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Gewalt im Flüchtlingsheim

Ein Wächter im Flüchtlingsheim erzählt, wie seine Arbeit tatsächlich ist

Ein Flüchtling sagte: "Ich will zurück nach Syrien, da war alles besser."

Sie fliehen vor Giftgasanschlägen aus Syrien, vor fallenden Bomben in Afghanistan oder versteckten Minen in Eritrea. In sechs Jahren Bürgerkrieg sind rund eine halbe Million Syrer gestorben, fünf Millionen sind aus dem Land geflohen. Was diese Menschen suchen: Sicherheit. Was sie in Deutschland häufig vorfinden: Gewalt in der Flüchtlingsunterkunft.

Im vergangenen Jahr verübten Rechtsextreme 857 Angriffe auf Flüchtlingsheime. In Berlin-Neukölln zerschossen sie mit Luftdruckpistolen die Fensterscheiben einer Unterkunft. In Augsburg zündeten Täter ein Flüchtlingsheim an und in Berlin-Marzahn prangte eines Morgens ein Hakenkreuz an der Mauer der Unterkunft.

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Auch untereinander geraten die Flüchtlinge aneinander. 39.400 Straftaten stellte das BKA 2016 in Flüchtlingsunterkünften fest, darunter Körperverletzung, Diebstahl, sexuelle Belästigung.

Das Wachpersonal sollte eigentlich für die Sicherheit der Flüchtlinge sorgen. In Einzelfällen heuerten jedoch Gewalttäter in Sicherheitsfirmen ein – wie in Burbach, wo 2014 Wachleute Flüchtlinge misshandelten und ihre Taten filmten.


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Wie kann so etwas passieren? Wie gefährdet sind Flüchtlinge in Unterkünften? Und wer möchte unter diesen Umständen freiwillig als Wächter im Flüchtlingsheim arbeiten?

Sam Yassin, 41, arbeitet bei einer Sicherheitsfirma und war Wächter in einem Flüchtlingsheim in Augsburg, das vor Kurzem geschlossen wurde, weil die Flüchtlinge in eigenen Wohnungen untergebracht werden konnten. Als Sam fünf Jahre alt war, floh seine Mutter mit ihm und seinem Bruder vor dem Krieg im Libanon nach Karlshorst in Ostberlin. Sie war Deutsche, Sams Vater Palästinenser. Er musste in der Armee bleiben und konnte erst zwei Jahre später nachkommen.

In Deutschland lebte Sam zunächst in Ostberlin bei seinen Großeltern, bis die Mutter eine Bleibe im Westen fand. Nach der Schule arbeitete er auf Baustellen. Vor zwei Jahren nahm er den Job als Flüchtlingswächter in Augsburg an. In dem Heim – einer ehemaligen Wäscherei – lebten 100 Männer zwischen 18 und 40 Jahren zusammen.

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Sam arbeitet mittlerweile als Sicherheitsbeauftragter im Jobcenter. Dort trifft er viele Flüchtlinge wieder | Foto: Sam Yassin

VICE: Was hast du gedacht, als du von den Misshandlungen durch Wächter in Burbach erfahren hast?
Sam Yassin: Ich finde das schrecklich. Diese Wächter sind für mich keine Sicherheitsbeamten. So wie die sich verhalten, könnte man doch Flüchtlinge gleich besser in einen Käfig sperren und mit dem Stock reinhauen. Die Flüchtlinge kommen traumatisiert an, da sollte man sensibel reagieren.

Warum werden Flüchtlingswächter gewalttätig?
Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht sind sie überfordert. Es gibt schon Situationen, in denen plötzlich 20 Flüchtlinge auf einen einreden. Aber gerade dann sollten sie ruhig bleiben, nachfragen und versuchen zu verstehen, anstatt zuzuschlagen.

Wie bist du dazu gekommen, im Flüchtlingsheim zu arbeiten?
Ich habe vorher in Berlin auf dem Bau gearbeitet. Bis vor fünf Jahren, da kam ich mit einem Freund für ein Bauprojekt nach Augsburg. Am Ende des Projektes blieben wir hier. Mein Freund hat ein Tattoo-Studio aufgemacht. Eine Bekannte sagte mir, dass SIS – die Sicherheitsfirma – Mitarbeiter sucht. Ich wollte im Flüchtlingsheim Menschen helfen, die ein ähnliches Schicksal hatten wie ich. Also bewarb ich mich und besuchte einen sechsmonatigen Kurs, der mich auf die Arbeit als Wachmann vorbereiten sollte.

Wie sieht der Arbeitsalltag eines Flüchtlingswächters aus?
Wir arbeiten je zu zweit in zwei 12-Stunden-Schichten. Die eine beginnt um acht Uhr morgens, die andere um acht Uhr abends. Bei Schichtwechsel sprechen wir uns kurz ab: Was ist passiert? Steht noch etwas an? Hauptsächlich sind wir natürlich für die Sicherheit verantwortlich. Wenn Besucher in die Unterkunft kommen, dann müssen sie sich vorher bei uns melden und wir durchsuchen ihre Taschen. Auf der anderen Seite achten wir darauf, dass kein Streit unter den Flüchtlingen ausbricht. Daneben gibt es noch kleine Aufgaben: Wir verteilen Post, tauschen Glühbirnen aus oder putzen gemeinsam mit den Flüchtlingen. Dieser zwischenmenschliche Teil unterscheidet den Job im Flüchtlingsheim von anderen Security-Aufgaben. Manchmal fühle ich mich eher wie ein Sozialarbeiter.

