Wände aus Musik

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Die Technologieausgabe

Wände aus Musik

In einem Hinterhof des Zürcher Wohnquartiers Wiedikon arbeitet ein Architekt an einer futuristisch anmutenden Vision: Er will Häuser aus Musik bauen.

Foto: Der Plan eines vertikalen Parks zum Flanieren durch die US-Hymne.

Aus der Technologieausgabe.

Jan Henrik Hansen ist ein Beau. Mit seiner sportlichen Statur und seinem kantigen, aber freundlichen Gesicht könnte er als Model eines internationalen Labels für Männerbekleidung durchgehen. Aber das wäre ihm wohl einerseits viel zu oberflächlich und andererseits viel zu wenig herausfordernd. Ein Mann, der sich vorgenommen hat, aus Musik Häuser zu bauen, hat keine Zeit für sowas.

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Er ist viel mehr getrieben vom Wunsch, sich mit der Welt und dem Universum auseinanderzusetzen, beides zu verstehen und fühlbar zu machen. In seinem Kreativlabor in Zürich arbeitet er seit 2001 daran, seine zwei grossen Leidenschaften Musik und Architektur miteinander zu vereinen. Er will nicht nur der Musik wahrnehmbare dreidimensionale Formen geben, sondern sie in Zukunft begeh- und bewohnbar machen. Die Architektur hingegen will er von sturen und rein funktionalen Formen befreien und sie durch ein kreatives Element, wie eben Musik, vermenschlichen.

Foto: Armin Seltz

Zu seiner Faszination hat Hansen bereits als Kind gefunden: Er wird früh musisch und künstlerisch gefördert. Das anfängliche Interesse wandelt sich zu einer grossen Liebe für verschiedene Musikstile von Funk über Jazz bis zu Hip-Hop, die sich seitdem durch sein Leben zieht. Während seines Architekturstudiums absolviert er ab 1997 ein Praktikum in New York.

Dort ergattert er sich ein Stage beim renommierten Architekten Peter Eisenman. Eisenman gilt als einer der bedeutendsten Architekten der Gegenwart. In der Szene eilt ihm der Ruf als unkonventionelles Enfant Terrible voraus, weil er sich dagegen sträubt, Architektur als eine in sich geschlossene Disziplin zu verstehen. Eisenman wird Hansens Mentor und flösst ihm ein, Architektur könne nur dann innovativ und zeitgemäss sein, wenn sie sich von äusseren Einflüssen inspirieren liesse. Ein Credo, das Hansen verinnerlicht.

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Im kreativen Schmelztiegel New York lernt Hansen Musik kennen, die seinen musikalischen und künstlerischen Horizont erweitert, beschäftigt sich mit für ihn neuen Kunstformen und wissenschaftliche Disziplinen. Er interessiert sich für Kunst und Design, aber auch für Mathematik und Philosophie. Er gelangt zu einer Erkenntnis, die für sein Leben ausschlaggebend sein wird: Die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und künstlerischen Formen existieren nicht jede für sich, sondern sind Teil eines grossen Ganzen.

Das bekannte Goethe-Zitat "Architektur ist gefrorene Musik" löst in ihm ein Verlangen aus, nach dem er die folgenden Jahre streben sollte. Er will die Architektur wieder auftauen lassen und macht es sich zu seiner beruflichen und künstlerischen Lebensaufgabe, Musik als Materie fassbar zu machen. Hansen beginnt, sich mit Harmonik zu beschäftigen – der Vorstellung, dass das gesamte Universum nach ästhetisch-harmonischen Prinzipien gestaltet und alles in seinem Kern auf Basis derselben Information konstruiert ist.

Was in der Musik die Notation ist, ist in der Architektur der Bauplan. Die Musik braucht Takt und Quantisierung, die Architektur den Massstab und das Grössenverhältnis. In dieser Wechselbeziehung zwischen Musik und Architektur, auf die sich Hansen spezialisiert hat, sucht er nicht nur nach seiner persönlichen und beruflichen Erfüllung, sondern nach dem Grundbaustein des Universums.

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2001 beginnt Hansen ganz konkret an einer Software zu arbeiten, die Musik und Architektur verschmelzen lässt. Anfangs ist es ein rudimentäres Programm, das – ähnlich wie bei alten Musikplayern – auf Musik reagiert und Töne und Akkorde automatisch auf einem Bildschirm abbildet. Hansen, damals noch Leiter seines eigenen Architekturbüros, kann aber nicht die gewünschte Zeit in seine Herzensangelegenheit investieren. Er muss die Software nebenher weiterentwickeln.

"Das bekannte Goethe-Zitat 'Architektur ist gefrorene Musik' löst in ihm ein Verlangen aus, nach dem er die folgenden Jahre streben sollte."

