Obdachlose erklären, welche Probleme ihnen der Sommer bereitet
Schlafen bei 30 Grad, aber im Schlafsack || Alle Fotos: Rebecca Rütten

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Hitzewelle

Obdachlose erklären, welche Probleme ihnen der Sommer bereitet

Und wie du helfen kannst.

Der Schweißgeruch einer bayerischen Oberstufe vermischt sich mit dem gehetzter Studierender und gelangweilt dreinschauender Einzelhandelsverkäufer. Feuchte Körper pressen bei 30 Grad in der S-Bahn aneinander, Hunde hecheln laut. Die morgendliche Dusche ist erst ein Stunde her – das Deo "mit 24-stündigen Frischegefühl" hält keine 24 Minuten. Während einige jetzt wehleidige Stories auf Instagram posten, stehen andere Menschen seit Stunden geduldig in der jetzt schon prallen Morgensonne vor dem Hygienecenter am Zoologischen Garten an. Sie warten darauf, aufs Klo gehen zu können, sich Glieder und Gesicht schrubben zu können.

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Was Menschen mit einem Einkommen und einem festen Wohnsitz nur von Festivals kennen, erleben Obdachlose jeden Tag. Im Sommer läuft keiner von ihnen Gefahr, auf der Straße zu erfrieren, aber doch ist es für die meisten von ihnen ein alltäglicher Kampf, einfachste Grundbedürfnisse zu stillen. Das Hygienecenter der Bahnhofsmission ist einer der wenigen Orte für Obdachlose, an denen sie im Sommer kostenlos duschen gehen können.

Wir haben Berlins obdachlose Menschen und diejenigen, die ihnen tagtäglich helfen, gefragt, welche Probleme ihnen Sonne, Hitze und Mitmenschen sonst noch bereiten.

Patrick, 23

Als wir Patrick antreffen, wartet er darauf, duschen zu können. Der 23-Jährige ist wohnungslos, landet seit Jahren immer wieder auf der Straße. Für 30 Grad ist Patrick ungewöhnlich dick angezogen.

VICE: Warum trägst du so viele Sachen mit dir bei der Hitze?
Patrick: Wenn ich nicht alles dabei habe, sind die Sachen weg. Im Sommer wird mehr geklaut, da mehr Leute auf der Straße sind. Vor ein paar Tagen bin ich mitten in der Nacht wach geworden und habe bemerkt, dass jemand meine Hand-Schiene geklaut hat – während ich schlief. Die hatte ich an, weil mein Finger gebrochenen ist.

Aber warum trägst du deine Jacke und eine lange Hose?
Ich habe momentan wieder Probleme mit meiner Sonnenallergie, deswegen trage ich auch meine Jacke. [Er zeigt seine offenen Wunden an den Armen und Händen.] Trotzdem schlafe ich lieber draußen als in den Unterkünften, egal ob im Sommer oder Winter: Dort ist es nie geil.

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Die Krankenschwester Sylvia Muhieddine ist ehrenamtliche Helferin bei der Berliner Obdachlosenhilfe:

"Da die meisten Notunterkünfte in Berlin außerhalb des Winters geschlossen haben, wird ihnen nicht nur der Schlafplatz genommen, sondern auch die Möglichkeit, ihre primitivsten Bedürfnisse zu befriedigen. Verhungern oder -dursten muss in Berlin jedoch keiner. Trinkwasserangebote und Essen gibt es genug. Die größere Schwierigkeit ist die Körperpflege. Deo, Duschgel, Sonnencreme: Produkte, die unsere täglichen Drogeriemarkt-Gelüste befriedigen, sind für Obdachlose nicht selbstverständlich und helfen ihnen ungemein. Doch im Sommer gehen die Spenden zurück. Dabei werden jetzt Basics wie leichte Klamotten benötigt. Oft laufen deswegen die Obdachlosen auch noch bei den hohen Temperaturen in ihren Mänteln herum. Für manche sind sie das Einzige, das sie besitzen."


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Anja, 31

Anja kommt fast jeden Tag in die Mission. Hier ist sie eine alte Bekannte, nicht nur bei den Mitarbeitern der Mission, sondern auch unter den Obdachlosen: Schon mit elf sei sie von zu Hause abgehauen.

