Ich habe einen Tag als Sebastian Kurz gelebt
Alle Fotos: Christoph Liebentritt

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Österreich

Ich habe einen Tag als Sebastian Kurz gelebt

Ihr wolltet immer schon wissen, wie geil das Leben des neuen jungen österreichischen Kanzlers wirklich ist? Wir haben genau das für euch herausgefunden.

Laut einer fragwürdigen Zitateseite soll die Wissenschaftlerin Marie Curie einmal gesagt haben: "Was man zu verstehen gelernt hat, fürchtet man nicht mehr." Dieses möglicherweise erfundene Zitat finde ich gleichermaßen inspirierend und furchteinflößend – und vor allem passt es zu dem Experiment, das mir bevorsteht: Ich möchte Sebastian Kurz werden, um ihn zu verstehen. Ich schicke ein Stoßgebet und wünsche mir, nicht wie Marie Curie an meiner Neugier zu sterben.

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Endlich ist mein großer Tag gekommen, mein Tag als Basti, auf den ich mich intensiv vorbereitet habe, indem ich vollkommen nichtssagende Interviews mit Sebastian Kurz durchforstet habe, in denen er erklärt, dass er gerne viel Wasser trinkt und gesund isst. Heute ist der Tag, an dem ich das Geilo-Feeling und den Rich-Kid-Look endlich mit jeder Faser meines Körpers leben darf. Oder um es in Filmtiteln zu sagen: Im Körper des Feindes, Freaky Friday, Angriff der Körperfresser.

Als am Morgen mein Wecker klingelt, fühle ich mich zu Höchstleistungen motiviert. Ich frage mich, was ich heute für mein Land tun kann, und hoffe, dass mir Bastis Lieblingsmusik die nötige Inspiration verschafft: Rock! Obwohl ich nicht glauben kann, dass Sebastian Kurz Rock hört und nicht "Alles, was es im Radio spielt", beschließe ich, dass die Spotify-Playlist "Rock Party" mein Begleiter für den heutigen Tag sein wird. Ich drücke auf Shuffle und in meiner Wohnung ertönt "Personal Jesus" von Depeche Mode. Reach out and Touch Faith! Ich starte gottgleich in den Tag und bin für alle Herausforderungen bereit, obwohl ich auf meinen sehr wichtigen morgendlichen Kaffee verzichten muss, weil Sebastian Kurz keinen Kaffee trinkt. Auch schönsaufen darf ich mir den Tag nicht: Laut Alexander Van der Bellen ist Kurz nämlich "ein irritierender junger Mann, der kaum Alkohol trinkt."

Eines der wichtigsten Projekte des bevorstehenden Tages: die Frisur. Ich verteile großzügig Haarwachs und Haarspray auf meinem Kopf, bis sich meine Haare nicht mehr bewegen und zu einer einheitlichen, braunen Masse verschmelzen. Zufall?

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Mindestsicherung gekürzt, Rauchverbot gekippt, Studiengebühren eingeführt – die Frisur hält, ihr unterprivilegierten Würmer!

Die Entstehung meiner Sebastian-Kurz-Gedenkfrisur

Als Outfit wähle ich ein hellblaues Hemd von Ralph Lauren, der oberste Knopf bleibt dabei selbstverständlich ganz leger offen. Denn heute möchte ich äußerlich mindestens so hip, jung und frech sein, wie Sebastian Kurz tief in seinem Inneren ein konservativer, alter Sack ist. Ich drücke den "Immigrant Song" von Led Zeppelin weg, weil mir der Songtitel nicht besonders zusagt, und die "Rock Party"-Playlist gibt mir genau den Song, den ich brauche, um mein Motivationslevel zu halten: "Last Resort" von Papa Roach. Ich bin ein bisschen aggressiv, aber dennoch gut gelaunt.

Als ich mich von meiner Wohnung, die im fünften Bezirk liegt, auf den Weg ins Büro mache, um wichtige, staatsmännische Arbeit zu verrichten, werfe ich einen wehmütigen Blick über den Gürtel: Das schöne Meidling! So schön war Sebastians Kindheit hier in Meidling. So schön, dass er es gerne und sehr oft erwähnt. Ich schwelge kurz in nostalgischen Gedanken an Marillenknödel und Meerschweinchen, aber sie werden unterbrochen vom Text des Songs, den ich gerade höre:

I'm just a Sucker with no Self Esteem!

Rock on, Basti!

