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Interviews

Die Köpfe hinter dem 'Tagesanzeiger'-Hack im Interview

"Sollten wir zu den Journalisten gehen und bei ihnen betteln, dass sie über wichtige Themen wie die sexualisierte Gewalt an Frauen schreiben?"
Ein Screenshot des Fake-'Tagesanzeiger'-Artikels

Die Genderforscherin Franziska Schutzbach und der 19-jährige SP-Politiker Dimitri Rougy machten diese Woche mit einer ungewöhnlichen Aktion auf ihr Anliegen aufmerksam, dass die alltägliche Gewalt gegen Frauen in Mainstream-Medien kaum behandelt werde. Die Aktivisten imitierten den Online-Auftritt des Tagesanzeigers und publizierten unter dem Namen des renommierten Journalisten Constantin Seibt einen eigenen Artikel.

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Die Aktion wurde nach ihrer Auflösung auf Facebook und Twitter kontrovers diskutiert. Kann ein Identitätsklau jemals gerechtfertigt sein? Fehlt es den Schweizer Medien an nicht-männlichen Stimmen?

VICE hat mit Dimitri Rougy und Franziska Schutzbach über ihre Sicht der Dinge gesprochen.

VICE: Wie erfolgreich war der Tagesanzeiger-Hack in euren Augen?
Franziska: Erfolg oder Misserfolg sind nicht so meine Kategorien, es gibt halt immer wieder Lichtblicke, Sprünge nach vorn. Und dann gibt es aber auch wieder Rückschritte. Für mich hängt die Frage des Erfolges nicht von einer einzelnen Kampagne ab, sondern davon, ob wir langfristig diese Themen mehr in die Öffentlichkeit bringen, wieder mehr Unrechtsbewusstsein herstellen können. Für mich steht die Aktion im Kontext jahrzehntelanger Arbeit von vielen, und von meiner eigenen. Ich bin kontinuierlich an diesen Themen dran. Ich versuche verschiedene Formen, mal tiefgründig, mal humoristisch.

Du hast auf Facebook geschrieben, dass du findest, dass der Tagesanzeiger euren Artikel noch in echt veröffentlichen sollte. Wie stellst du dir das vor?
Franziska: Seibt könnte sich dafür einsetzen, oder andere. Mir wäre aber wichtiger, Interviews zum Thema sexualisierte Gewalt zu geben, als zur Aktion. Ich hätte deshalb auch fast abgesagt, mit dem Argument: Ich habe die Aktion nicht gemacht, um über die Aktion zu sprechen, sondern um über Gewalt an Frauen zu sprechen. Ich werde deshalb, ausser hier jetzt in diesem Gespräch, nicht mehr weiter darauf eingehen. Nochmal mein Aufruf: "16 Tage gegen Gewalt an Frauen" ist eine wichtige Kampagne, und es gibt im deutschsprachigen Raum unzählige interessante Expertinnen und Aktivistinnen. Macht Interviews mit denen, lasst sie Texte schreiben, sie haben viel zu sagen.

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Was sind die Gründe, dass ihr für eure Aktion den Tagesanzeiger ausgewählt habt?
Franziska: Wir wollten, dass es möglichst realistisch wirkt. Darum haben wir eine Zeitung ausgewählt, der es grundsätzlich zuzutrauen ist, so etwas abzudrucken, auch wenn es natürlich überrascht. Das Gleiche bei Constantin Seibt: Im Gegensatz zu anderen bekannten Journalisten wäre es doch irgendwie möglich, dass er plötzlich mal auf die Idee kommt, sich für so etwas starkzumachen. Andererseits ging es aber genau darum, zu zeigen, dass ein solcher Kommentar von Seibt unrealistisch ist. Wir wollten gerade zeigen, dass von männlichen Meinungsmachern diese Themen eben nicht verhandelt werden. Die Performance hat mit dieser Lücke gespielt. In diesem Sinne ging es weder um Herrn Seibt noch um uns als Personen, sondern um die Subversion von einem System.

Hast du ein Beispiel dafür, wie du die Mängel im System erlebst?
Franziska: Ich spiele immer wieder mit männlichen Masken: auf Facebook habe ich eine Zeit lang eigene Zitate gepostet und sie mit bekannten männlichen Namen unterschrieben. Und tatsächlich, sie erhielten viel mehr Aufmerksamkeit, als wenn ich sie unter meinem eigenen Namen postete. Siri Hustvedt beschreibt in ihrem Roman Die gleissende Welt eine Künstlerin, die ihre Kunst unter männlichen Pseudonymen publiziert und erst dann erfolgreich wird. Hustvedt schreibt: "Die Leute hören erst zu, wenn sie einen Schwanz dahinter vermuten."

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Aktivistin und Genderforscherin Franziska Schutzbach

Wie ist es euch gelungen, Constantin Seibts Stil so glaubhaft zu imitieren? Habt ihr sein Buch Deadline zur Hilfe genommen?

Franziska: Nein, das war spontan. Ich weiss, dass er oft mit einem Zitat anfängt. Und auch immer wieder sonst ganz gern in die grosse Kiste greift. Liberalismus, Hegel und so weiter. Irgend so was musste da eben stehen. Herr Seibt macht auch gerne "Wie-Vergleiche", also zum Beispiel: "Mit dem Vergewaltiger ist es wie mit dem Faschisten … " Es musste also unbedingt ein "Wie-Vergleich" drinnen sein. Aber ich weiss gar nicht, ob wir ihn wirklich so gut getroffen haben. Ich denke, dass die gefakte Tagi-Seite viel dazu beigetragen hat, dass der Text glaubwürdig wirkte. Und einige waren durchaus skeptisch und dachten: Kann das wirklich sein? Eine Freundin schrieb mir, ihr sei sofort klar gewesen, dass der Text von mir sei und nicht von Seibt sein könne. Da musste ich sehr lachen.