Als Heureka-Moment bezeichnet Hansen die Koppelung einer Musiksoftware mit einem CAAD-Programm. CAAD steht für Computer-Aided Architectural Design und beschreibt eine Software, die das Erstellen von Architekturplänen mittels Computer unterstützt. Diese Verbindung – im Grunde ein Plug-in – ermöglicht, dass zwei Computerprogramme, die jeweils eine andere Sprache sprechen, vollends miteinander interagieren können. Dadurch kann die Software in Echtzeit auf live eingespielte Musik reagieren und diese nach beliebigen voreinstellbaren Parametern darstellen.

In nächtelangen Jam-Sessions betrachtet Hansen die von ihm eingespielte Musik. Die Weiterentwicklung der Software ermöglicht es, die eingespielte Musik abzuspeichern und die Parameter der Darstellung im Nachhinein zu ändern. Das eingespielte Stück kann dadurch in beliebigen Formen und Farben, Ästhetiken und Gewändern sichtbar gemacht werden. In einem nächsten Entwicklungsschritt macht Hansen sich daran, Musik in einem dreidimensionalen digitalen Raum sichtbar zu machen. So wird es möglich, Musik zu drehen und zu wenden, auf den Kopf zu stellen und sie wortwörtlich aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.

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Bald darauf entstehen die ersten fassbaren Kunstwerke, die Hansen über das Programm und einen 3D-Drucker herstellt. Inzwischen arbeitet er nicht mehr nur nebenher an seinem Projekt, sondern konzentriert sich vollends darauf. Er hat sich dafür eine zweijährige Pause als Architekt gegönnt und sich ein Labor eingerichtet, in dem seine Vision einen Schritt auf die Realität zu machen soll.

Das Labor ist ein zirka 30 Quadratmeter grosser Raum, eine Mischung aus Musikstudio, Architektur- und Informatikbüro sowie Künstleratelier. In einer Ecke des Raumes stehen verschiedene Musikinstrumente. Das elektronische Schlagzeug beansprucht am meisten Platz; daneben sind Gitarren, Keyboards und Synthesizer.

Ein Bürotisch, auf dem ein Computer mit überdimensionalem Bildschirm platziert ist, ist Hansens Hauptarbeitsplatz. Der Computer ist über Kabel mit den Instrumenten in der Musikecke verbunden. Die eingespielte Musik wird an dieser Arbeitsstation bearbeitet, editiert und fertiggestellt. Über dem Arbeitsplatz hängt ein LED-Fernseher, an dem eine Virtual-Reality-Brille angeschlossen ist. Das nächste Ziel von Hansen ist, virtuelle Räume zu bauen, die für den Hörer begehbar sind. Eine Kopplung der Virtual-Reality-Brille und der bestehenden Software soll das möglich machen.

Eine Visualisierung, wie Musik zu Raum wird.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes sitzt Armin Seltz. Seine Arbeitsstation ist der Teil des Labors, in dem programmiert und designt wird. Aber auch hier ist ein Midi-Keyboard an den Computer angeschlossen, das es möglich macht, alle Neuerungen gleich auszuprobieren. Seltz hat sich während seiner Karriere als Grafiker auf 3D-Animationen und danach auf Parametric Design spezialisiert. Parametric Design ist ein Verfahren, das auf algorithmischem Denken beruht und es ermöglicht, durch die Verschiebung einzelner Parameter oder Regeln ein Darstellungssystem automatisiert verändern zu lassen.

Zusammen mit Hansen hat er in den letzten zehn Jahren die Software so weiterentwickelt, dass sie für unerfahrene Benutzer einfach zu bedienen ist. An verschiedenen Ausstellungen, Messen und Konferenzen haben sie ihr Space Piano Laien vorgestellt. Das Space Piano ist eine benutzerfreundliche Oberfläche der entwickelten Software. Mit diesem können sich alle ein Bild der Software machen, indem sie Töne und Akkorde auf einem Piano einspielen, die in Echtzeit auf einem Bildschirm veranschaulicht werden.

15 Jahre nach der ersten Idee ist die Software heute so funktionsfähig, dass sie Fassaden und Oberflächen von Häusern, oder aber auch Inneneinrichtungen und Wände gestaltet hat. In einer Bar an der Zürcher Langstrasse hat Hansen seine Software die einzelnen Stücke einer Wand aus Nussholz durch Parameter aus drei verschiedenen Musikstücken gestalten lassen. Für ein Unesco-Gebäude in Bahrain entwarf er die Fassade des Gebäudes ebenfalls durch Musik.

Im Moment arbeiten Hansen und sein Mitarbeiter Seltz daran, grössere Bauprojekte umzusetzen. Eines der vielen Projekte, dessen Umsetzung auch davon abhängt, ob Auftraggeber gewillt sind, sich auf Experimente einzulassen, beweist Hansens futuristische Herangehensweise: Er will einen Park in Manhattan so gestalten, dass dessen Grünflächen und Spazierwege an Parametern aus der amerikanischen Nationalhymne geknüpft sind. Ob das Projekt je umgesetzt wird, steht in den Sternen. Die Werkzeuge, um es zu realisieren, existieren bereits – und bieten die Möglichkeit, dass wir bald in Wohnungen leben und uns in Räumen bewegen können, die in ihrer Form durch unsere Lieblingsmusik gestaltet wurde.

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