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Beeinflusst du das Leben der Flüchtlinge?
Ja, ich denke schon. Die Flüchtlinge nennen mich "Sam Bruder". Weil ich ihre Sprache spreche und Krieg erlebt habe. Deswegen bin ich die erste Bezugsperson. Ich höre zu, sage ihnen, dass die Angst, die Bilder im Kopf, vergehen werden. Ich helfe ihnen mit den Unterlagen beim Arbeitsamt oder mit den Hausaufgaben im Deutschkurs. Wenn sie Fortschritte machen, lobe ich sie. Das ermutigt. Leider gibt es aber auch die Flüchtlinge, die zu gar nichts Lust haben und im Bett liegen bleiben. Das sind circa 20 Prozent der Flüchtlinge. Sie putzen nicht, haben kein Interesse daran, sich zu integrieren. "Ich kriege doch sowieso alles", sagen sie dann. Warum sie so handeln, weiß ich nicht. Ich finde diese Haltung sehr schade, kann daran aber nicht viel ändern.

Wie oft musst du bei Streitereien eingreifen?
Streitereien gibt es fünf, sechs Mal im Monat. Bei 100 Flüchtlingen aus verschiedenen Nationen auf engem Raum kommt es natürlich zu Reibereien. Dabei handelt es sich aber eher um Kleinigkeiten. Einmal beschimpften sich Araber und Eritreer, weil eine Gruppe angeblich vergessen hatte zu putzen. Ich habe mir dann beide Seiten angehört, am Ende haben wir einfach alle gemeinsam aufgeräumt. Sie sagen dann: "Gut, wir machen keinen Streit mehr." Eine wirkliche Schlägerei habe ich aber zum Glück noch nicht miterlebt.

Zwischen welchen Nationen gibt es am meisten Streit?
Ich kann nur sagen, dass die Eritreer sich sehr zurückziehen: sie gegen die anderen. Sie sind extrem misstrauisch. Einmal setzte sich ein Syrer zu ihnen, da wurden sie plötzlich extrem ruhig. Als er weg war, haben sie wieder normal gesprochen.

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Gerätst du zwischen die Fronten?
Nein, eigentlich nicht. Es kommt schon vor, dass mir eine Gruppe vorwirft, ich würde Partei ergreifen. Aber ich erkläre dann, wieso ich wie entscheide. Das verstehen sie dann eigentlich auch.

War schon einmal ein radikaler Islamist unter den Flüchtlingen?
Es gab einen Zwischenfall, bei dem ich skeptisch wurde. Der Flüchtling begann plötzlich, sich einen Bart wachsen zu lassen, ging in die Moschee, las den Koran und zog sich von den anderen zurück. Das war untypisch für ihn. Ich habe ihn darauf angesprochen, da sagte er: "Ich will zurück nach Syrien, da war alles besser." Wir haben ihn dann beobachtet, es ist aber nichts passiert. Heute lebt er in einer Wohnung, macht viel Sport und geht weiter in die Schule. Es war wohl falscher Alarm.

Wurde das Flüchtlingsheim schon einmal angegriffen?
Leider ja. 2015 wurde das Flüchtlingsheim gerade aufgezogen, da stand immer wieder eine Gruppe Deutscher mit Autos und Motorrädern vor der Unterkunft. Sie haben ihre Motoren aufheulen lassen, die Lichthupen betätigt und geschrien: "Geht zurück in euer Land!" Da dachte ich schon, hoffentlich passiert jetzt nichts. Wir haben dann die Polizei gerufen. Als die eintraf, waren diese Leute aber schon wieder weg. Die Polizei ist dann in den folgenden Wochen regelmäßig Streife bei uns gefahren, um nach dem Rechten zu sehen.

Hast du Angst?
Nein. Ich habe Krieg miterlebt. Schlimmer geht es nicht. Mich kann nicht mehr viel schocken.

Wirst du heute noch angefeindet?
Ich werde manchmal selbst noch für einen Flüchtling gehalten, gerade dann, wenn ich Arabisch spreche. Mittlerweile nehme ich das nicht mehr persönlich. Ich finde es fast amüsant, wie irritiert die Menschen dann reagieren, wenn ich mich auf Deutsch mit ihnen unterhalte. Sie sagen dann: "Oh, Sie sprechen aber gut Deutsch." Darauf antworte ich: "Klar, ich bin auch hier groß geworden."

Was könnte in der Flüchtlingspolitik verbessert werden?
Was in der Politik verbessert werden könnte, weiß ich nicht. Was aber jeder verbessern kann, ist die eigene Einstellung. Ich merke das vor allem in Augsburg auf dem Land. Die Menschen sind skeptisch. Sie hören: "Die Flüchtlinge machen Krawall." Also wollen sie kein Flüchtlingsheim vor der Haustür. Mir wäre es aber wichtig, dass jeder sich erst einmal selbst ein Bild von den Flüchtlingen macht. Dann würden sie sehen: Die sind genauso wie wir auch.

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