Die Worte holen mich für einen kurzen Moment zurück auf den Boden der Tatsachen, ich fühle mich in meiner Rolle als Sebastian Kurz besonders angesprochen davon. Als ich im Büro ankomme, erwartet mich schon unser Bürohund Lila, um mich wieder aufzubauen, und weiß nicht, was auf sie zukommt. Sie denkt seit Jahren, ich würde sie lieben. Dass meine Zuneigung zu flauschigen Tieren jedoch nur ein PR-Gag ist, um die Tierliebe rechter Wähler anzusprechen, die mehr Mitleid für gequälte Tiere als für erwachsene Menschen, die misshandelt werden, übrig haben, ahnt sie nicht.

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Was sie ebenfalls nicht ahnt: Sebastian Kurz ist ein Katzenmensch. Zumindest hat er das 2011 in einem kryptischen Tweet anklingen lassen. Ich stelle mir vor, dass er es einfach angenehmer findet, sich in seiner Freizeit mit Katzen zu umgeben, denn Hunde, die jedem seiner Worte gehorchen, langweilen ihn. In seiner Funktion als Politiker ist er ohnehin schon von genug hörigen Arschkriechern umgeben. Weil er Hunde also eigentlich hasst, sie aber nach außen hin lieben muss, macht es ihm in meiner Vorstellung großen Spaß, seine Poser-Bilder mit Hunden subtil so aussehen zu lassen, als würde er die Tiere würgen – eine Taktik, die nur Beobachtern mit geschultem Auge auffällt.

sad! (Bei diesen Aufnahmen ist kein Hund zu Schaden gekommen)

Was ihn wahrscheinlich auch schon seit längerem quält, ist sein noch immer nicht beendetes Jus-Studium. Mittlerweile haben alle seine ehemaligen Studienfreunde ihren Abschluss, die AG ist auch nicht mehr das, was sie einmal war (zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung). Aber was bin ich wert in einem Land, in dem es nur noch um Leistung geht? Ein Land, in dem mich täglich schlechte Memes darüber erreichen, dass Money Boy einen höheren Abschluss hat als der Bundeskanzler, ist nicht das Land, in dem ich leben möchte.

Ich ärgere mich. Warum hat Kurz nicht erst fertig studiert, und dann die Einführung von Studiengebühren vorangetrieben? Heute habe ich mir jedenfalls vorgenommen, mich für ihn bei der Uni schlau zu machen, welche Kurse er anrechnen lassen kann und wie viel es kostet, Prüfungen und Arbeiten von jemand anderem schreiben zu lassen. "Vielleicht hat Ednan Aslan da passende Kontakte für mich", denke ich unvermittelt. Ich schreibe mir eine Notiz und hoffe, Florian Klenk bekommt nichts davon mit.

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Nach Erledigung meiner akademischen Pflichten nehme ich mir vor, meine öffentlichen Auftritte zu üben. Ich will verstehen, wie ich bei den Menschen ankomme und dementsprechend an meiner Körpersprache arbeiten. Deswegen übe ich eine der schwierigsten Posen: den Geilomobil-Handtwist. Mit durchgestrecktem Arm stütze ich mich auf mein aufgestelltes Bein und verdrehe mein Handgelenk bis zum Anschlag. Ich bin glücklich, dass ich mir bei diesem Teil meines Tages nichts gebrochen habe, und verdrehe meine Hand wie das Exorzisten-Mädchen ihren Kopf, ich winde sie wie … Sebastian Kurz sich selbst bei kritischen Fragen.

War mindestens so gemütlich, wie es aussieht.

Und wenn wir schon bei den Themen Flexibilität und Außenwirkung sind: Mir fällt ein, dass ich meine sozialmediale Präsenz pflegen muss. Ich muss dem Follower-Volk geben, was es will: widersprüchliche Aussagen, die genau das Gegenteil von einem Tweet sind, den ich schon mal gepostet habe. Ich hoffe, dass es niemand merkt, und entscheide mich für ein wichtiges und für Österreicher emotionales Thema: Leberkäse.

Vor Jahren habe ich eine Lobeshymne auf Leberkas-Pepi geschrieben und gespürt, wie groß die Leberkäse-Liebe in diesem Land ist. Was passiert also, wenn ich heute poste, dass Leberkäse das Letzte ist? Dass diese göttliche Speise Österreich zerstört? Wird Leberkäse bald abgeschafft, genauso wie der Nikolaus, das Christkind oder Schweinefleisch in Kindergärten? Wenn es nach meinem neuen Ich geht: Ja! Leberkäse raus aus Österreich!