Habt ihr ohne technische Hilfe von anderen die Fake-Tagi-Seite aufgesetzt?
Dimitri: Wir haben dazu keine Hilfe benötigt. Bei einer Website sind alle wichtigen Dateien öffentlich zugänglich und problemlos herunterzuladen. Das haben wir gemacht. Mit ein wenig Learning by Doing haben wir unsere Inhalte ins Layout eingefügt und dann hochgeladen. Es ist etwas beängstigend, wie einfach es ist, eine solche Seite zu kopieren.

Der vermeintliche Autor eures Artikels hat euch öffentlich auf Twitter gratuliert. Wart ihr überrascht, dass er so positiv reagiert hat?
Franziska: Ich hätte es sehr komisch gefunden, wenn er beleidigt reagiert hätte. Er hat das einzig Richtige gemacht. Aber eine Unsicherheit blieb bis zum Schluss. Die Sache wäre anders verlaufen, wenn er negativ reagiert hätte. Manche Leute funktionieren etwas herdenmässig. Wenn sie sehen, dass etwas erfolgreich ist und dass sich auch noch der berühmte Journalist hinter die Aktion stellt, dann finden sie es gut. Hätte Constantin Seibt gesagt, dass er es unmöglich findet, wäre es gut möglich gewesen, dass man über uns herfällt. Vielleicht wäre aber auch daraus wieder etwas Gutes entstanden. Meine Absicht ist nicht, mainstreamtauglich zu sein und von allen geliebt zu werden. Viel wichtiger ist es, die progressiven Kräfte wie feministische Akteurinnen zu vernetzen und zu stärken.

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Habt ihr vor der Aktion versucht, Constantin Seibt von eurem Anliegen zu überzeugen und ihn dazu zu bringen, einen Artikel zu schreiben?
Dimitri: Ist das so, wie Journalisten arbeiten sollten? Sollten wir zu ihnen gehen und bei ihnen betteln, dass sie über wichtige Themen wie die sexualisierte Gewalt an Frauen schreiben? Natürlich nicht. Wir haben beide bereits verschiedenste Journalisten und auch Constantin Seibt in den sozialen Medien kritisiert. Die Performance war auch eine Medienkritik. Sie spricht also eine wichtige Frage an. Themen wie Gleichstellung sind untervertreten in den Medien. Genau wie Journalistinnen auch. Wenn es beispielsweise mehr Frauen in den Redaktionen gäbe, so würden auch mehr solche und ähnliche Dinge thematisiert. Eine solch massive Unterrepräsentation schränkt die Deliberation in einer Demokratie so stark ein, dass wir uns grosse Sorgen um unser System machen müssen.

Aktivist und SP-Politiker Dimitri Rougy

Ich habe in einem Meinungsartikel zur Aktion kritisiert, dass ihr die Öffentlichkeit mit Falschinformationen getäuscht habt und dass die Aktion sich mit euren Rollen als Wissenschaftlerin und SP-Politiker beisst. Wie geht ihr mit diesem Vorwurf um?
Dimitri: In Bezug auf die Falschinformationen würde ich den Vorwurf zurückweisen. Wir haben niemanden mit Falschinformationen zu täuschen versucht. Wir haben echte und wichtige Informationen unter dem Namen und im Layout der Website geteilt, die diesen Beitrag hätten publizieren sollen. Die Inhalte waren echt, der Absender war vorgetäuscht.

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Franziska: Es ist oft eine Abwehrstrategie, wenn Leute sich ewig über richtige oder falsche Formen des Aktivismus aufregen. Anstatt sich auf das Thema einzulassen, kann man dann schön distanziert darüber fachsimpeln, ob das eine gute oder eine schlechte Aktion war. Davon lasse ich mich nicht mehr gross einschüchtern. Ich nehme Kritik ernst, aber es kommt darauf an, von wem. Von Leuten, die sich nie für das Thema eingesetzt haben, aber dann eine grosse Klappe haben, lasse ich mir nichts sagen. Zudem: Das war eine Performance, keine Irreführung. Es war klar, dass die Aktion darauf ausgerichtet war, aufzufliegen.

Hat die SP irgendwie reagiert?
Dimitri: Nein, bis jetzt nicht.

In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es nur wenige Männer, die sich für Gleichberechtigung einsetzen. Wieso setzt du dich dafür ein?
Dimitri: Genau deswegen. Männer halten sich häufig aus der Diskussion rund um sexualisierte Gewalt raus oder versuchen sich mit Sätzen wie "Ich habe ja niemanden vergewaltigt! Ich gehör nicht zu diesen." aus der Diskussion zu ziehen. Wichtig ist, dass wir jetzt hinstehen und sexualisierte Gewalt an Frauen thematisieren. Die meisten haben sich schon in Situationen wiedergefunden, in denen übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen ausgeübt wurde. Wichtig ist, in solchen Situationen zu zeigen, dass Sexismus und sexualisierte Gewalt nicht tolerierbar sind.

Musst du dich für dein Engagement rechtfertigen?
Dimitri: Ich will mich nicht rechtfertigen. Ich denke, dies ist der entscheidende Punkt. Es sollte normal sein, sich für Gleichberechtigung einzusetzen und auch dafür zu kämpfen. Sobald ich mich rechtfertige, vermittle ich, dass das, was ich tue, irgendwie falsch sein könnte, doch das ist es nicht.

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