VICE: Welche Probleme hast du im Sommer?
Anja: Im Sommer ist es schwieriger, einen Schlafplatz zu finden, da uns das Ordnungsamt aus den Parks und von der Straße wegjagt. Ich penne mit meinem Freund im Tiergarten – da werden wir wenigstens gewarnt, wenn das Ordnungsamt frühmorgens an den Schlafplätzen auftaucht. Nachdem wir aufgestanden sind, verstecken wir unsere Sachen, sonst werden die geklaut. Ein anderes Problem ist der Sommerregen, teilweise werden die Sachen klatschnass. Aber wo sollen wir die zum Trocknen hintun?

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Was würde dir im Sommer helfen?
Ein paar leichte Klamotten. Davon habe ich zu wenig. Außerdem wäre mal 'ne Cola ganz nett. Aber eigentlich bin ich ganz zufrieden.

Nach unterschiedlichen Schätzungen gibt es 40.000 wohnungslose Menschen in Berlin, 4.000 bis 6.000 sind obdachlos. Für sie gibt es 1.100 Schlafplätze, allerdings nur von November bis März, im Sommer schrumpft ihre Zahl auf 150 Plätze. Regina Kneiding, die Sprecherin der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales:

"Wir wollen die Zahl der obdachlosen und wohnungslosen Menschen senken und die Hilfsangebote stärker an individuelle Bedürfnisse anpassen. Die Zahl an Schlafmöglichkeiten soll auf 1.500 Plätze ausgebaut werden und von Oktober bis April gehen. Es wurde noch nie so viel gemacht wie jetzt – die Gelder haben sich beinahe verdoppelt." [Anm. d. Red.: Der Berliner Senat hat die Mittel für Wohnungslose für 2018 um 3,9 Millionen Euro auf 8,1 Millionen Euro erhöht.]

Helga, 60

Im Schatten des Bahnhofseingangs trinkt Helga Weißwein aus dem Plastikbecher. Eigentlich müsste sie dort nicht sitzen, denn die 60-Jährige hat seit Kurzem wieder eine Wohnung in Marzahn. Sie ist trotzdem jeden Tag an der Bahnhofsmission, um nicht allein zu sein. Ihr Mann starb vor fünf Jahren, ihre Freunde und Freundinnen leben noch auf der Straße.

VICE: Was ist anders im Sommer auf der Straße als im Winter?
Helga: Im Sommer hat man es zwar warm – doch auch dann brauchen die Menschen Schlafplätze. Die fehlen. Doch wir helfen uns gegenseitig. Das ist das Wichtigste. Was mich ankotzt, sind die ganzen Leute, die hier im Brückentunnel schlafen und ihren Dreck hinterlassen. Das passiert viel mehr im Sommer.

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Der Neuropsychologe Dr. Jens Fleischhut war früher Dozent an der Freien Universität, heute betreut er jede Woche für ein paar Stunden die Gäste der Bahnhofsmission:

"Im Sommer haben es die Obdachlosen auf keinen Fall einfacher. Ihre Probleme haben sich nur verlagert. Das Kummerlevel ist jetzt viel höher, da bei vielen Sommerdepressionen ausgelöst werden. Im Winter geht es mehr um das stumpfe Überleben, seelisch kapseln sich da viele von ihren Emotionen ab. Im Sommer sagt die Seele: ‘Hallo, ich bin auch noch da.’ Die Sinne nehmen viel mehr wahr, Gerüche in der Natur rufen schöne Erinnerungen aus der Kindheit hervor. Das Leid und das Bewusstsein, dass sie etwas verloren haben, wird den Menschen bewusster. Damit sie nicht so tief in diesem saisonalen Stimmungstief drin hängen, biete ich ihnen die Lebensberatung an."

"Das Kummerlevel ist im Sommer viel höher", sagt Dr. Fleischhut

Wenn du helfen möchtest, kannst du der Bahnhofsmission spenden oder obdachlosen Menschen selbst folgende Sachen anbieten, die ihnen am schnellsten helfen: Wasser; Hygieneartikeln wie Sonnencreme, Deo und Feuchttücher; Kopfbedeckungen wie Basecaps und Tücher; Fächer.

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