen, europäischen Demokratie anderen überlegen ist. Für die Entwicklung des ganzen Globus finde ich es wichtig, dass Europa eine relevante Stellung in der Welt einnimmt. Wir müssen proaktiv in dieser Welt handeln – beim Klimawandel wie beim Freihandel. Die Fluchtbewegungen haben uns gezeigt, dass wir auf nationaler Ebene hilflos sind. Wir können diese Herausforderungen, die wir nicht gewohnt sind, nationalstaatlich lösen. Es wäre noch nie wichtiger gewesen, eine enge Union zu haben.

Keine Ahnung, wie wir von Europa auf Gott gekommen sind, aber wir schieben einen eher nerdigen Block zu Säkularismus sowie richtigen und falschen Exegese-Arten ein. Gamon, die das Anti-Kirchenprivilegien-Volksbegehren mitinitiiert hat, schwärmt gute zehn Minuten lang von einem Buch, das sie kürzlich gelesen hat: Islam and the Future of Tolerance von Sam Harris.

"Gibt es eigentlich eine Hitliste für die meisten Getränke?", fragt Gamon beim getrennten Zahlen (6 Bier vs. 6 Spritzer), "weil ich möchte gewinnen." Am Tag danach postet sie auf Instagram mit Smoothie in der Hand ein Bild: "Der Saft heißt 'Happy Hangover' und mehr muss ich dazu jetzt nicht sagen."

Wir haben jetzt viel über Dinge geredet, die eigentlich laut fast allen Experten geändert werden müssten, die aber in der Öffentlichkeit eher unbeliebt sind. Neben Pensionen und Finanzausgleich gibt es aber noch mehr solcher Themen. Drogenpolitik zum Beispiel. Jeder, der in SPÖ und ÖVP halbwegs rational denken kann, weiß, dass die aktuelle Drogenpolitik ein Scheiß ist.
Warum wird das nicht geändert, meinst du? Gute Frage.

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Ich meine damit nicht nur die Großparteien, sondern auch NEOS.
Wir sind die einzigen, die klar sagen: Wir sind für die Gras-Legalisierung. Die Grünen sagen das nur …

Ja, Gras! Das ist fast kronenzeitungstauglich.
Naja, ist so. Wir sind die einzigen, die – glaube ich – auch öffentlich dazu stehen. Als letztens Eva Glawischnig dazu befragt wurde, hat sie sich auch nur für Entkriminalisierung und nicht für Legalisierung ausgesprochen. Drogenpolitik ist halt auch wieder so ein Thema, das in Österreich von Moralvorstellungen geprägt ist. Da geht es darum, wie jemand gut oder schlecht zu leben hat und das passiert sicher nicht evidenzbasiert. Weil evidenzbasiert wäre … Also, da wäre die Versachlichung der Debatte eine ganz andere.

Du hast es gerade nicht ausgesprochen! Was wäre die evidenzbasierte Lösung?
Alle wissen, es hat negative Auswirkungen, wenn jemand abhängig ist.

Natürlich.
Es ist ja nicht so, als würden die Leute nicht wissen, dass Drogen ungesund sind. Die Frage, die sich für die Politik stellt, ist: Sollen wir es verbieten und damit das Problem ignorieren oder versuchen wir, die Zahl der Toten und Abhängigen zu reduzieren? Es gibt genügend Evidenz von anderen Ländern, die das mit einem Entkriminalisierungs- oder Legalisierungszugang gelöst haben. Dort gab es wesentlich weniger Drogentote und Drogenabhängige. Ich glaube, du verstehst, was unsere Position dazu ist.

Aber du sprichst sie nicht aus.
Ja. Aber du weißt warum. Weil dann übermorgen in der Kronen Zeitung steht …

Ja, genau! Danke, genau das ist es. Ich weiß, was eure Position ist, aber ich weiß auch, dass ihr sie nicht sagen könnt. Das macht mich fertig.

Gamon weißt mehrmals auf das eh liberale Positionspapier der JUNOS hin, das aber nicht Parteiposition ist.

Es ist also nicht Parteiposition, obwohl wahrscheinlich jeder bei NEOS so denkt.
Ja, gut. Wir wollen halt auch etwas ändern in dieser Welt. Wir müssen uns nicht mit Gewalt aus dem politischen Diskurs rauskicken. Wir wollen irgendwann ja auch die Ziele erreichen. Ich muss ja nicht mit Gewalt alles falsch machen. Im Nachhinein würden die Leute dann sagen: "Ma, sind die deppert! Warum kommen die überhaupt auf dieses Thema?" Das ist, was wir anders machen wollen als das LIF (Liberale Forum, Abspaltung von der FPÖ, Anm.) damals. Wir glauben, dass es richtig ist, was wir machen. Aber wir wollen auch politisch schlau sein.

Ihr wollt politisch überleben.
Nein, da geht's nicht um Überleben. Ich will die Dinge ja auch erreichen. Aber dafür muss ich auch gewählt werden. Dafür muss ich die Debatte auch aufbereiten. Wenn wir als liberale Partei damit anfangen, die Debatte langsam aufzumachen, dann ist das ein urlanger Weg. Und irgendwer muss damit anfangen. Und auch, wenn du sagst, das sehen eh alle so, dann muss ich dir sagen: Nein, in der breiten Bevölkerung sieht das nicht jeder so.

Ich habe gesagt: Alle bei NEOS.
Aber ich muss ja die Bevölkerung hinter mir haben, wenn ich etwas ändern will. Dafür muss ich gewählt sein.

Ja, schon. Aber grade vorher haben wir darüber gesprochen, dass Dinge geändert gehören, weil sie einfach rational und logisch sind.
Ja, aber to be fair: Wir sind ein Stück weiter als andere Parteien.

Wir diskutieren noch lange über kleinere Themen, die diesen Rahmen sprengen würden. Als wir ein zweites Mal auf das Strolz'sche "AWG" zurückkommen, sind wir uns einig, alles zumindest einmal besprochen zu haben. Es ist 00:23 Uhr und ich sage schon fast auf dem Weg nach draußen: "Ich bin echt betrunken." Gamon antwortet: "Ich auch."

Christoph auf Facebook und Twitter: @Schattleitner

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