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Die Reaktionen meiner Follower bewegen sich irgendwo zwischen bestürzt und ungläubig, das Internet vergisst nie. Ich nehme mir kurz Zeit, um das Feedback zu verarbeiten, denn auch ich habe eine verletzliche Seite. Kritische Kommentare treffen mich.

Ich frage mich, was Sebastian Kurz tun würde und finde die weltbewegende Antwort in diesem Interview: Sebastian Kurz tankt gerne Kraft bei Freunden und Familie. Also schreibe ich meiner Mama eine verzweifelte Nachricht und lasse mich von ihr trösten:

Dank der aufbauenden Worte meiner Mutter und der dröhnenden Rock Party in meinen Ohren komme ich über das #Leberkäse-Gate hinweg und gehe über zum nächsten Programmpunkt: In diesem Interview sagt Sebastian Kurz auf die Frage, was er gerne lernen würde, wenn er Zeit dafür hätte, dass er sich in der Schule immer sehr für Geschichte interessiert hat und sein Wissen auf diesem Gebiet gerne noch vertiefen würde. Ich bin schockiert von so viel Ehrlichkeit und Mut zur Selbstkritik und gebe dem Wunsch, Geschichte zu lernen, nach. Ich channele meinen inneren Basti und spüre, dass es sich um einen Härtefall handelt – einen jungen Menschen, bei dem von "vertiefen" noch keine Rede sein kann. Hier mangelt es an den Basics. Also google ich "Rechtspopulismus", klicke auf den Wikipedia-Beitrag zum Thema und beginne interessiert zu lesen.

Laut Wikipedia wenden sich rechtspopulistische Parteien besonders gerne gegen Einwanderer aus als "fremd" bezeichneten Kulturkreisen, die EU oder die regierenden Parteien. Sie fordern außerdem eine leistungsorientierte Gesellschaftsordnung, das Bekenntnis zum christlichen Abendland, verbunden mit Islamfeindlichkeit und einer "Law and Order"-Politik. Ich kontrolliere kurz, ob ich hier nicht doch aus Versehen meine eigenen Notizen durchlese und kann nicht fassen, was ich hier vor mir sehe. Und plötzlich realisiere ich, dass ich hier nicht nur Geschichte lese, sondern Geschichte schreibe. Aus meinen Lautsprechern tönt "Smooth Criminal" von Alien Ant Farm – "das billige Cover eines Welthits", denke ich, und sehe meinen guten Freund Heinz-Christian Strache vor meinem inneren Auge.

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Gesundes Essen, Wasser und Geschichte-Nachhilfe. Das macht so Spaß hier!

Da Clean-Eating-Icon Sebastian Kurz also weder Alkohol noch Kaffee trinkt, und sehr gerne gesund isst, dresche ich mir nach dieser Erkenntnis mehrere Liter Wasser und eine frische Banane in den Korpus. Im Bildschirm meines Laptops spiegelt sich mein junges, faltenfreies Gesicht, ich kontrolliere meine mittlerweile eher aus der Form geratene, Trump-eske Frisur.

Ich sehe mich selbst an, den strammen Millennial-Kanzler, das Mannskind, den Wunderwuzzi. Ich habe es geschafft, mich zu fühlen wie Sebastian Kurz: leer. Ich fühle mich bis in die letzte Faser basic, ich bin ein leeres, Rock hörendes Blatt Papier, das nur darauf wartet, dass jemand "Balkanroute schließen!" darauf schreibt.

Und plötzlich kommt es in mir hoch wie Kotze nach dem sechsten Jägermeister im U4: Es ist Zeit für Neues. Tun, was richtig ist. Jetzt oder nie. Kurz' Wahlslogans passen plötzlich wie die Faust aufs Auge. Denn das einzige, was an diesem Punkt noch richtig ist, ist dieses Experiment zu beenden, und in mein richtiges Leben zurückzukehren, in dem ich Kaffee trinken, gute Musik hören, einen Scheitel haben und jemand anderes als Sebastian Kurz sein darf.

Als ich mir am Abend das viele Wachs mit Zweifach-Wäsche aus den Haaren wasche, denke ich, wie schön und befreiend es war, Sebastian Kurz einen Tag lang nicht ernst zu nehmen und mich auf seine langweiligen, aalglatten Interview-Antworten zu konzentrieren. Dass das nicht die Dinge sind, die man an Sebastian Kurz kritisieren soll und muss, ist selbstredend. Aber um die Dinge nicht mehr zu fürchten, muss man sie nicht nur verstehen, sondern sich auch hin und wieder über sie lustig machen.

Verena auf Twitter: @verenabgnr

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